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Am bestimmten Tage war er wieder in dem Park, halb voller Erwartung und halb mißmutig. Warum behandelte sie ihn stets noch beinah als Kind, und dann plötzlich wieder wie einen erwachsenen Liebhaber? Und immer: »Enzio, Enzio« vor jedem Satz und nach jedem Satz.

Als er zu der verabredeten Bank kam, war sie leer. – Ich warte zehn Minuten, und wenn sie bis dahin nicht kommt, dann gehe ich wieder! dachte er und zündete sich eine Zigarette an, versteckte sie aber nach kurzer Zeit und blies den Rauch hastig in die Weite, als er ein bebrilltes Haupt auf einem schwarzen Unterbau langsam nahen sah. Das war der Rektor des Gymnasiums, der nun allmählich vorbeischritt. Er war in jovialer Naturgenußstimmung, roch sehr wohl die Zigarettenatmosphäre um den Schüler seiner Prima herum, begnügte sich aber damit, als Enzio grüßte, seinen Gegengruß mit einem olympisch-allwissenden und zugleich sehr freundlichen Blick zu begleiten.

Fräulein Battoni kam nicht, und je länger Enzio wartete, um so größer wurde seine Enttäuschung, obgleich er halb widerwillig zu diesem Rendezvous gegangen war. Grade wollte er sich erheben, als er ihr helles Kleid und ihren funkelnd roten Sonnenschirm durch die Zweige herannahen sah.

Mein süßes Kind! rief sie; bist du schon da? Nun, das nenne ich Pünktlichkeit! Du hast die richtige Anlage zum Liebhaber, Enzio!

Was sich Fräulein Battoni bei dieser neuen Zusammenkunft gedacht hatte, wußte sie selber nicht. Dieser junge, frische und in ihren Augen wirklich bildschöne Mensch reizte sie. – Er muß mich doch rasend gern haben! dachte sie, – denn sonst würde doch wenigstens etwas auf ihn abfärben von den Gefühlen seiner Mutter gegen mich, aber davon merke ich nichts, gar nichts! Und diese reizende Unbefangenheit, mit der er das Verhältnis von seinem Vater zu mir zu beurteilen scheint! wie selbstverständlich er es hinnimmt, daß ich mich auch für ihn interessiere! Wirklich zu niedlich ist das doch von ihm! Was er sich wohl denkt? Sie hatte selber keine Ahnung, wie sich die Beziehung zwischen ihr und Enzio weiter entwickeln würde. So etwas wußte sie niemals, aber ihr durchaus vorurteilsloser Sinn machte keinen Unterschied in den Lebensaltern.

Bei ihrer Zuneigung zu Enzio spielte außer seiner Jugend und seiner Schönheit noch etwas anderes eine Rolle: Er war der Sohn seines Vaters, und sie kannte ihn seit seiner Kindheit. Beides mischte ihrem Gefühl etwas Pikantes bei. Das erste brachte ihn ihr von vornherein körperlich näher, erfüllte sie mit vertrauteren Ahnungen, als wenn er ihr ganz fremd gewesen wäre, und barg den Keim von Vergleichungen in sich. Und das zweite mischte in ihre Empfindungen eine angenehme Frische. Der Gedanke war prickelnd, diesen jungen Menschen wieder rückerinnernd in den Zustand der Kindheit zu versetzen und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vermischen, so daß ein nur halb erkennbares Zwitterwesen von verschiedenen Lebensaltern deutlich ward.

Die Stimmung war eine andre als das letztemal. Er empfand das in ihren Blicken, und er selber war in heimlicher Erregung, denn jetzt fühlte er mit Deutlichkeit, daß er für sie nicht mehr das Kind von früher war, sondern daß sie ihn als einen reifgewordenen und begehrenswerten Menschen betrachtete. Jede kleinste Berührung hatte einen andern Sinn bekommen. Alles, was in ihm gelockert war, bedurfte nur eines Anstoßes, um auseinandergesprengt zu werden.

Er saß stumm neben ihr. Sie drehte eine Blume zwischen den Fingern hin und her, bis sie endlich niederfiel, auf die Bank, zwischen sie beide. Er griff nach ihr, sie ebenfalls, und ihre Hände fanden sich. Beide sagten gar nichts.

