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Einmal traf für ihn ein kleines Paketchen ein, mit sorgsamer Kinderhandschrift adressiert. Es enthielt eine Tafel Schokolade und einen Brief von Pimpernell, die sich entschuldigte, daß sie ihr Paket erst heute schicke. Aber sie sei erst jetzt in den Besitz von zwanzig Pfennigen gelangt. – Das süße Pimpernellchen! rief Enzio, fast im Ton seines Vaters, wenn den etwas entzückte. – Pimpernellchen? fragte Caecilie; wer ist denn das nun wieder? – Ein süßes, entzückendes, reizendes Mädchen, o das ist doch zu nett von ihr, das hatte ich ja längst vergessen. Er erzählte nun, wie er sie kennen lernte, und daß es sich hier um eine Wette handle, die er gewonnen habe.

Als er sie das nächste Mal traf, gab er ihr als Gegengeschenk einen wertvollen schönen Federhalter, an dem er besonders hing. Sie nahm ihn auch voll Dank und drehte ihm den Rücken zu, damit er ihr den Tornister aufschnalle und ihn dort hineinschiebe. Da drinnen war alles vollgestopft, sauber geordnet mit weiser Benützung der gegebenen Platzverhältnisse. – Hast du ihn auch wirklich hineingetan? fragte sie, als sie weiterschritten. – Wieso? fragte Enzio erstaunt. – Ich dachte, du tätest vielleicht nur so und hättest ihn wieder in deine eigne Tasche gesteckt. – Enzio sah einen Moment wie abwesend aus, da er ihre Worte nicht begriff. – Ich habe ihn dir doch geschenkt! sagte er endlich. – Ja, aber manche Kinder sind so! meinte sie erklärend. Er blieb stehn und sagte: Höre mal, du bist ja scheußlich! – Sie blickte ihn erschreckt an, dann brach sie in ein hilfloses Weinen aus und jammerte: So habe sie es ja nicht gemeint, sie selber wäre doch nicht so, und sie habe ihm doch auch ganz richtig seine Schokolade geschickt! – Weinen mußt du nicht, Pimpernellchen, sagte er, sogleich gerührt, und trocknete ihr mit dem eignen Taschentuch die Tränen, die wie kleine Kugeln aus ihren Augen sprangen: Siehst du, ich küsse das Taschentuch, auf das deine Tränen gefallen sind! Sie hielt mit ihrem Weinen inne und sah aufmerksam zu, wie er es wirklich tat.

Am nächsten Tag erhielt der Kapellmeister einen silbernen Federhalter zugeschickt und einen Brief. – Lies, Caecilie, ich bitte dich! sagte er mit einem milden Lächeln, ach Gott, was sind diese Schulmänner für Pedanten! Als ob ein Federhalter aus Silber ein kostbareres Geschenk wäre als eine Tafel Schokolade! Ich zum Beispiel nähme viel lieber die Schokolade! – An diese Rücksendung knüpfte sich der Wunsch, daß der neue junge Freund Mathildes sich doch einmal persönlich der Familie vorstellen möge.

Enzio wollte nicht, aber er mußte. Die Wohnung der Pimpernells war klein; im Vorzimmer roch es nach Pfeffer, und im Wohnzimmer – wie es ihm schien – nach Mäusen. Eine Frau empfing ihn, die dem Pimpernell sehr ähnlich sah, aber einen beträchtlichen Umfang hatte, wie eine ganze Note, dachte Enzio unwillkürlich. Sie sah ihn freundlich durch ein Lorgnon an und sprach mit ihm, und während er zuhörte und antwortete, mußte er immer auf ihre Mundwinkel sehen, die Spuren von Eigelb aufwiesen. Weshalb wischt sie das wohl nicht fort? dachte er. Dann kam ein Mann, mit einem Vollbart und einer goldnen Brille, der ihn durchdringend anschaute, einige Worte an ihn richtete und ihn fragte, ob er auch musikalisch sei, was Enzio bejahte. Der Mann lachte ihm ins Gesicht, als ob ihn diese einfache und grade Antwort belustigte und zugleich verwunderte, und dann durfte Enzio ins Nebenzimmer, wo er mit Pimpernell zum Spielen allein gelassen wurde. Hier roch es wieder anders.

