Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Neuntes Kapitel

Thomas sah ein wenig verächtlich auf die Kameraden, die in der Volksschule zurückblieben, die letzten Klassen durchmachten, dann konfirmiert wurden und in irgendein Handwerk eintraten; das war ihr Los, und er nahm sich vor, im späteren Leben keinen einzigen von ihnen mehr zu grüßen. Auch von seinen Lehrern, ja selbst von dem alten Schulgebäude trennte er sich ohne Schmerz. – Das Gymnasium war ein neuer, roter Backsteinbau, unten in der Halle hing ein großer Kronleuchter, und in den Klassen war mehr Licht und Bequemlichkeit als in den dumpfen, niedrigen Räumen der Volksschule. Die Lehrer trugen eine bessere Kleidung und blickten in den Pausen nicht mit Aufmerksamkeit auf die guten Dinge, die er seiner Frühstücksdose entnahm, sondern verzehrten selbst ihr Wurst- und Schinkenbrötchen. In der Prüfung hatte er seine Sinne gut beisammen und machte dem jungen Lehrer, der ihn zu Hause ausgebildet, alle Ehre. Sein Wissen gab ihm Sicherheit, und er wunderte sich über die ängstlichen Gesichter der anderen, die angestrengt die Brauen hochzogen im fortwährenden Zustand der Verteidigung. Man hielt ihn für einen außerordentlich begabten Schüler, und oft ward er seinen neuen Kameraden als Muster vorgehalten. – »Wer hätte das gedacht!« sagte der Justizrat und schickte Thomas' früherem Hauslehrer einen Korb mit gutem Wein aus seinem Keller. Diese Nachhilfestunden hörten nun auf, und Thomas hatte viel zu tun, um sich auf seiner Höhe zu erhalten. Aber die Grundlagen waren gut gelegt, an das strenge Arbeiten war er gewöhnt, es machte ihm Freude, die besten Zensuren zu erhalten, und so schien alles leichter.

Zu Hause bildete sein Hauptinteresse jetzt ein Fahrrad, das ihm sein Vater zu Ehren des bestandenen Examens schenkte. Ursula hatte gelacht, als er es bekam, und behauptet, er werde nie im Leben lernen, es zu fahren; das stachelte seinen Ehrgeiz. Immer sagte Ursula, er sei unpraktisch, unsicher, er werde nichts im Leben vorwärts bringen! Das ärgerte ihn mehr, als er sich merken ließ.

Auf dem langen Gang des Hinterhauses lernte er nun das Radfahren, an jener Tür aufsteigend, wo einst in seinen Kinderträumen der Januar begann. Unabsehbar erschien ihm früher dieser Gang, und nun war er so kurz geworden! Wenn er am unteren Ende anlangte, so ärgerte er sich. Und dann flogen die Monate an ihm vorbei, und wieder war er am Januar angelangt. Bald konnte er auch hart an jener Treppe vorüberfahren, deren alte Holzstufen beinah schwarz in die Tiefe führten, ohne daß es ihn noch schwindelte. Die Hebungen und Senkungen des Bodens, früher geheimnisvoll, erschienen jetzt nur lästig. Er nahm sein Rad und trug es in den Garten. – »Das Aufsteigen ist das schwerste!« sagte er zu Ursula, »aber wenn man erst einmal im Gange ist, dann geht es ganz von selbst.« – Nach ein paar mißglückten Versuchen war er oben, das vordere Rad schwankte ein wenig hin und her, aber dann bekam es eine feste Richtung; und nun ging es die Kieswege hinab, die die ganze Weite des Gartens umgrenzten. Um einzelne Büsche, die ihre Zweige über die Wege niederhingen, machte er anfangs Umwege, aber als er sicherer ward, wich er ihnen nicht mehr aus, sondern drängte sie mit einer Armbewegung zur Seite, und endlich minderte er die Schnelligkeit der Fahrt überhaupt nicht mehr und schlug, wenn ihn ein Busch behinderte, mit dem ganzen Arme kräftig seitwärts, daß Blumen und Blüten zur Erde fielen.