Was du für schöne, starke Finger hast! sprach sie endlich, hob sie und legte sie gegen ihre heiße Wange. Ihn durchschauerte es. Und ohne daß sie noch ein weiteres Wort sprachen, waren sie eng zusammengerückt, und dann küßte sie ihn glühend auf den Mund. Er vergaß in diesem Moment alles, er fühlte nur die Berührung dieser begehrenden Lippen, nur ihren weichen Frauenkörper, er umschlang sie heftig. – Enzio, murmelte sie, laß mich los! Er dachte nicht daran, er umschlang sie fester. Sie fühlte das Feuer seiner jungen Glieder, und nun ließ sie sich treiben. Enzio! flüsterte sie, ich weiß nicht mehr, was ich tue, ich bin verrückt geworden, ich liebe dich, Enzio, ich liebe dich, alles andre ist mir gleichgültig – – sie umarmte ihn von neuem: Enzio! Wenn du wolltest – – ich würde alles darum hingeben, auch deinen Vater, wenn es sein müßte! – In Enzios Körper tat es einen Ruck. Er stieß sie halb zurück und sah ihr starr und mit geöffneten Lippen ins Gesicht. Sie erblaßte, und ein tödlicher Schreck befiel sie. Zum zweiten Male mich verplappert – dachte sie – und in genau derselben Sache. – Mein Vater? stieß er endlich hervor, mein Vater? Dann sagte er: O Gott! und schlug die Hände vors Gesicht. Sie glaubte wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. An die Bühne gewohnt mit ihren Darstellungen von »Konflikten«, legte sie sich jetzt sein Wesen so aus, als gehe in ihm ein heftiger Kampf vor sich, als habe er zuvor im Rausch des Augenblicks die Wirklichkeit, soweit sie sich auf ihn bezog, nur vergessen, als erwache er nun aus einem goldnen Traum zur Welt zurück, mit ihren ewigen Forderungen an das menschliche Herz und dessen Gegenforderungen; dann aber konnte sie nicht mehr lange im Zweifel bleiben über das, was wirklich in ihm vorging. Er riß die Hände vom Gesicht und stieß die Worte vor: Sagen Sie mir alles.

Ja, um Gotteswillen, was soll ich Ihnen weiter sagen, als was Sie selber wissen! sagte sie stotternd, und war unwillkürlich in eine andre Art der Anrede hineingeraten – – als was alle Welt weiß! – Und plötzlich setzte sie hinzu: Eine ganz harmlose Geschichte, aber wie die Welt nun einmal ist, vermutet sie natürlich gleich das Schlimmste! – Enzio schüttelte heftig mit dem Kopf, dann rief er: Wann fing das an? – Sie antwortete nicht. – Wann fing das an? schrie er beinah. Und unter seinem Ton und Blick stotterte sie wieder: Das weiß ich wirklich nicht mehr – aber ich versichere Ihnen nochmals: Es ist eine ganz harmlose Geschichte. – Sie lügen!! – Da besann sie sich auf ihre Würde und wußte nun auf einmal, was sie auf dieses Stichwort hin noch alles zu erwidern und wie sie sich zu Ende zu benehmen habe. – Mein lieber Sohn! sprach sie, ich bin wirklich nicht hergekommen, um mich von dir verhören und beschimpfen zu lassen, besinne dich, wen du vor dir hast! – Nennen sie mich nicht mehr du! Ich will das nicht, ich verbiete es Ihnen!

Sie hatte ihre Ruhe vollkommen zurückgewonnen und ließ jetzt ein begütigendes, besänftigendes Lachen in einer tiefern Lage hören.

Wie du willst! oder vielmehr: Wie Sie wollen. Ich nenne Sie schon von selber nicht mehr du, wenn Sie sich so benehmen. Es tut mir leid, mein lieber Enzio, daß unsre Freundschaft in die Brüche gehen soll – aber wenn Sie es durchaus wünschen – mir ist es recht. Es machte mir Vergnügen, mit Ihnen zu scherzen und zu sehn, wie weit ein junger Mann sich durch die scheinbar entgegenkommenden Worte einer reifen Frau hinreißen lassen würde, sie für Ernst zu nehmen; es war ein kleines, unschuldiges Experiment – nicht sehr nett von mir, das gestehe ich, und dafür bitte ich nachträglich noch ein wenig um Entschuldigung. Im übrigen habe ich auf nichts mehr zu antworten. Gehen Sie nach Haus und schämen Sie sich da etwas, einer Dame gegenüber in solchem Ton geschrien zu haben. Sie hätten mich dem Schlimmsten ausgesetzt, wenn zufällig Menschen vorbeigekommen wären. Adieu! – Sie erhob sich und rauschte langsam davon.

Enzio blieb auf seiner Bank zurück, warf den Kopf nach hinten und vergrub ihn dann in seinem Arm.

»Ich würde alles darum geben, auch deinen Vater, wenn es sein müßte.« Diese Worte wirkten in ihm nach mit der Grelle eines Blitzes. Endlich hob sich aus alle dem, was in ihm durcheinander ging, ein jammernswertes Bild: das seiner Mutter. Jetzt verstand er die ganze Vergangenheit, wie hatte sie vorhin gesagt?: Ich weiß nicht, wann das anfing! Das deutete auf Jahre!

