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Nach dieser ersten und einzigen Unterredung war Caecilie wie umgewandelt, von einer Heiterkeit und Unternehmungslust, wie er sie nur in früheren Jahren an ihr kannte. Sie hatte eine Masse Geld mitgebracht, zu dem festgesetzten Zweck, es alles auszugeben für schöne Dinge und Vergnügungen. Sie wollte Ausstellungen, Konzerte, Theater besuchen, und Enzio mußte bei allem dabei sein. Mit Bienle zusammen sahen sie ein Lustspiel, das sie nicht kannten, und über das viel geredet wurde. Am Schluß des Stückes empfing die Heldin zum Kaffee ihre drei vergangnen Männer, von denen sie sich im Lauf der vorhergehenden Akte hatte scheiden lassen. Bienle saß still dabei, und als Caecilie sie später fragte, wie es ihr gefallen habe, antwortete sie erst nicht, da sie sie zu kränken glaubte, wenn sie »gar nicht« sagte, weil sie doch von ihr eingeladen war. Aber dann sprach sie schließlich doch: Wenn von den Männern wenigstens nur geredet würde, – aber daß sie da alle zusammen gesehn werden von dem Publikum – ich habe mich so geschämt und gedacht: Das muß doch auch der Frau selber schrecklich sein! – Hierauf bekam sie von Caecilie einen Kuß, und Enzio wurde dunkelrot vor Freude.

An einem der letzten Tage suchte Caecilie seinen Kompositionslehrer auf, um aus der nächsten Quelle zu erfahren, was man von ihrem Sohn halte und wie er arbeite. Sie sah einen großen, untersetzten Mann mit klugen und doch kindlichen blauen Augen und einer festgewölbten Glatze. Als er hörte, wer sie sei, ging sofort ein warmes Lächeln über seine Züge, und er sagte: Der Enzio, ja, der Enzio! Dann fuhr er fort: Es ist nicht so leicht mit dem, das können Sie mir glauben! Talent hat er, aber er bildet sich schon ein bißchen zu viel drauf, ein. Es hat manchen Schweiß gekostet, bis ich ihn einigermaßen zahm gekriegt habe! Jetzt arbeitet er gut und tüchtig. Letzthin hat er mir ein Quartett gemacht – aller Achtung wert! Das kann sich ruhig in jedem modernen Konzertprogramm sehen lassen. – So etwas wollte Caecilie eigentlich nicht hören: von diesem Quartett, fing sie an, hält mein Sohn gar nichts... Ich weiß schon, ich weiß schon! unterbrach sie der Professor, das schadet aber nichts was da so in den jungen Seelen sprudelt und gärt, das können sie noch nicht in eine feste Form gießen. Jede »Aufgabe« betrachten sie zunächst mit hochmütigem Blick und halten sich für viel zu gut, das, was in ihnen nach Ausdruck ringt, hineinzulegen, warum? Weil sie's noch nicht können! Uns halten sie dafür heimlich für Idioten. – Enzio spricht und schreibt aber stets mit Hochachtung und Wärme von Ihnen! Der Professor sah sie mit hellen, klugen Augen an, dann beugte er sich vor, legte seine Hand auf ihren Arm und sagte lächelnd und gedämpft: Ganz geheim hält er mich aber doch für einen Idioten! Ich nehme ihm das durchaus nicht übel, wenn er dafür nur tut, was ich verlange. Er will immer Sachen schreiben, die er noch nicht kann! Und was kommt dabei heraus? Dinge, in denen manches als Material brillant ist, aber die als Ganzes Unsinn sind, fassen Sie ihn nur hier bei mir; wenn er so fortfährt wie jetzt, langsam, solide und handwerklich weiterzuarbeiten, so ist mir um das übrige nicht angst. Er wird einmal ein tüchtiger Kerl, wenn er bei der Stange bleibt, und außerdem ist er, und das sage ich Ihnen als Mutter ganz besonders, ein lieber, reizender Mensch, mit dem es mir Freude macht, zu arbeiten! Caecilie war es warm ums Herz geworden, und zugleich spürte sie eine große Erleichterung. Dieser Besuch war der zweite Hauptgrund ihrer Reise gewesen. – Sagen Sie ihm nicht, bat sie beim Abschied, daß ich bei Ihnen war; vielleicht würde es ihn freuen, vielleicht aber auch verstimmen, denn junge Leute haben ihren ganz privaten und sonderbaren Stolz. – Ich werde mich hüten! lachte der Professor, der »vernichtende Blick«, den kennt man schon an ihm.