Ursula, die ihn anfänglich verspottete, konnte nun nichts mehr sagen; einmal stellte sie sich vor ihn hin und fragte, ob er es erlaube, daß sie ebenfalls zu fahren versuche. – Sie hatte einen stark ausgeprägten Sinn für Eigentumsrechte. »Natürlich darfst du fahren!« antwortete er etwas gönnerhaft. – Nach zwei Tagen fragte sie mit bescheidener Stimme ihre Mutter, ob sie nicht auch ein Zweirad haben dürfe. Frau Elisabeth fand diesen Sport nicht passend für ein Mädchen. So setzte sich Ursula abends unvermerkt auf das Sofa ihres Vaters, seufzte nach einer Weile halblaut und machte, als er aufblickte, schnell ein versunken-tragisches Gesicht. Aber der Justizrat hatte geschäftlichen Ärger gehabt und fertigte sie kurz ab. Erschrocken ging sie schnell hinaus.

Frau Elisabeth konnte nicht verhindern, daß sie Thomas' Rad benutzte, befahl ihr aber, das Fahren auf den Garten zu beschränken, was Ursula nicht tat. Einmal begegnete sie ihrer Mutter mitten in der Stadt. Sie wollte schon, sich verraten glaubend, absteigen, aber Frau Elisabeth erkannte sie überhaupt nicht und musterte sie kaum, denn sie hatte einen Anzug von Thomas angezogen und ihr Haar unter einer weiten, gestrickten Mütze verborgen. Ursula kicherte in sich hinein und fuhr dann, halb belustigt, halb nachdenklich ein Stück des Wegs hinter ihrer Mutter her, die mit ihrem stillen, ruhigen Gang dahinschritt, ohne die Blicke zu bemerken, die man ihr zusandte. – Sie sieht doch eigentlich ganz aus wie ein Mädchen! dachte Ursula.

Sie erzählte Thomas ihr Erlebnis und log, sie habe ein ganz anderes Gesicht gemacht, deshalb habe ihre Mutter sie nicht erkannt. – »Ich werde doch Schauspielerin!« – Und dann ärgerte sie sich, daß sie nicht wirklich ein anderes Gesicht gemacht habe, daß sie sich sogleich zurückzog, und daß eigentlich ganz und gar kein Verdienst auf ihrer Seite war. Sie fühlte sich beinah gekränkt in ihrer Künstlerehre und beschloß, sie wiederherzustellen. Am nächsten Tage zog sie wieder Knabenkleidung an, nahm Thomas' Schulmappe auf den Rücken und wußte es so einzurichten, daß sie, scheinbar von auswärts kommend, ihrer Mutter unten in der Säulenhalle begegnete. – Was für ein trockener, vergrämter Junge, dachte Frau Elisabeth, und wollte an ihr vorbei. Aber Ursula trieb die Sache auf die Spitze: »Ist Thomas zu Hause?« fragte sie mit verstellter, etwas meckernder Stimme. Die Unnatürlichkeit dieser Sprache fiel ihr auf, sie faßte den vermeintlichen Knaben näher ins Auge, erkannte ihre Tochter, ließ sich nichts merken, bejahte die Frage und schritt freundlich nickend zum Tore hinaus. Triumphierend stürmte Ursula zu Thomas.