Hingeben! Für ihn hingeben! Wie abscheulich klang das! Wie gemein war die ganze Art, durch die er in das Geheimnis gedrungen war!

Ihm war, als müsse er sogleich zu seiner Mutter, ihr zu Füßen stürzen, sie umklammern, alles herausschreien, was er wisse, und beichten, wie er in den Besitz dieses Wissens gelangt sei. – Aber war es vielleicht doch nicht unmöglich, daß sie genau so wenig wußte, wie er selbst bisher gewußt hatte? Plötzlich durchzuckte ihn der verwegene Gedanke, Rechenschaft zu fordern von seinem Vater. Er war kein Kind mehr, er mußte wissen, ob es wirklich wahr sei, was er gehört, und – was die ganze Welt wisse, wie Fräulein Battoni hinzugesetzt hatte. Bei diesem letzten Satz stockte sein Gedanke wieder und ein dunkles Rot zog sich über seine Schläfe. Der erstbeste Mensch, den er auf der Straße traf, konnte Mitwisser dieses Geheimnisses sein, das kein Geheimnis mehr war; alle wußten es, nur ihm hatte man es verheimlicht.

Seinen Vater, so fühlte er jetzt, konnte er nicht zur Rede stellen, das war ausgeschlossen.

So neu und unfaßlich war seinem Herzen alles Gehörte, daß ihn wieder der Gedanke durchfuhr: vielleicht ist alles doch nicht wahr! Nichts weiter als ein dummer, roher Scherz! Hatte sie nicht auch gesagt, alles übrige sei nur ein Scherz gewesen? – Er hörte innerlich den Ton ihrer Worte wieder, er sah von neuem ihr tödlich erschrockenes, erblassendes Gesicht, und dann wußte er, daß alles wahr gewesen sei.

Was sollte er tun? Ändern konnte er selber nichts an allem, dazu war er zu jung und dazu fehlte ihm das Recht. Auch zu seiner Mutter konnte er nicht sprechen – denn immer wieder meldete sich der Gedanke: Es ist doch nicht vollkommen ausgeschlossen, daß sie keine Ahnung hat! Was sollte er tun? Sollte er sich Richard anvertrauen? Das war das beste, der würde ihm raten, helfen können.

Er erhob sich von seiner Bank, nachdem er noch lange vor sich hingestarrt hatte.

Als er in die Straße einbog, wo Richard wohnte, zögerte er wieder, und dieses Zögern wurde stärker, als er nun durch den Hof ging und dann die Treppen emporstieg. Trotzdem hob er die Hand zum Läuten, aber im letzten Moment zog sie ein plötzlicher Impuls zurück. Richard durfte nichts von diesem allem wissen. Zwar durchkreuzte ihn sogleich die Idee: Aber wenn es jeder weiß, weiß er es auch vielleicht schon lange. Trotzdem drehte er um. Durch ihn sollte Richard kein Wort darüber hören.

Wohin wollte oder sollte er nun gehn? Nach Hause? Das schien ihm unmöglich. Auf der Straße bleiben? Hinaus auf die Felder? Vor dem allem ekelte ihn. – Wenn ich heimlich in mein Zimmer kommen kann – dachte er endlich – bin ich gerettet. Dann schließe ich mich ein und sage: ich arbeite, wenn jemand zu mir herein will. Aber er ging doch nicht nach Hause, er machte einen weiten Gang zur Stadt hinaus, und wie er sich endlich heimwärts wandte, nahte die Dämmerung. Es gelang ihm, ungesehn sein Zimmer zu betreten. Er wußte nicht, was sich inzwischen in seiner Familie ereignete.

Fräulein Battoni war vom Park aus nach kurzer Überlegung schnurstracks aufs Telephonamt gegangen und hatte den Kapellmeister in ihre Wohnung bestellt: Besser, dachte sie, ich komme Enzio zuvor und breche der Sache jede Spitze ab, als daß ich schweige und nachher die schlimmsten Vorwürfe zu hören bekomme.