Caecilie blieb auf ihrem Rückweg vor mehreren Juwelierläden stehn. Wenn man doch könnte, wie man wollte! dachte sie; wie gern schenkte ich ihr zum Abschied irgend etwas Schönes! So eine Saphirbrosche zum Beispiel. Wie blau und leuchtend müßten dazu ihre Augen aussehn! Oder ein schönes Kleid, am liebsten gleich eine ganze kleine Ausstattung – aber das darf ich nicht, diesen Eltern gegenüber, weshalb kann man nicht so frei handeln, wie einen das Herz treibt! Sie sprach zu, Enzio davon, der sofort begeistert sagte, alles gehe herrlich, ihr Vater gäbe auf nichts mehr acht, das Bienle habe ihm erzählt, er nenne ihn jetzt einen »anständigen jungen Mann, auf den man sich verlassen könne«! – Wieso? fragte Caecilie. – Gott weiß! Vielleicht, weil wir nun so lange zusammen sind und das Bienle immer noch vergnügt und heil ist. – Und das, sagte Caecilie ernst, muß sie auch bleiben, denn sonst – – das wäre schrecklich. Enzio war leise errötet, dann zog er seiner Mutter Hand zu sich empor und küßte sie langsam und voll Zartheit. Nach einer Pause fragte er wieder nach dem Geschenk. Caecilie war unschlüssig. – Nein, ich will es doch nicht, sagte sie endlich, irgendein Gefühl spricht in mir dagegen. Aber wie sie dem Bienle Adieu sagte, sprach ein andres Gefühl dafür: Sie löste eine schöne Spange von ihrer Brust und schenkte sie ihr mit einer graden und herzlichen Bewegung.

Das ist dieselbe Spange, sagte Enzio später, die ich dir einmal als Junge heimlich fortgenommen habe, um sie Irene zu schenken, wie ich sie noch nicht kannte. – Und jetzt freust du dich, daß Bienle sie bekommen hat? – Natürlich! sprach er mit voller, überzeugter Stimme.

Nun haben wir kaum über dich selber gesprochen! sagte er, wie er sie zum Bahnhof begleitete. Caecilie hatte grade das gleiche gedacht. Das ist auch nicht nötig, meinte sie nach einer kleinen Pause, die junge Generation ist wichtiger. Aber gut geht's mir, Enzio, und noch mehr, seit ich dich gesehen und gesprochen habe. – Dann stand sie am Wagenfenster, bis der Zug abfuhr. – Soll ich Irene grüßen? – Natürlich, wenn du willst! Geht es ihr gut? – Caecilie sah ihn mit einem sinnenden Blick an. Was soll ich Richard sagen? – O, Richard, dem habe ich lange nicht geschrieben! – Du vernachlässigst uns alle jetzt ein wenig. Aber arbeite nur tüchtig, dein Professor sagt, daß er zufrieden mit dir ist. – Die Abfahrtspfeife ertönte. – Was?? rief Enzio, du warst bei ihm? Ich bin doch kein Junge mehr, dessen Mutter zum Lehrer geht! – Der Zug setzte sich in Bewegung; Caecilie lachte hell auf, wie sie sein beleidigtes Gesicht sah: Freu dich, Enzio, daß du eine Mutter hast, die sich noch um dich kümmert, wie? – Ja! rief er hinterdrein, und ich danke dir für alles!