»Was für ein Knabe war heut nachmittag bei dir?« fragte Frau Elisabeth beiläufig nach dem Abendessen. – »Nur einer aus meiner Klasse!« antwortete Thomas und kehrte den Blick ins Dunkel. – »Sage ihm, ein anderes Mal solle er seine Mütze vor mir abnehmen. Gymnasiasten« – fügte sie mit Betonung hinzu – »sollten das eigentlich von selber wissen.« Thomas wurde sehr rot, aber Ursula rief: »Vielleicht waren Spatzen drunter!« und sah recht schadenfroh und unverfroren drein. – Ihr Triumphgefühl war nun vollkommen. Um so größer war die Abkühlung, als sie auf ihrem Kopfkissen einen Brief von ihrer Mutter fand: Wenn sie Schauspielerin werden wolle, so müsse sie noch sehr viel lernen; ihre heutige Rolle in der Säulenhalle habe sie recht mittelmäßig gespielt, im übrigen müßten derartige Kindereien aufhören, wenn sie wolle, daß man sie als vernünftiges Mädchen behandle; Schauspielerinnen pflegten auf der Straße nicht in Verkleidung zu gehen.

Zum erstenmal empfand Ursula die Überlegenheit ihrer Mutter. Und auch Frau Elisabeth verwunderte sich über sich selbst, daß sie so kühl und diplomatisch handelte. – Auf ihre Hoffnung, Ursula werde so, wie sie es wollte und wünschte, hatte sie allmählich verzichtet, da sie mehr und mehr einsah, wie aussichtslos ihr Wunsch war. Sie mußte zusehen, was an diesem Kinde für sie übrigblieb. Der tägliche, oft gar nicht fühlbare Kampf mit einer stärkeren Natur hatte sie langsam erschöpft.

Ursulas Gedanke, Schauspielerin zu werden, schien bis jetzt in ihrem Leben leitend gewesen zu sein, aber allmählich kam eine Zeit, wo sie ein verächtliches Gesicht zog, wenn davon die Rede war. Diakonissin werden, sagte sie mit schwärmerischem Blick, sei viel schöner, viel edler, viel segensreicher. Dann wieder wollte sie ganz zur Landwirtschaft übergehen, aber bei näherer Überlegung sagte ihr auch dieser Beruf nicht zu, und sie schrieb in einem Aufsatz: »Die Landwirtschaft hat ihre guten und ihre schlechten Seiten; einerseits erhält sie im Menschen das Gefühl für die Natur, andererseits verhindert sie ihn, sich mit den großen Geistern, wie zum Beispiel Schiller, zu beschäftigen.« – Schließlich fand sie heraus, daß sich für einen vielseitigen Menschen überhaupt kein Beruf eigne; einmal ließ sie Thomas raten, was sie wohl später tun werde. Bei allem, was er sagte, schüttelte sie den Kopf, dann schwieg sie nachdenklich, sah ins Leere und sagte langsam: »Ich sterbe früh; gib acht, eines Morgens findet man mich tot in meinem Bette. Dann zieht man mir ein weißes Hemd an, legt mich in den Sarg, setzt mir die Myrtenkrone auf den Kopf, und ich verlasse die Welt ohne ein Vermächtnis.« – Diesen Ausdruck hatte sie in einem Buch gelesen, und er hatte ihr absonderlich gut gefallen.

Auf Thomas machten derlei Reden keinen großen Eindruck. – »Du solltest dich schämen,« sagte er einmal, »daß du nicht mehr Schauspielerin werden willst; was man sich vorgenommen hat, muß man doch auch ausführen! Was würde denn Papa dazu sagen, wenn ich jetzt auf einmal nicht mehr auf der Schule sein möchte. Vielleicht werde ich noch einmal berühmt – und du nicht!« setzte er fast mit Genugtuung hinzu. Die guten Erfolge, die Anerkennung seiner Lehrer hatten ihn etwas stolz und selbstgefällig gemacht, und sein Vater nährte diesen Stolz, den er als ein gutes Mittel ansah, sich oben zu erhalten.