Sie erzählte alles, was geschehen war, der Situation nach ungefähr richtig, aber in einer gänzlich andern Beleuchtung: Wahr ist alles, was er dir vielleicht erzählen wird! sagte sie, – wenn er wohl auch in seinem jünglingshaft-eitlen Herzen mir selber ganz andre Motive unterstellen wird, obgleich ich ihm erbarmungslos gesagt habe, daß es nichts als ein dummes Spiel war, das ich mit ihm trieb, Ich gebe zu, das Spiel war ein wenig frivol; aber mein Gott, Heinrich, der Junge ist dir so furchtbar ähnlich, und dann weißt du doch genau, daß ich manchmal ein bißchen exzentrisch bin und mir Dinge erlauben darf, die bei andern ein ganz andres Gewicht bekommen würden. Selbstverständlich gebe ich zu, daß mich dieses unberührte Jünglingstum gereizt hat, dafür bin ich Weib, Gott sei Dank! Aber wenn er behaupten sollte, daß ich ihn angelockt hätte, dann lügt er einfach! Ich will dir genau sagen, wie es anfing: Er lief vor ein paar Tagen einem ganz entzückenden Mädchen nach, im Park, sah mich – ich rief ihm ein paar Worte zu – ließ dieses entzückende Mädchen laufen und kam zu mir. Später habe ich ihn selber angetrieben, sie wieder aufzusuchen, vorher beredeten wir uns halb scherzhaft für einen andern Tag – für heute – ich vergaß die Sache halb, traf ihn dann schließlich doch – und zwar beinah eine ganze Stunde zu spät, das kann Enzio dir bezeugen! Ich wollte sowieso spazieren gehn, und dachte zwischendurch: wenn er überhaupt da war, so ist er nun längst nach Haus gegangen. Aber er war da, er hatte schon unendlich lange auf mich gewartet. Na, und da ging's wirklich an. – Was, fragte der Kapellmeister, der auf einem Sessel saß und die Hand vors Gesicht hielt. – Gott, kleine Zärtlichkeiten, unverfänglichster Art, bis er so heftig wurde, daß ich ihn zurechtweisen wollte und ihm sagte, er solle doch nicht seine Pflichten gegen dich vergessen – oder so ähnlich, aufgeschrieben habe ich's mir nicht, vielleicht habe ich auch gesagt, ich hätte selber Pflichten gegen dich – das kann ich nicht so genau mehr wissen, jedenfalls bin ich kurz darauf gegangen, da er unverschämt wurde. – Wieso, fragte der Kapellmeister, immer in derselben Stellung. – Er spielte sich da als Richter auf, stellte mir Fragen, als ob ich in einem Prozesse wäre, in einem Ton, daß ich keine Lust hatte, das länger mit anzuhören, so, als wenn er sich einbildete, wirklich irgendein Besitzerrecht an mich zu haben. Zu, zu dumm von mir, daß mir dies eine Wort entschlüpft ist! Aber ich konnte doch unmöglich annehmen, daß Enzio von der ganzen Sache auch nicht ein Sterbenswörtchen wüßte. Über so etwas spricht man doch und diskutiert man doch in einer gesund empfindenden Familie!

Der Kapellmeister nahm die Hand vom Gesicht. Er sah vollständig betrübt aus und blickte starr auf sie. – Glaubst du mir etwa irgend etwas nicht? – Er nickte fast unmerklich, sie schwankte, wie sie dieses Nicken auffassen solle, hatte aber nicht den Mut zu einer erneuten Frage, und so entschloß sie sich ganz kurz zu einer günstigen Auffassung und Weiterführung: Um eins bitte ich dich: Straf den Jungen nicht! Tu mir die Liebe. Schneide jedes Wort ab, das er etwa sprechen will, und sage ihm, daß ich schon bei dir war und alles in einem für ihn selber günstigen Lichte dargestellt habe! Das ist ein bißchen gelogen, aber für einen so guten Zweck schadet es nichts. Es erspart ihm die Beschämung. Nicht wahr, du versprichst mir das? – Der Kapellmeister seufzte tief, erhob sich und starrte vor sich hin. – Ich verspreche nichts, sagte er dann, ich muß nach Haus, mit mir allein sein und dies alles überdenken. – So? Dann gehe ich noch ein Stückchen mit, antwortete sie und zog ihre Handschuh an. – Was wird nun? dachte er, irgend etwas muß geschehn. Bitte, begleite mich nicht! wandte er sich an sie, ich kann jetzt nicht mit dir gehn! Leb wohl! – Sie sah ihn noch einen Moment halb unsicher an, dann klopfte sie ihm mit ihrer glänzend behandschuhten Rechten ein paarmal aufmunternd-klapsend gegen die Backe, während er ihr unwillig auswich, und ließ ihn gehn.