Draußen, am See, erwartete ihn Bienle. wie er herankam, straffte sie die Brust mit beiden Händen etwas empor und sah ihn strahlend an: Sie trug die Spange seiner Mutter. Der späte Nachmittaghimmel war wolkenlos und klar; friedlich still ruhte das blaue Wasser. Sie stiegen in einen Kahn, das Bienle ruderte, er selber saß am Steuer. Und schließlich machte sie ein Spiel: Er mußte die Augen ganz fest schließen, so lange wie sie wollte, und wenn sie dann endlich mit Rudern aufhörte, mußte er raten, wo er sei.


So lebte Enzio dahin, und diese Jahre waren die glücklichsten seines Lebens. Mehrmals kehrte er in den Ferien heim, aber nie auf lange. Es trieb ihn bald zurück. Irene sah er in diesen Zeiten nicht; ihr Vater hatte ein Besitztum in Italien gekauft, wo er nun mit seiner Familie die Hälfte des Jahres zuzubringen pflegte.

Jetzt kam Enzio zum erstenmal für mehrere Monate nach Haus, Caecilie hatte ihn darum gebeten.

Als Ergebnis der letzten Zeit legte er seinem Vater ein Trio vor, das bei einer Konservatoriumskonkurrenz den ersten Preis davongetragen und an einem Schülerabend aufgeführt worden war. Heimlich beneidete ihn der Kapellmeister um dieses Werk. Er sagte aber nur einige duldsame Worte, die Enzio zu neuem Schaffen aufmuntern sollten und wie von einer höhern Warte aus gesprochen waren. Darauf spielte Enzio es Richard vor. Dem hatte er im Lauf der Zeit manches Werk von sich geschickt, ohne daß es ihm gelungen war, je seine volle Anerkennung zu finden. Immer wieder hatte Richard ihm klar gemacht, daß man heutzutage keine klassischen Symphonien und Quartette mehr schreiben könne, wenn man dazu nicht das innere Erlebnis habe, und sich dadurch in Gegensatz zu Enzios Lehrern gestellt, die eben dieses von ihm wollten. Das hatte die Wirkung, daß Enzio in eine Periode kam, wo er begabte, zerfahrene, unsinnige Werke schickte, in denen er sein ganzes Wesen auszudrücken glaubte. Dann kamen wieder Briefe von Richard, in denen er ihm die Notwendigkeit und Wichtigkeit einer wirklichen Form, die aus rein musikalischen Mittel entsteht, auseinandersetzte Diese Forderungen schienen Enzio wieder identisch zu sein mit denen seiner Lehrer, und so kam er abermals in ein Fahrwasser, das dem früheren verwandt war. Jetzt schrieb er akademische, korrekte Musik, wobei er sich aber innerlich auch nicht sehr wohl fühlte. – Nun, wie findest du das? fragte er, als Richard ihm sein Trio zurückgab, und sah ihn schon von vornherein nervös gespannt an. – Besser als deine andern Sachen! sagte Richard, der diesen Blick bemerkte und ihn nicht entmutigen wollte. Diese scheinbare Zustimmung machte Enzio sofort Mut zu einer Opposition gegen sich selbst: Ich nicht! sagte er; mögen auch meine früheren Sachen so zerfahren sein, wie sie wollen, so scheint mir doch, es war mehr Persönlichkeit darin als in diesen letzten Dingen. – Das war der Anfang zu einem