Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Zweites Kapitel

Lange Zeit ging Thomas in heimlicher Bedrückung, die nicht bemerkt ward, weil er ja immer ein wenig bedrückt erschien und sein stilles Wesen nun einmal zu ihm gehörte, so wie das laute zu seiner Schwester Ursula. Immer und immer wieder kamen ihm die Worte seines Onkels in den Sinn. – Ursula hatte sich gefreut, daß das Haus verbrannt werden solle. – Sein Vater klagte oft über die großen Kosten, die seine Erhaltung forderte, schalt auf seine Baufälligkeit und auf die unpraktische und weitläufige Verteilung der Zimmer, und auch seine Mutter hing nicht an ihm. Das fühlte Thomas deutlich. – In Wahrheit liebte sie es nicht. Die weiten und sehr hohen Räume erschienen ihr kalt und unwohnlich, und die verfallene alte Pracht, zu der wieder die Möbel, die Bilder, sowie das ganze übrige Hauswesen nicht im Einklang standen, hatte für ihr Gefühl nur etwas Peinliches. Um die Kosten der Erhaltung etwas zu mindern, wurden einzelne Teile des letzten Flügels an kleine Leute vermietet. Zwar war jene Wand des Flügels, die nach dem Garten hinsah, fast ohne Fenster, und die wenigen vorhandenen hatte man versperrt, und auch sonst hielten sich diese Mitbewohner in strengster Abgeschlossenheit, aber trotzdem empfand es Frau Elisabeth als würdelos, daß sie mit Menschen niederen Standes und gemeineren Gefühls gleichsam unter einem Dache leben mußte. – Wie tief im Innern fremd ihr aber alles war, das empfand Thomas erst ganz, als sie einmal ihren Gatten bat, wenn sie in diesem Hause wohnen blieben, so möge er ihr wenigstens einen kleineren behaglichen Raum schaffen; und sie schlug vor, eines der großen vorderen Zimmer durch eine Mauer in zwei zu zerlegen. Thomas' ganzes Gefühl widersetzte sich diesem Gedanken, der ein Verbrechen an der Heiligkeit des Hauses war. Er begriff es überhaupt nicht, wie jemand ihn nur fassen, wie man auf ihn geraten konnte. Und sein Glaube an die Unantastbarkeit des Hauses war so groß, daß er vermeinte, selbst wenn alles so geändert würde, wie seine Mutter wollte, stände es am nächsten Morgen doch genau so da, wie es zuvor gewesen war. – Er wußte, daß das Haus nicht von allem Anfang so war, wie er es kannte, daß nur die großen Grundmauern in grauen Zeiten wurzelten, daß die hinteren Flügel später angebaut wurden, und daß es erst vor zwei Jahrhunderten seine letzte, endgültige Gestalt bekam. Aber das alles war durch die Vergangenheit geheiligt, und die Mauern, die einst neu waren, waren alt geworden, so alt wie alles andere.

Jener Vorschlag des Onkels Matthäus ward nie wieder erwähnt, von dem Verkauf des Hauses ward nicht mehr gesprochen.