Der Kapellmeister saß zu Haus auf seinem Sofa. – Ich muß mich von ihr trennen! murmelte er endlich; o Gott, wenn doch dieses nicht geschehen wäre! Es war ja gar nicht nötig, es hätte doch alles ruhig weiter fortgehen können wie bisher! Seine Gedanken gingen zu Enzio. Der erschien ihm auf einmal wie ein anderer Mensch, in einem ganz andern Licht, als er ihn bisher gesehen hatte. Enzio – mein Nebenbuhler, mein glücklicher Nebenbuhler, wenn sie nicht aus Dummheit geschwatzt hätte! Plötzlich erfaßte ihn eine große Wut und zugleich, eine moralische Entrüstung: Fast die Geliebte meines Sohnes geworden – pfui Teufel! Sie hat mich oft betrogen, aber dieses geht zu weit! Jetzt mach ich Schluß. Er erhob sich und schritt hinüber in das Zimmer seiner Frau.

Caecilie, sagte er mit Feierlichkeit, die Vergangenheit ist beendet, ich gehöre nur noch dir und Enzio! – Sie blickte ihn groß an und verstand ihn nicht. – Denk dir die Schlechtigkeit von dieser Frau! begann er, und dann erzählte er von Anfang bis zu Ende, was er wußte.

Caecilie erblaßte, wie sie Enzios Namen hörte und alles, was mit ihm verknüpft war, dann sagte sie: Ich werde mit ihm sprechen, es ist alles anders, als du sagst, oder als man dir gesagt hat, ich höre zweierlei aus deinen Worten, es muß anders sein, Enzio ist mein Kind und ich habe ihn – sie vollendete nicht, ihre Worte tranken an sich selbst, sie drückte ihre Hand ans Herz und schluchzte: Ach Enzio, Enzio!

Er ließ sie sich ausweinen, dann sagte er: Das ist nun alles nicht zu ändern und auch vorläufig nicht das nächste. Das nächste betrifft mich selbst und dich. Ich wiederhole dir: Nun ist die Vergangenheit tot! Alles lasse ich mir nicht gefallen! – Sie schien die Worte nicht zu hören. – Macht dir das denn keinen Eindruck, Caecilie? – Sie sah ihn halb abwesend, halb fragend an: Was meinst du? sagte sie. – Das, was dein Glück und mein Glück enthält! Die Vergangenheit, so sagte ich, ist tot! Hörst du mich nicht, Caecilie? – Sie hob den Kopf, sah ihm in die Augen und fragte langsam: was geht mich das an? – Er blickte ratlos und bestürzt auf sie. – Ich glaube doch, sagte er mit einem schüchternen Anlauf, daß dich das sehr viel angeht! – Sie schüttelte langsam den Kopf. – Nicht? Wieso nicht? – Da traf ihn ein langer Blick. – Laß alles wie es ist, sagte sie nach einem Schweigen. – Caecilie, ich verstehe dich nicht! – Und ich verstehe dich um so besser, besser, als du dich selbst. – Er begann zu ahnen, was sie meine, aber ganz begriff er es noch nicht. – Soll ich dir danken...? fragte sie. – Er erhob sich, trat auf ihren Sessel zu, setzte sich auf den breiten Rand und schlang den Arm um sie; sie ließ es geschehn. – Caecilie, was für eine kalte, schreckliche Sprache führst du! Ich komme dir entgegen, ich reiche dir die Hand – – – Begreifst du immer noch nicht, was ich meine? unterbrach sie ihn staunend. – Er sagte weder ja noch nein und wartete, daß sie weiterreden solle. – Laß uns ganz ruhig miteinander sprechen, sagte sie und faßte seine Hand, ließ sie aber gleich wieder frei: Sieh, was du jetzt tun willst, hat keinen Sinn! Ich habe jahrelang gelitten, und du ließest mich leiden. Bildest du dir jetzt ein, du brächtest mir ein Opfer? Was du tun willst, geschieht aus gekränktem Selbstgefühl, ich spiele dabei auch nicht einmal eine Nebenrolle; ich komme – wenn du überhaupt in dieser Sache beiläufig an mich denkst – gut weg dabei, das ist alles. – Was für Worte, was für Worte! preßte er hervor. – Einfache Worte, die die Dinge bei ihrem rechten Namen nennen. In dir wallt ein ganz natürliches Gefühl empor. Es wird zurückgehn. Morgen bereust du, was du heute versprichst, denn alles steht auf schwachen Füßen. – Statt einer Antwort suchte er sie zu umschlingen, aber es fehlte seiner Bewegung die Aufrichtigkeit und das unmittelbare Gefühl. – Ich habe mich an unsern Zustand gewöhnt, fuhr sie fort, indem sie ihn leise abzuwehren suchte, und ich vermisse kaum mehr etwas dabei. Alles, was ich noch an Liebe habe, gehört meinem Sohn. Das ist langsam durch die Verhältnisse gekommen, und ich weiß zu genau: Wenn du jetzt eine Änderung herbeiführen willst in bezug auf dich und mich, so ist sie nicht von Dauer. Darum versprich nichts, beschließe nichts, mir wäre nur zumute wie einem Kranken, der einmal auf die andre Seite gelegt wird, bis sich sein Körper von neuem durchliegt. Es hat keinen Zweck, ich kenne dich zu genau, weshalb willst du dir die Mühe machen, jetzt noch deine Neigung zu wechseln, auf eine Dritte zu übertragen! – Du redest fast brutal, Caecilie, ich verstehe dich nicht: Du als Frau – – – Sie lächelte bitter: Einmal wird uns vorgeworfen, daß wir zu wenig männlich denken, und das andere Mal, wenn wir klar sehn, und sprechen wie ein Mann, dann heißt es: Wir sind zu wenig weiblich.