Seine Mitschüler ließ er ihn oft fühlen. Sehr beliebt war er bei ihnen nicht. Tage- und wochenlang verkehrte er mit ihnen kameradschaftlich, dann wieder war er ganz fremd und gleichgültig und vergaß alle Verabredungen, so daß auf ihn nicht der geringste Verlaß war. Auf dem Schulhofe sonderte er sich plötzlich von ihnen ab, zog sich in eine Ecke zurück und sah starr über die Weite der Dächer. Was er dann dachte, wußte er selbst nicht. Es war ein Weh in ihm, das, wäre es aus dem dunklen Grunde seiner Seele gestiegen und zum wirklichen Gefühl geworden, ihn hätte zerreißen müssen. Doch es stieg nicht empor, er ahnte es auch kaum, nur war es zuweilen, als sei er eigentlich ganz woanders, als müsse er wie mit einem Schlage erwachen, und dann – aber das Unerhörte ließ sich nicht fühlen, noch weniger denken, es war auch im Grunde gar nicht da, denn wenn er sich zuweilen aus solchem Zwielicht herausriß in die Wirklichkeit und sich halblaut fragte: Was ist denn nun eigentlich? und um sich herum sah, und blendend hell die Sonne am Himmel stand und fest und greifbar sich die Dächer abzeichneten gegen das Blau, wenn dann die Glocke läutete zum Wiederbeginn der Stunde und die Schüler den Eingängen zuströmten, dann kam er sich oft albern und töricht vor. In der nächsten Pause war alles vergessen. Es vergingen Wochen, dann kam es wieder langsam über ihn; erst gesprächig, verstummte er allmählich und sah endlich nur noch auf die Stiefel seiner Kameraden, die sich plötzlich ohne Grund hoben, dann wieder senkten, ohne jemals ihr Aussehen zu verlieren, tot und doch lebendig, ohne eigenen Willen in ihrer Bewegung und auch ohne den Willen und selbst ohne das Wissen der Menschen, deren Füße in ihnen steckten – – und wieder verdichtete sich der Nebel über ihm. Er sah Blut aus einer Wunde rinnen und es quoll genau so rot wie sein eigenes. Ein Mitschüler erklärte ihm eine schwierige Stelle in seinem Buche, und anstatt zuzuhören, sah er nur den fremden Zeigefinger, dessen Haut, wie er ganz nah hinschaute, in der Sonne wie zarteste matte Seide glänzte, die Hunderte von allerkleinsten roten und smaragdgrünen Lichtern zurückwarf, genau wie seine eigene Haut – ein Spiel, das er in langweiligen Stunden oft verfolgte. Aber die Menschen rückten ihm durch diese körperliche Gleichheit nicht näher. – »Bildest du dir etwa ein, etwas Besonderes zu sein?« Er glaubte seinen Vater zu hören, der diese Worte sprach. Aber sie kamen nicht von seinem Vater, er hörte sie von irgendwo, dachte oder fühlte sie selbst, ohne daß sie aus seinem Innern kamen. – Der Zeigefinger verschwand: »Hörst du eigentlich überhaupt noch zu?« fragte sein Nachbar. – Thomas errötete leicht: »Gib dir nur keine Mühe,« sagte er, »ich wollte nur sehen, ob du ebenso klug wärest wie ich oder ob du nichts begriffest.« – Er hatte herausgefunden, daß man sich im Leben besser steht, wenn man den Mitmenschen gegenüber den Überlegenen spielt, namentlich dann, wenn man ertappt wird. – Solche Worte kamen ihm leicht über die Lippen, ohne daß er eigentlich mit seiner Seele an ihnen beteiligt war; er sprach sie wie Formeln, die sich von selbst verstehen, ohne sich etwas dabei zu denken. Und dieses innere Unbeteiligtsein gab ihm eine Sicherheit, eine Unverfrorenheit, die die anderen täuschte: Sie fühlten sich unterlegen, sie wurden unsicher unter seinem Blick, der zuweilen einen Ausdruck zeigen konnte, der weit über seine Jahre hinausging und ihm unwillkürlich ausweichen ließ.


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