Niemand kannte das Haus wie Thomas. Dinge, auf die sonst keiner achtete, die man anblickt, ohne sie zu sehen, waren ihm stille und vertraute Freunde. – Schräg gegenüber der dunklen Stube, wo er am Fenster sitzend seine Hausarbeiten für die Schulstunden bei seiner Mutter schrieb, lag ein sonderbarer Vorbau. An dieses Fenster setzte er sich, wenn es regnete. Da blickte er dann zur Dachrinne auf und sah die Regenfäden grau und verdrossen niederziehen, und über dem schmutzigroten Dache mit der grauen Luke lag der tote graue Himmel, und eintöniges leises Klopfen füllte das Schweigen. Es war dann, als würde die Weit nie wieder schön, als müsse man ewig zu dem trüben, scheinhaften Dach aufsehen. Da oben gab es ein Regenrohr, dem Thomas stillschweigend befreundet war. Man wußte nicht, wo es begann. Es verlief mit einer plötzlichen Wendung unter einem kurzen Schornstein. Bald schien es froh, bald mißgestimmt. Thomas konnte nie entscheiden, ob es eigentlich gerne Wasser spie, oder ob es das nur aus Not und Zwang tat. Es begann ein jedes Mal mit leichtem Tropfen, als gehe es im Grunde nur widerwillig und zögernd an die Arbeit. Darauf wurden die Tropfen in schnellerer Bewegung zum kleinen Rinnsal und endlich zu leichten Wasserfällen. Regnete es dann in Strömen, so schoß es das Wasser in breitem Strudel vor, und dann hatte Thomas das deutliche Gefühl, als sei ihm das zuviel, als möchte es sich dagegen wehren, ohne es zu können, und als sei ihm schließlich jammervoll zumute. Wurden endlich die Wassermassen wieder kleiner, bis nur noch Tropfen niederfielen, so schien es im Zustand gänzlicher Erschöpfung. Und hörte auch der letzte Wassertropfen auf, so starrte seine runde schwärzliche Öffnung beinahe dumm, – was Thomas mehr fühlte als wirklich dachte. Neben ihm schien es der Schornstein gut zu haben. Es regnete in ihn hinein, ohne daß er etwas davon zu merken schien, ja mitunter stiegen plötzlich im allerärgsten Prasseln Rauchwolken aus ihm empor, unbekümmert um den Regen und dem Rohre beinah wie zum Hohn. Deshalb liebte Thomas ihn auch nicht. – Jedes Zimmer hatte seinen besonderen Klang, seine besonderen Eigenheiten des Fußbodens, jede Türklinke ihr eigenes Wesen, ihr eigenes Ansehen, ihren eigenen Ton. Und er kannte das alles so gut, daß er sich nur vorzustellen brauchte, er wäre in diesem oder jenem Raum, um wirklich darin zu sein. Die Klinke, die vom Vorplatz zum Eßzimmer führte, war mürrisch und liederlich; nicht mehr ganz fest in ihrem Gefüge, gab sie verdrossene Töne von sich. Sie wurde viel benutzt, war blank und abgegriffen und schaute stumpfsinnig Gott weiß wohin. Eine andere hatte einen frechen Ausdruck, und er mußte an eine Fliege denken, wenn er sie ansah. Sie war aus poliertem Eisen, schnappte hart nach oben und brachte jedesmal die ganze Tür ins Zittern. Böse packte er sie zuweilen und warf sie ins Schloß, wobei er nicht bedachte, daß das rundliche, freundliche Geschöpf auf der anderen Seite mitleiden mußte. An der hohen Flügeltüre aber, die vom Wohnzimmer zum Saale leitete, befand sich ein ernster, dunkler Drücker, der nie auch nur den leisesten Ton von sich gab. Vor ihm hatte Thomas Ehrfurcht. Auch unter den Öfen hatte er seine Freunde und seine Feinde. Einen aber gab es, vor dem hatte er ein Grauen. Der befand sich in einem der riesigen leeren Zimmer, die ihr düsteres Licht nur durch verhängte hohe Glastüren empfingen. Es war auch eigentlich kein Ofen, sondern eine Ausgeburt der Wand, des Hauses selbst: Sein finsteres Loch führte ins schwarze Leere, und hoch über ihm war etwas aus Stein, wie zwei lauschend gespitzte Ohren, die niemandem gehörten. –

So war ihm ein jedes Ding, ob feindlich, ob freundlich, vertraut im Hause. Immer aber, wenn er an alles zusammen dachte, verschwand jedes einzelne für sich: Er sah die Zimmer ohne Möbel, ohne Bilder, ja selbst die Türen waren dann nicht mehr da, und nur die Wände ragten hoch und still, und darüber lag die Decke wie ein gemauerter flacher Himmel.

Wenn er dort oben über sich dumpfe Schritte hörte, was nicht oft geschah, ward ihm mitunter schwindelig zumute, und ihm war für einen Augenblick fast, als stände er auf dem Kopfe. Und geheimnisvoll verklangen die Schritte, und er malte sich aus, wie der da droben nun weiterging und immer weiter, über allen Räumen des ganzen Hauses, ohne daß ihn jemand sah. Manchmal, wenn er selber in den Räumen umherging, vermeinte er, es müsse ihm ein unerklärlich herrliches Wesen entgegenschreiten, und wenn die Hausglocke läutete, lief er zuweilen schnell zur Tür, in plötzlicher Gewißheit, da draußen stände etwas Märchenhaftes, das zu ihm herein wolle.