Draußen klang die Tür und schloß sich wieder. Schnelle, gedämpfte Schritte gingen durch den Korridor. Das ist Enzio! dachten beide und warteten mit Anspannung aller Nerven, ob sich die Schritte nähern würden, ob die Tür im nächsten Augenblick sich öffnete.

Ich habe keine Ahnung, was Enzio tun wird! sagte der Kapellmeister; jedenfalls: wenn er dich oder mich nach etwas fragt, so haben wir die heilige Pflicht, unserm Kind gegenüber alles abzuleugnen.

Nein, sagte sie, wenn Enzio mich fragt, so sage ich die volle Wahrheit! Nun ist es zu spät. Ich habe zuviel Respekt vor seiner erwachsenen Seele, um ihn jetzt noch zu belügen. Er ist in das Geheimnis gedrungen, das wohl nur ihm noch ein Geheimnis war, von heute ab muß alles klar sein zwischen ihm und seinen Eltern! – Aber Caecilie, ich bitte dich: welchen Begriff wird er von seinem Vater bekommen? – Sie fühlte beinah Mitleid mit ihrem Mann, legte ihm die Hände auf den Arm und sagte: Lieber Heinrich, du hattest Jahre Zeit, darüber nachzudenken! Enzio soll und muß klar sehn, das bin ich ihm und mir schuldig – und fürchte nicht, daß ich dir das Herz deines Sohnes entfremden will! Soweit es dir gehört, sollst du es auch behalten.

Er zog ihre beiden Hände an seine Lippen, nachdem er ihr noch ratlos ins Gesicht gesehn, dann ging er hinaus.

Erwartet sie nun eigentlich, daß ich dies Verhältnis abbreche, oder erwartet sie es nicht? dachte er. Und nach einer kurzen weitern Überlegung: Ich kann nicht anders, ich muß es tun!

Caecilie klopfte an Enzios Tür. – Wer ist da? fragte er. – Ich bin es, Enzio. – Ich arbeite. – Laß mich ein. – Ich kann nicht. – Sie zögerte einen Moment, dann wiederholte sie ihre Worte, mit einem Ton, daß er langsam, widerwillig auf die Tür zuging und öffnete.

Beide standen sich in der Dämmerung gegenüber. In ihm wühlte und arbeitete es, er suchte sich zu bezwingen, dann sank er ihr weinend in die Arme.

Ein langes Schweigen herrschte. Immer wieder streichelte und küßte er ihr Haar. Nun, fragte sie endlich, ruhig und gefaßt, was ist geschehn, Enzio? Und ihre Worte waren gar keine Frage, er begriff in seinem Schmerz, daß sie alles wisse und wunderte sich nicht darüber. Es war, als sei es selbstverständlich. Sie schwieg. Dann sagte sie: Ein jeder Mensch hat irgend etwas Schweres zu tragen in seinem Leben. Kein Mensch ist glücklich, dein Vater auch nicht. – Er sagte ein selbstvergessnes Wort, sie drückte heftig seine Schulter und sprach: Vergiß nicht, Enzio, daß es dein Vater ist, von dem du redest, und daß ich dabei bin, seine Frau und deine Mutter, wenn wir hierüber miteinander sprechen, so muß es ruhig geschehn, oder nicht. Komm, laß uns niedersitzen und gib mir deine Hand. – Dann sprach sie lange und langsam, und als sie endete, war die Dunkelheit hereingebrochen. Alle ihre Worte hatten nicht vermocht, ihm seinen Vater wieder nah zu rücken, ihn verstehen zu lassen, daß dieses eine traurige und unabwendbare Notwendigkeit gewesen sei. Er konnte das nicht fühlen und empfand nur immer deutlicher die Selbstentsagung seiner Mutter und ihren Wunsch zu schonen. Und es ging doch alles weiter, es war doch nicht beendet, es zog sich doch durch Gegenwart und Zukunft! Es schwebte ihr auf den Lippen, ihm zu sagen, daß sein Vater entschlossen sei, mit dieser Leidenschaft zu brechen, sie sprach den Satz bereits halb aus, aber sie stockte wieder, denn sie glaubte nicht daran. Enzio verstand sie und zog sie fester an sich, und in der engen, liebevollen Berührung schmolz ihr Gram und sie dachte: Muß ich nicht glücklich sein, daß ich ganz meinem Kind gehöre und daß es mir gehört? Jetzt sind wir noch enger verbunden als zuvor.