langen Gespräch, in das sich Richard widerwillig hineinziehen ließ. Und am Schluß stand Enzio wieder vor der Frage: wie soll ich nun eigentlich schreiben? – Du bist so versessen auf »Form«, meinte er, und wenn ich dann ganz formenvoll schreibe, dann ist es auch wieder nicht recht, das fühle ich selbst. Ich glaube, es ist in unserer Zeit unmöglich, moderne Musik noch in dem, was man »Form« nennt, auszudrücken. Sieh dir doch die Musik an, wie sie sich entwickelt hat! Wir leben nun einmal in einer andern Zeit und können nicht dagegen anschwimmen. Dann kommen solche Dinge heraus, wie ich sie geschrieben habe, Dinge, die weder – noch sind! – Sie können aber »sowohl« als »auch« sein! warf Richard ein. – Aber nenne mir einen einzigen modernen Musiker, bei dem es so ist! Brahms und Bruckner nehme ich natürlich aus, und, wenn ich noch weiter zurückgehen soll, auch Schumann, und was vor ihm kommt, noch mehr. – Da hast du grade die drei allerbesten herausgegriffen, sagte Richard, und du hast auch recht, denn was die geschrieben haben, das steht himmelhoch über allem, was heutzutage gemacht wird; aber vollendet – setzte er nachdenklich hinzu, – vollendet, das heißt: im vollen Einklang von Form und Inhalt – sind ihre rein instrumentalen Werke auch nicht. Reine Instrumentalisten im Sinne Beethovens waren sie nicht. – warum fängst du nur immer wieder von Beethoven an! Gewiß, er war wohl der größte von allen, aber wo soll denn das hinaus, wenn wir niemals Beethoven überwinden! Der hat vor hundert Jahren gelebt! Seine Kunst ist wahrscheinlich ebenso begrenzt und bedingt von seiner Zeit, wie es die Mozartsche war, und von Mozart hast du mir einmal gesagt oder geschrieben, du ließest deine Finger von ihm, er könnte dir nichts geben, was deine eigne Kunst förderte. Was heißt denn das »im Sinne Beethovens«? – Was das heißt? Das heißt: im ewigen Sinn der Kunst! Die Wege, die uns Beethoven gewiesen hat, sind nicht relativ richtig, sondern absolut. – Aber wo käme man denn hin, wenn nun jeder wie Beethoven schreiben wollte?! – Habe ich denn das gesagt? Was ich meine, ist nur dieses: Die Musik, und besonders die reine Instrumentalmusik, kann, was man heutzutage auch dagegen sagen mag, ohne gewisse Gesetze nicht auskommen. Alle großen Meister haben sich ihnen mehr oder weniger unterworfen und sie anerkannt; denn sie stammen aus dem innersten Wesen der Musik selbst. Sie sind nicht persönlich, und wenn Beethoven sie mehr als irgendein andrer erkannt und erlebt hat, so hat er sie doch nicht für sich usurpiert; sie sind freies Gut für jeden freien Künstler. Schubert hat durchaus nicht beethovenisch geschrieben, und doch liegt seinen Werken dieselbe unmeßbare tiefe Wahrheit zugrunde, die Wahrheit, die wirklich aus der Natur der Dinge, aus der Natur der Musik stammt, durch menschliche Willkür nicht verzerrt. Diese Wahrheit, dies Gesetz ist, wenn man