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Enzio war inzwischen aus dem Haus gelaufen. Ruhelos trieb ihn der Gedanke an Irene um. War alles schon entschieden, ihr Entschluß gefaßt? – Ich warte noch bis heute nachmittag! Dann gehe ich zu ihr. Aber ich muß ihr Haus sehn, wenigstens will ich ihr Haus sehn!

Durch die Parkstraße näherte er sich dem Garten. Ob sie wohl am Fenster hinter der Gardine stand, wenn er jetzt vorbeischritt? Er blieb in der Ferne stehn und spähte durch die entlaubten Bäume. Dann konnte er nicht anders: Er schritt näher, immer hart an der Gartenmauer, bis er dicht am Hause war.

Wie war alles verändert! Wie froh näherte er sich ihm sonst! Wie selbstverständlich trat er ein, in Hoffnung, ihre Gestalt schon irgendwo zu entdecken! Und jetzt stand er wie ein Dieb versteckt.

Immer näher zog es ihn, er wollte nicht, er mußte. Mechanisch ging er durch die Gartentür, aufs Haus zu, die Stufen bis zur Pforte hinauf und läutete. Er hörte drinnen einen Schritt, und nun jagten sich auf einmal die Gedanken.

Der Diener öffnete und sagte, er habe einen Brief für ihn, er liege noch in Irenes Zimmer, er habe den Auftrag gehabt, ihn persönlich in Enzios Haus zu bringen, nun sei er ihm zuvorgekommen.

Enzio lief alles Blut zu Herzen, er starrte ihm nach, dann rief er: Lassen Sie, ich hole ihn mir selbst! und rannte an ihm vorbei, bis vor Irenes Zimmer. Er klopfte. Niemand antwortete. – Irene, ich bin es! Bist du nicht da? – Keine Antwort. Er fragte noch einmal, dann noch einmal, und endlich trat er ein. Der Brief lag mitten auf dem Tisch.

Was soll das? dachte er wie im Schwindel, empfängt man mich hier nicht mehr?

Er erbrach den Brief und las ihn stehend. Dann verriegelte er das Zimmer und blieb darinnen bis zum Nachmittag, stumpf und starr.

Ihm war wie jemandem, dem ein geliebter Mensch gestorben ist, den man nicht verlassen kann, solang sein Körper noch dem Lichte angehört. Er konnte dieses Zimmer nicht verlassen.

Endlich klopfte es. Er antwortete nicht. Die Stimme des Professors ertönte. Enzio öffnete.

Mein lieber Junge, was machen Sie denn da! sagte er, blickte ihn an und fuhr ihm aufmunternd durch das Haar: Behalten Sie den Kopf oben, es gibt schlimmere Dinge im Leben als das, was Sie jetzt durchmachen! – Enzio war wie leblos. Der Professor schüttelte ihn: Benehmen Sie sich doch etwas männlicher! Sind Sie ein Waschlappen? Tränen sind für die Weiber! Sie werden noch einmal ein ganzer Kerl, ich wette, übers Jahr sind Sie neu verlobt und glücklicher! Ein Mensch wie Sie bleibt nicht lange traurig. Im Grunde haben Sie ja viel zu viel Lebenslust! Sie vergessen schneller als Irene! Ich sage Ihnen das nicht, um Sie zu kränken, ich meine es ganz aufrichtig und will Ihnen nur Mut machen! Die Menschen sind verschieden, Irene habe ich mit andern Worten getröstet, aber die ist auch viel schwerer veranlagt als Sie! Kommen Sie herab, Enzio, zu einer Tasse Kaffee mit mir, rauchen Sie unten eine Zigarre, oder trinken Sie einen Kognak, Sie sehn ja hundeelend aus.

Enzio schüttelte den Kopf. Adieu, sagte er und reichte ihm die Hand. – Nicht? Sie wollen nicht? Essen und Trinken hilft zunächst immer, gegen alles in der Welt.

Wann kommt Irene wieder?

Das sollen Sie gar nicht wissen. Sie hat Ihnen geschrieben, daß sie mit ihrer Mutter nach Italien gereist ist, und wenn Sie vernünftig sind, müssen Sie einsehn, daß dieser Brief das letzte ist zwischen ihr und Ihnen. Sehn Sie das ein? – Ja, sagte Enzio. – Dann kommen Sie. – Enzio ging, blieb aber auf der Schwelle von Irenens Zimmer noch einmal stehn und warf einen langen, letzten Blick zurück.


Seine Mutter erfuhr alles. Dann schloß sich Enzio in seine Stube ein und wollte niemanden sehn.

Caecilie war wie niedergeschmettert. Sie hatte schließlich fest geglaubt, Irene werde sich anders besinnen.

Als Enzio sie zum ersten Male wieder sah, sagte er, wie sie beginnen wollte, über alles mit ihm zu sprechen: Ich bitte dich, sprich nicht davon, nie wieder. Ich kann es nicht ertragen, ich muß dies mit mir allein durchmachen. Ich denke an nichts anderes, aber ich bin nicht mehr fähig, darüber noch zu reden. Es muß langsam verheilen, ganz durch sich selbst.

Gott sei Dank! dachte sie; er fühlt, daß es eine Zeit gibt, die alles mildern wird.