Seine Mutter suchte seine träumerischen Neigungen nach Kräften abzuleiten. Die kindlichen Spiele, die sie früher mit ihm spielte, wurden durch ernsthaftere ersetzt, wie er nun ein wenig älter ward. Thomas gab sich nicht viel Mühe und freute sich neidlos, wenn sie ihn besiegte. Ja, dieses Besiegtwerden war ihm viel angenehmer als das Siegen; langsam, einer nach dem anderen, wurden ihm alle Steine weggenommen; er brauchte nur zuzusehen und hatte nichts dabei zu tun. Es war wie eine Art Zubettegehen. Die Steine waren die Kleidungsstücke, und mit dem allerletzten, das ihm fortgenommen ward, wurde das Licht ausgeblasen, und keiner konnte ihm mehr etwas anhaben. Frau Elisabeth rüttelte ihn zuweilen aus seiner Trägheit und munterte ihn auf, nachzudenken und nicht blind einen Zug zu tun, da nun einmal einer getan werden müsse. Er wurde dann für einen Augenblick lebhafter, sah auch manchmal eine unmittelbare Gefahr, überschaute aber nie das Ganze und fiel alsbald in seine stumm zuschauende Ruhe zurück. Wenn aber sein Vater dazukam, war es nichts mehr mit dem gemächlichen Ausziehen und Zubettegehen, sondern dann wurden ihm Stück für Stück die Kleider vom Leibe gerissen, und endlich stand er nackt und frierend in einer Öde. Und der Justizrat verlängerte gar noch die Qual, indem er ihm diesen und jenen Ausweg zeigte, den er aber sogleich verbaute, nachdem sich Thomas ihn in blinder Angst geschaffen. Dann erklärte er sich für besiegt, noch ehe er es wirklich war; sein Vater aber schalt, regte ihn zu neuem Denken an und trieb ihn vorwärts auf der Bahn, die er doch niemals bis zum Ende gehen konnte. – »Nur so kann der Junge etwas lernen! Wenn er aber von selbst sofort auf jeden Gewinn verzichtet und alles dem anderen zuschiebt, wie soll er da im späteren Leben vorwärtskommen?!« –

Ursula war im Spiel das Gegenteil von Thomas. Ihre Augen, die sonst halb lustig, halb pfiffig blickten, zeigten einen angestrengten, ernsten Ausdruck, der durch zwei Falten inmitten ihrer niedrigen, breiten Stirn noch erhöht ward, und die Flügel ihrer untersetzten, kurzen Nase einen harten Willen; nur ihr Mund blieb in ewiger Beweglichkeit. – Dieser Mund war beinah formlos; die Natur hatte ihn nicht mit Liebe gebildet und ihn, nach mehrfachen Versuchen, unvollendet gelassen, da er von vornherein falsch angelegt war. Thomas betrachtete ihn zuweilen versunken, wenn jemand zu ihr sprach, und wunderte sich, wenn die schmalen Lippen, anfangs geschlossen, plötzlich Leben gewannen, leise zu schwellen schienen, breiter wurden und sich mit einem Male trennten mit fast sichtbarem Geräusch. Und häßlich fand er es, wenn ihre Oberlippe sich in Verlegenheit seitwärts hinaufschob, als wolle sie davonkriechen wie eine Schnecke.

Mit Ursula zu spielen machte dem Justizrat Freude, und ihr letztes Mittel, die Niederlage von sich abzuwenden, erheiterte ihn jedesmal: Sie fuhr mit beiden Händen auf das Schlachtfeld, verwirrte es bis zur Unkenntlichkeit, behauptete, das Spiel gelte nicht, und schlug ein neues vor. – Ausdauer hatte sie nicht viel, das Ziel sollte sogleich erreicht sein. Schuhbänder zerriß sie, wenn sie sich nicht sofort lösen wollten, und den Samen, den sie in ihrem kleinen Gärtchen säte, grub sie gleich am zweiten Tage wieder aus, um nachzusehen, ob er noch nicht keime; nach ein paar weiteren Tagen säte sie frische Körner über ihn, die dann auch nicht gleich in die Höhe schießen wollten; darauf vergaß sie das Ganze und war sehr erstaunt, wenn sie eines Tages alles wild durcheinandersprießen sah. Das nahm sie dann wieder übel und stampfte das Ganze mit den Füßen ein. –

Dieses Gärtchen lag an der hintersten Mauer mit den eisernen Ringen und war in seinem Grundgedanken eine Schöpfung Frau Elisabeths, die sich bemühte, für Thomas schöne und dauernde Beschäftigung zu finden. Und sie war froh, daß er sich ihm wirklich mit Fleiß und Ausdauer widmete. Sie erzählte, sie habe einst als Kind zu Haus ein ähnliches gehabt, und sagte, dieses solle nun wieder so werden wie ihres damals. Thomas fand das selbstverständlich, Ursula aber fragte: »Warum willst du denn alles wieder genau so haben wie früher? Ist dir das nicht langweilig?« Ihr selbst war dieser ganze Gartenbau übrigens unter allen Umständen langweilig, sie überließ die Sorge alsbald gänzlich ihrem Bruder, den sie sehr lobte, wenn sie alles in Ordnung fand. –


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