will, im Grund immer dasselbe; oder auch es ist ein jedesmal neu, denn es muß ein jedesmal neu erschaut und neu erlebt werden; der Künstler darf es nicht wissen, nicht wollen, er darf das allgemeine Gesetz nicht denken, er muß es jedesmal neu aus dem Gegenstand heraus entwickeln und erleben. Dieses jedesmal Neue des Gegenstands, dies Einmalige, Einzige, das in den zufällig ergriffenen, zu den Grundpfeilern des ganzen Satzes gemachten Themen und Motiven liegt, ist das, was die bildenden Künste »Natur« nennen; das, was dem Gesetz ewig widerstrebt, und durch das es doch einzig nur möglich ist, das Gesetz lebendig und wirksam zu machen. Es ist etwas Reales, Einfaches, etwas wie Härte und Festigkeit und Unerbittlichkeit, was von der Glut und der Liebe des Künstlers geschmolzen werden muß, das Ordnungslose, Unergründliche, das tief drunten in der Seele liegt und verlangt zurechtgerückt zu werden. Ich will versuchen, mich klarer auszudrücken: Das, was die künstlerische Produktion zu dem macht, was sie ist, und jedes große Kunstwerk zu einer Heldentat, ist der Kampf. Der Kampf, nichts anders ist die künstlerische Produktion. Der Künstler ist gemischt aus aktiven und passiven Eigenschaften, es ist, als ob zwei Mächte in seiner Brust wären. Schon mit den ersten Tönen, dem ersten Motiv, das der Musiker findet, beginnt der Kampf; er ist nun nicht mehr eines, sondern zweier Herren Diener, denn er darf jetzt nicht nur seinen eignen, er muß auch den Willen des schon Geschaffenen erfüllen. Es ist, als ob alle musikalischen Motive und Erfindungen ihre eignen Gesetze hätten, ein jedes will auf seine nur ihm eigne Weise ans Licht gelangen, sich ausbreiten, ausleben. Ein jedes hat seinen eignen Willen, seine eigne Stimme. Diese Stimme zu erkennen, sie zu hören, ihr zu folgen ist Sache des Künstlers. Grade bei den größten Kunstwerken sehn wir es am deutlichsten: Es ist wirklich, als ob sie nicht von Menschenhand gemacht wären, als ob die Dinge, die sie aussprechen, gleichsam sich selbst aussprechen, sich selbst von sich aus, grade als ob sie lebendig wären. Es ist wie ein Baum, der durch sich selber wächst. Man kann nichts tun als ihn begießen und ihn wachsen, sich ausbreiten lassen, als ein lebendiges Wesen, das nun fortan aus eigner Machtvollkommenheit lebt. Freilich verlangt dies – auf die Kunst angewendet – vom Künstler eine Selbstverleugnung, eine Bescheidenheit und Demut sich selbst gegenüber, von der die wenigsten – zumal heute – etwas wissen. Aber es stammt daraus auch eine Beglückung und Beseeligung, von der auch nur die wenigsten wissen – eine Beseeligung, die uns fähig macht, alle Verachtung und allen Spott der Welt, alle ihre ungerechten Ansprüche und Forderungen abzulehnen und zu ertragen, und trotz der furchtbarsten Einsamkeit glücklich zu sein. Von einem solchen Künstler kann man wirklich sagen, daß seine Kunst Religion ist.