Was tust du eigentlich immer? fragte er. – Ich schneide Puppen, sagte sie, als wenn das ihr Beruf sei, und holte sie sogleich. Sie waren aus Modejournalen herausgeschnitten. Jetzt legte sie alle in graden Reihen auf den Tisch und begann sofort »Schule« mit ihnen zu spielen. Es war wirklich ganz genau wie in der Schule. Enzio schaute eine Weile zu, dann nahm er die Leitung selber in die Hand. Im Nu entstanden die lustigsten Szenen, gemischt aus Unbotmäßigkeit und Rüpelei. Ihr war diese Art ganz neu, sie zog die Schultern in die Höhe und gab ihren Beifall in kleinen, prustenden Tönen zu erkennen, während sie leise auf und nieder hüpfte. Dann griff sie selbst mit in das Spiel ein und zeitigte die albernsten und kindischsten Einfälle, erst etwas schluckend und in halber Verlegenheit, dann aber, als Enzio lachte, kühner, doch stets mit unterdrückter Stimme; und als er unwillkürlich lauter wurde, sah sie erschreckt zur Tür, trat dicht zu ihm heran und flüsterte sehr ernsthaft, er möge lieber leiser reden. Enzio, gespornt durch ihren Beifall und durch ihr eignes Wesen, steigerte seine Einfälle bis zur Läppischkeit, sie würgte, um nicht laut zu lachen, und schließlich sprangen ihr bei ihren mühsam unterdrückten Ausbrüchen dieselben kleinen kugelrunden Tropfen aus den Augen, wie an dem Morgen, wo er sie weinen sah. Endlich stopfte sie ihr Taschentuch in den Mund, und schließlich warf sie sich aufs Sofa, wie Enzio alle Puppen durcheinander schmiß und Fratzen schnitt, indem er von einem Bein aufs andre sprang. Im Grunde kam er sich selbst höchst läppisch vor, aber es war ja niemand zugegen außer Pimpernell, der das Freude machte. Er führte einen lautlosen Tanz auf, und dann summte er dazu eine rasch erfundene Melodie, während er mit Fratzenschneiden fortfuhr. Sie arbeitete sich von ihrem Sofa herunter und flüsterte ihm zu, daß sie auch etwas könne. Dann zog sie die Arme an dem Körper hoch, ballte die Hände zu kleinen Fäusten, stemmte ihr rundes Kinn gegen den Hals, zog die Augenbrauen hoch, blies die Backen auf und ahmte eine ferne Militärmusik nach, wobei sie sich langsam um sich selber drehte, wie eine kleine, altmodische Tanzpuppe.

Sie sahen sich nun öfter. Wie Enzio von einem zweiten Besuche dort nach Hause kam, sagte er zu Caecilie: Als ich Pimpernells Mutter zum ersten Male sah, hatte sie an ihrem Munde Eigelb. Diesmal hatte sie wieder an ihrem Munde Eigelb, aber ihr Lorgnon war auch voll Eigelb. –

Pimpernell kam auch in des Kapellmeisters Haus. Enzio bemerkte, daß Caecilie nicht sonderlich von ihr entzückt war, und, wie schon Fräulein Battoni gegenüber, verleugnete er sie nun auch vor ihr. Caecilie war darüber ganz empört: Weshalb lädst du sie dann ein? Sich nur über Menschen lustig zu machen, dazu sind auch kleine Menschen zu gut! – Ich mache mich nicht lustig, ich finde sie furchtbar niedlich! –

Pimpernell schloß sich ihm allmählich in inniger Freundschaft an und war in jeder Hinsicht die sich Unterordnende, Hilfsbeflissene, Dienstbereite. Es zeigte sich jetzt auch, daß sie anschmiegungsbedürftig war, und wenn er sie manchmal sehr lange küßte, hielt sie ganz still, bis sie endlich sagte: Nun komme ich dran! und ihrerseits mit leisem Schnaufen anfing. – Es zeigte sich ferner, daß sie über eine Art alberner Kindersprache verfügte, mit Verwechslung und Vereinfachung gewisser Konsonanten. Enzio lernte ihr das ab, und beide wetteiferten manchmal in dieser Lautgebung, die ursprünglich von einer Tante Pimpernells stammte, die, als Pimpernell noch klein war, lange im Haus gelebt und sie erfunden und gezüchtet hatte.

Neben ihr hatte er noch seine andern Freundinnen, und wenn er Pimpernell recht quälen wollte, so sagte er, er habe diese und jene lieber als sie; das sagte er so lange, bis sie in Tränen ausbrach. Dann tröstete und küßte er sie gleich wieder und rief: Dich, Pimpernell, mag ich ja doch am allerliebsten! Hinterher schämte er sich vor sich selber, und noch mehr, wenn er zu andern Freundinnen ähnlich sprach. Eigentlich mag ich doch gar keine von allen wirklich am liebsten, dachte er zuweilen, warum muß ich das wohl immer wieder sagen! –

Manchmal besuchte ihn Pimpernell, wenn er mitten in seinen musikalischen Arbeiten war. Dann sagte er unwirsch, sie möchte wieder gehn; und ohne ein weiteres Wort drehte sie um. Sie hatte nicht die geringste Ahnung von Musik, respektierte sie aber, da sie wußte, daß sie eine Kunst sei, und weil Enzio ihr anvertraut hatte, er würde einmal Musiker und Komponist und sein Name werde später berühmt sein in ganz Deutschland und noch viel weiter. Das glaubte sie ihm aufs Wort, und ihre Verehrung wurde noch um vieles tiefer.