Enzio hatte sich die Augen getrocknet und starrte in das Dunkel. – Mir ist, als müßte ich nun immer bei dir bleiben! sagte er – aber ich muß fort, ich kann hier nicht mehr leben! Ich will gleich fort, je eher ich gehe, desto besser ist es für uns alle. Ich will Papa nicht wiedersehn, ich kann morgen früh abreisen, heute abend meine Koffer packen, du mußt es verstehn, daß ich hier nicht bleiben kann. – Er redete wie in einem leisen Fieber. – Und dann schäme ich mich auch vor ihm, ich kann ihm nicht mehr unter die Augen treten. – Caecilie gingen seine Worte kalt zu Herzen. Aber sie bezwang sich und dachte: Besser, ich gehe jetzt auf alles scheinbar ein, er darf nicht fort, ich kann ihn jetzt nicht lassen, er sieht alles ungeheuerlich vergrößert, es mag eine Nacht vergehn, morgen wird er anders denken. – So sprach sie: Ob du bei uns bleibst oder ob du gehst, ist deine Sache, und niemand soll dich hindern. Aber jetzt bist du in einer Verfassung, wo es dir unmöglich ist, klar zu beschließen. Ich begreife, daß es dir schrecklich scheint, deinem Vater unter die Augen zu treten, aber es muß sein. Er weiß alles, und es ist notwendig, daß ihr darüber redet. – Er weiß alles? wiederholte Enzio und hob den Kopf im Dunkel. – Jetzt erst versuchte er seine Gedanken in die Wirklichkeit zu sammeln und mit dem Verstand über diese ganze Wirrnis hinzugehn. Aber sein Geist war müde und überreizt. – Wie ist das möglich? fragte er – – und du selbst: Es ist mir jetzt unfaßlich, daß du zu mir hereinkamst und schon alles wußtest, was ich sagen wollte! Bist du hellseherisch? Seid ihr beide hellseherisch? – Seine Augen suchten groß durch das Dunkel ihre Augen zu erkennen, und die Stille des Abends klang in seinen Ohren. Er wartete wie auf ein Wunder. Sie erzählte ihm alles und er sank in ihren Arm zurück. Dann sprach er: Nun will ich dir auch sagen, wie es im Park gewesen ist. Dann redete er, langsam und traumhaft, nur jene Worte, die ihn alles hatten erraten lassen, wiederholte er nicht. Er brachte sie nicht über seine Lippen.

Draußen auf dem Vorplatz klangen Schritte. Er erhob sich leise, verriegelte die Tür und ging zu seiner Mutter zurück. – Enzio, bist du da? fragte die Stimme des Kapellmeisters. – Er antwortete nicht. Sein Vater suchte die Tür zu öffnen. – Caecilie, bist du mit ihm darinnen? – Dann hörten sie, wie sich sein Schritt wieder entfernte.

Lange saßen sie, ohne ein Wort zu sprechen, bis Enzio leise sagte: Erzähle mir noch etwas Schönes, aus meiner Kindheit. Sie dachte nach, dann sprach sie von seinen frühesten Jahren, er schmiegte sich eng an sie und hörte zu, sie ging in eine noch fernere Zeit zurück, in jene Zeit, wo er noch nicht geboren war, wo sie ihn erwartete, er hielt ihre Hand gefaßt und küßte sie zuweilen leise, dann klang ihm ihre Stimme immer ferner. Ich glaube, sagte er endlich, ich bin todmüde, wir müssen schlafen. Aber beide rührten sich nicht. Die Gedanken begannen in ihm durcheinander zu rinnen, dann fühlte er, wie seine Mutter sich leise erhob. Ich bin zu müde, um mich noch zu entkleiden, sagte er, ich lege mich nieder, so wie ich bin. – Nein, Enzio, komm, ich helfe dir. – wie sie zu tun pflegte, als er ein kleines Kind war, nahm sie ihm seine Kleidung Stück für Stück vom Leib, bis er in der Finsternis groß und nackend vor ihr stand, darauf half sie ihm sein Nachtgewand anlegen, ließ ihn in sein Bett steigen, und dann lag ihr Gesicht auf seiner Brust, bis er entschlummert war.