Ganz still war es jetzt stets in Enzios Zimmer. Er saß am leeren Tisch und brütete.

Dann, eines Tages, hörte Caecilie zum ersten Male das Klavier erklingen. Enzio spielte eine alte Komposition von sich, dieselbe, die er einmal für Irene schrieb und die in dem rotseidenen Buche stand. Dann hörte sie ihn wieder gehn. Er dachte immer die gleichen, fruchtlosen Gedanken, bis sein Gehirn davon ermüdete. Wochen vergingen.


Nie sprach Enzio von Irene, dagegen fing er jetzt langsam an, mit seiner Mutter von Bienle zu sprechen. Seine Gedanken waren von der letzten Vergangenheit ermüdet, sie gingen in eine frühere zurück. Wehmütig war ihr das, und sie konnte es nicht hindern, daß allmählich eine Bitterkeit gegen Irene in ihr aufstieg.

Das hat sie mir einmal geschenkt! sagte er und holte ein kleines Madonnenbild aus seiner Brusttasche; – das gab sie mir, als sie schon wußte, daß ich mit der andern soviel zusammen war. Ich glaube, sie dachte, es solle mich beschützen. Um meinetwillen ist sie in die Fremde gegangen, und ich weiß nicht einmal, was aus ihr geworden ist.

Er schwieg, vor seinem innern Blick und vor Caeciliens schwebte das stumme, wehrlos-süße Bild dieses Mädchens, still blutend und mit traurig-ruhigen Augen.

Wie treu hat sie zu ihm gehalten, dachte Caecilie, – auch als er sich immer mehr von ihrem Herzen entfernte, als sie sein Leben und Treiben aus allernächster Nähe sah, bis sie's nicht mehr aushalten konnte! Wie furchtbar hat er sie gequält! Und Irene trennte sich von ihm, als sie nur von seinem Leben durch eine andere hörte! Kann sie ihn je wirklich geliebt haben? Muß die Liebe nicht alles überwinden? Ist dies nicht ganz blutlos-moralisch? Und wie sagte sie zu ihm?: Auch wenn ich auf ein glückliches Leben mit dir zurückblicken könnte – auch dann würde ich bereuen, mit dir zusammen gelebt zu haben! Nun, wenn ein Mädchen so spricht über meinen Sohn und über ein reines Glück an seiner Seite, dann ist es gut, daß sie dieses Glück nicht kennen gelernt hat, dann ist es nicht beklagenswert, daß diese Verbindung wieder auseinandergegangen ist. – Aber sie vermied es, auch nur ein Wort von ihren Gefühlen laut werden zu lassen gegen Enzio.

Ob sie wohl noch deine Spange trägt? fragte er ein anderes Mal. – Enzio, zergrübele dir den Kopf nicht mit Erinnerungen! Sieh gradeaus, in die Zukunft!

Aber seine Gedanken waren unablässig in der Vergangenheit. All die kleinen Andenken an Bienle, ihre Geschenke, Blumen, Briefe, hatte er in eine besondere Lade getan, nahm sie oft daraus hervor, las, streichelte und küßte sie.

Zuweilen dachte er an jenen Blick, mit dem sie ihn in der allerletzten Zeit einmal angesehn, dann war es ihm, als schwebe er in einer fremden, geisterhaften Welt, die außer seiner selbst war. Ehe er diese Empfindung fassen konnte, war sie schon vorüber.

Wie ist mir denn? sprach er einmal zu sich, – dreht sich alles langsam um? Tritt mir Irenes Bild schon jetzt wieder ferner, wo alles erst so kurz vergangen ist? Wird mir auch Bienles Bild ganz schnell verblassen? Hat der Professor recht gehabt, wie er mir sagte: er glaube nicht, daß ich den Gedanken an Irene so lange nachhängen würde? Bin ich denn wirklich nicht einer einzigen, tiefen, nachhaltenden Leidenschaft fähig? Werde ich wirklich übers Jahr wieder ganz lustig sein?

Übers Jahr! Ihm graute vor all den Monaten und Jahren, die noch vor ihm lagen.

Wieder versuchte er zu arbeiten. Aber allmählich war ein Gefühl über ihn gekommen, das ihm bis dahin in der Stärke fremd war: Schon der Gedanke an eigene Musik, an Noten, an Schaffen war ihm so entsetzlich geworden, daß er ihn sogleich mit Angst erfüllte. Er bemühte sich dagegen anzugehn, aber er verstärkte sich mehr und mehr. Er suchte sich in Theatern und Konzerten zu zerstreuen, aus jedem Takt Musik hörte er nur immer die Worte: Das kannst du nicht, das wirst du niemals können. Einmal übermannte es ihn so, daß er den Saal verlassen mußte.

Richard besuchte ihn viel; er vermochte es auch durchzusetzen, daß Enzio endlich einwilligte, mit ihm zum Schlittschuhlaufen zu gehn. Scheinbar erfrischt kam er zurück. – Habt ihr nette Bekannte getroffen auf dem Fluß? – Ja. – Wen denn? – Ich weiß nicht, ich bin allein gelaufen. – Weit? – Bis vor – nein soweit nicht.



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