Eines Tages läutete sie an der Wohnung des Kapellmeisters und sagte dem Mädchen, sie wolle Enzios Mutter sprechen. Im Arm trug sie eine kleine, sehr hübsche Araukarie im Blumentopf, die sie ihr dann verehrte. Caecilie war zunächst erstaunt über dieses plötzliche Geschenk, nahm es aber und bedankte sich mit freundlichen Worten. – Ach, die ist doch gar nicht so schön! sagte Pimpernell, und sah halb verlegen in einen Winkel. – Aber sie ist doch wunderhübsch! – Ach nein! sagte sie noch einmal, machte eine fahrige Bewegung mit dem Arm und verabschiedete sich sehr schnell. – Komisches Mädchen! dachte Caecilie. – Die Araukarie wollte nicht gedeihen. Ihr Grün wandelte sich in ein bläßliches Gelb, trotz der guten Pflege, die ihr Caecilie persönlich zuteil werden ließ. Kopfschüttelnd dachte sie: Gieße ich sie zu viel oder zu wenig? und schließlich, als das Ding immer mehr vertrocknete: Ist etwa die Erde schlecht? Vorsichtig wollte sie das ganze Stämmchen mitsamt der Erdform aus dem Blumentopf emporheben, auf einmal gab es einen Ruck, das Bäumchen fuhr heraus, ohne Erde, ohne Wurzeln, als ein abgeschnittener Stumpf, den sie verblüfft betrachtete. Ursprünglich war es die Krone eines größeren Stammes gewesen, der unter dem Mahagonispiegel in der guten Stube der Pimpernells sein Dasein fristete, Pimpernell hatte ihn aus Versehen umgestoßen, als er ihr beim Anschauen ihres Fratzenschneidens im Wege stand, die Krone war halb abgebrochen, sorgsam beschnitt sie den untern Teil, daß er wieder wie neu und ganz aussehen sollte, mit dem obern, kleineren Teil wußte sie dann erst nichts anzufangen, bis ihr einfiel, man könne daraus noch ein Geschenk machen.


Einmal kam Enzio, sie zu einem Gang in das Museum abzuholen. Sie hatten in der Schule als Aufsatzthema die Beschreibung eines gewissen holländischen Bildes bekommen, einer großen Landschaft mit vielfältigen Sondervorgängen im Vordergrunde. Pimpernell war sofort bereit, indem sie ganz selbstverständlich dachte, daß vier Augen mehr sehen als zwei, und daß sie ihm helfen könne, entdeckte dann auch hie und da wirklich Dinge, die ihm entgangen waren: kleine Kirchturmspitzen auf dem Grün der Hügel, eine winzige Schafherde unter einem dunstigen, silbrig-gelben Himmel, und war sehr erstaunt, daß Enzio nicht Papier und Bleistift mitgenommen habe, um sich alles aufzuschreiben. Dann sahen sie sich andere Bilder an und kamen allmählich zu der Halle der Skulpturen. Hier machten sie sich alsbald grundlos lustig über alles was sie sahen, nachdem Pimpernell, die so etwas noch nie zu Gesicht bekommen hatte, die Einleitung dazu mit einem kratzenden Lachton durch die Nase eröffnete. Bei Gruppen, die ihr besonders komisch erschienen, verweilte sie länger und machte ihre Bewegungen nach. Enzio, der anfangs über sie lachte, ward schließlich ungeduldig und schritt allein weiter. Sie war noch nicht ganz fertig mit ihrem Imitieren sämtlicher Figuren einer gewissen großen Gruppe, erledigte die letzten Personen für sich allein, lief dann hinter ihm her und fand ihn in der nächsten Abteilung.

Er stand, den Rücken ihr zugekehrt, vor einer Plastik, hörte nicht auf ihr Rufen, und wie sie ihn an der Hand faßte und weiterziehen wollte, sagte er kurz und heftig: Laß mich los! so daß sie sich erschrocken und pflichtschuldig ebenfalls in den Anblick des Bildwerkes zu versenken suchte.

Es war ein Kinderakt in Marmor, ein Mädchen, das schlank und grade dastand und in der einen Hand einen Apfel trug. Enzio hatte flüchtig daran vorbeigehen wollen, sein Blick war auf den Namen des Künstlers gefallen, jenen Namen, der ihm heilig war, und wie gebannt blieb er stehn.

Dies war Irene, so wie sie vor vier oder fünf Jahren ausgesehn haben mußte! Deutlich erkannte er ihre feine Nase und ihr Kinn, die steile hohe Form des Kopfes wieder. Mit beinah verhaltenem Atem, wie in einer Anbetung hatte er dagestanden, und wie er endlich scheu und zaghaft ihren Arm berührte, durchrieselte ihn ein leiser Schauer. Dann war Pimpernell gekommen. –

Wortlos und zerstreut folgte er ihr jetzt, und als sie, in Besorgnis um seinen Aufsatz, wieder die Einzelheiten jenes ersten Bildes aufzuzählen begann, sagte er nervös: Ach, laß doch das dumme Bild! so daß sie sogleich verstummte.



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