Am nächsten Morgen – es war ein Sonntag – erschien er erst spät zum Frühstück. Nur der Kapellmeister saß noch am Tisch, und Enzio bemerkte, daß er eine Zigarre rauchte, wie er hereinkam, hob sein Vater den Kopf, warf einen kurzen, scheuen Blick auf ihn und erwiderte so einsilbig den Morgengruß, wie er gegeben war. Dann saßen sie sich gegenüber; keiner redete. Enzio bereitete still sein Frühstück, der Kapellmeister sah stumm zu und reichte ihm den Honig über den Tisch herüber, wie er zu bemerken glaubte, daß er ihn haben wolle. Mehrmals versuchte er zu einer Anrede einzusetzen, aber jedesmal hielt er wieder inne, ehe noch das erste Wort heraus war. Er heftete wie magnetisch angezogen den Blick auf Enzio, wenn der sich zu seinem Frühstück niederbeugte, und sah fort, wenn er den Kopf hob. Einmal begegneten sich ihre Blicke für einen kurzen Moment, wie wenn ihre Kräfte oder ihre Schwächen im Gleichgewichte zueinander ruhten.

Der Kapellmeister gab sich einen gewaltsamen, innern Antrieb. Es mußte sein.

Er räusperte sich ein paarmal, wie sollte er anfangen, ohne seiner väterlichen würde allzuviel zu vergeben?

Hast du mir nichts zu sagen, Enzio? begann er.

Enzio hielt mit Kauen und Schlucken an, das ihm sowieso schon schwer genug ward, wieder waren sich ihre Augen begegnet, und dieses Mal vermochte ihn der Kapellmeister so anzublicken, daß Enzio zur Seite sah. – Es ist sehr traurig, fuhr er fort, daß wir uns gegenübersitzen wie zwei fremde Menschen, und noch viel trauriger, wenn ich bedenke, weshalb. Zwischen dir und mir stehen Dinge, wie sie nicht zwischen einem Sohn und einem Vater stehen dürfen. – Enzio schwieg. Der Kapellmeister hatte schon gehofft, es werde vielleicht mit diesen Worten genug sein, und es würde ihm erspart bleiben, eine Erklärung bezüglich seiner selber abzugeben. Aber Enzio blickte ihn an, als erwarte er, er solle weiterreden. So gab er sich denn abermals einen Antrieb und fuhr fort: Es ist wohl nicht nötig, daß ich es ausspreche: Seit dem Vorfall von gestern ist die Vergangenheit vergangen; ja, ganz wahrhaftig! Gefühl und Verstand lassen mir keinen andern Ausweg. Aber du selbst, Enzio, hast du mir nichts zu sagen.? – Enzio hatte noch immer seinen Bissen im Mund; er würgte, bis er ihn verschluckt hatte, dann schwieg er weiter, und endlich fragte er: was soll ich sagen? – Das wußte sein Vater im Grunde auch nicht, denn es war nichts geschehn, weswegen er ihn etwa hätte um Verzeihung bitten müssen, wie er es unklar von ihm wünschte.

Dieser ganze Auftritt war peinlich für den einen wie für den andern. Daß Enzio sich schämte, las er in seinem Blick, und ihm selber waren seine paar Sätze schon schwer genug geworden. Plötzlich schlug er einen leichteren Ton an; das war das beste Mittel, um ihnen beiden zu helfen. – Laß uns dies dumme Zeug vergessen! sagte er, und sah ihn an wie jemand seinen Kameraden etwa, mit dem er ein Spiel gemacht hat, bei dem betrogen wurde, ohne daß er recht sagen kann, wer eigentlich betrogen hat, so daß er sich entschließt, die Karten durcheinander zu werfen mit dem Vorschlag: Fangen wir ein besseres Spiel an. – Ich will nicht mehr mit dir davon reden, fuhr er fort, wir haben beide Fehler gemacht, alles ist vergessen, nicht wahr, Enzio? Er streckte ihm die Hand über den Tisch hinüber, Enzio ergriff sie, und ihm war mit einemmal viel leichter ums Herz. – Ich mache dir, wenn ich es recht überlege, keinen Vorwurf! sagte sein Vater von neuem, du konntest das ja alles nicht wissen und schlägst nun einmal schon ein bißchen über die Stränge. Schlag nur nicht zu viel über die Stränge – nun, das wirst du wohl schon von selber nicht. –

Etwas anders hatte sich Enzio diese Unterhaltung in ihrem ganzen Verlaufe vorgestellt. Aber jetzt dachte er: Papa hat im Grund ganz recht! So ist es viel bequemer, für ihn und für mich. Und er heftete einen freieren Blick auf seinen Vater.



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