Richard schwieg, Enzio blickte vor sich hin und ließ Richards Worte in sich nachklingen.

Alles, was ich sagte, sprach Richard nach einer Weile weiter, gilt in vollstem Maß für Beethoven, und nach ihm, von den Späteren, auch für Schubert. Nach Beethoven ist er der einzige, dessen große Kunst, wenn du den Ausdruck richtig auffassen willst, rein gottesdienstlich war. Was er uns in seiner Instrumentalmusik hinterlassen hat, ist ungeheuer. Ich bedaure, daß nicht bloß diese auf die Nachwelt gekommen ist; dann hätten wir ein noch größeres, ungetrübteres Bild von ihm als so, wo all die kleineren, unwichtigen Zutaten seiner Lyrik vorhanden sind, die bei seiner Schätzung heute die Hauptrolle spielen. Ich setze aber gleich hinzu: Auch darunter sind noch viele ganz und gar vollendete Dinge, und wir dürfen froh sein, daß wir sie besitzen. Aber bei Schubert mache ich Halt. Was nach ihm kommt, sind schon Vorboten der allgemeinen Auflösung, in der wir heute mitten drinstehn. Schumann nanntest du vorhin: Seine Kunst schrumpft zusammen, wird zum geistreichen Aperçu. Sicher haben Schumann und Brahms in gewissem Sinn immer noch eine Form; aber das, was sie zu sagen hatten, ist ihr nicht auf eine ganz natürliche Weise angepaßt. Sieh dir die besten Sachen von Schumann an: Es sind lauter einzelne Gedanken, wie Perlen aneinandergereiht. Du kannst sofort prüfen, ob diese Behauptung richtig ist: stell dir irgendein Werk von ihm vor, und es werden dir immer Einzelheiten einfallen, nicht aber hast du ein großes Gesamtbild vor dir. Es fehlt die innere Gliederung, obgleich sie äußerlich vorhanden ist. Man kann diesen Mangel sogar oft bis in die einzelnen Themen hinein verfolgen. Mit Brahms ist es eine eigne Sache: dem ist die traditionelle Sonatenform mit ihren Wiederholungen und starren Gesetzen wieder verhängnisvoll geworden, sie hat ihn oft an der ganzen Entfaltung seiner Kräfte gehindert. Daraus entstammt jenes Gefühl, das man beim Anhören seiner großen Werke so oft empfindet: Es ist nicht alles bis zum letzten erschöpft, nicht alles restlos ausgesprochen, es bleibt etwas wie Hunger oder Durst, es ist wie das Rauschen der Zweige über dem Tantalus, dem es nie gelang, die Früchte, die ihm schon dicht vor dem ausgestreckten Arme schwebten, wirklich zu ergreifen, um sein unersättliches Verlangen zu stillen; die Brahmssche Kunst hat etwas Unersättliches, wie eine Woge, die sich stets von neuem aufbäumt, ohne daß der Sturm, der sie geschaffen hat, kraftvoll genug ist, sie bis auf jenen Höhepunkt zu bringen, wo sie ihr Dasein in sich selbst erfüllt, wo sie sich neigt und langsam überbricht in dem voll sich ergießenden Segen ihrer Schwere. Trotzdem ist Brahms, wenn du willst, der einzige in der letzten Zeit, der noch ein Gefühl dafür hatte, was reine Musik sein müsse. Und nun Bruckner! Der ist vielleicht der adligste und tiefste moderne Komponist, aber er hat sich die schon geprägten Wahrheiten Beethovens und auch Wagners zu sehr zu Herzen genommen, ihm ist seine Form, seine Art, sich auszudrücken, niemals ganz natürlich geworden, seine Kunst geht auseinander und zerfällt. Es ist, als könne sie nur im Schatten seiner Vorgänger gedeihn, und nicht aus eigner Lebenssonne heraus. Er hat sich ihr Geistiges angeeignet, aber ohne ihren Körper, so daß es ist, als wenn einer mit dem Kopf in den Wolken geht und mit den Füßen den festen Boden unter sich verliert. Über die ganz Modernen brauche ich kein Wort zu sagen: In unserer Zeit entschuldigt das Gottlose, Unbändige, Übermäßige jeden Mangel. Es braucht nur einer Himmel und Erde stürmen zu wollen, so glaubt man's ihm; ob er es fertig bringt, ist gleichgültig.

Enzio war während dieser letzten Ausführungen ungeduldig im Zimmer auf und ab gegangen, was bedeuten nun – fragte er jetzt – all diese Reden in bezug auf mich? Ich bemühe mich, in den klassischen Formen der Musik zu schreiben, und dann ist es doch wieder nicht recht! – Form ohne inneres Erlebnis gibt es nicht! Du kannst tausend Quartette schreiben nach irgendeiner »Form«, wenn du nicht dazu das Erlebnis hast, wird es nie was Rechtes. Du hast selbst gesagt, deine früheren, ungebundenen Sachen gefielen dir weit besser, sie seien ursprünglicher, origineller: Schaff dir eine neue Form, wenn dir die alte nicht zu Gesicht steht. Bist du ein wirklicher Künstler, dann wirst du auch schon irgendwie den richtigen Ausdruck finden! – Vieles von dem, was du gesagt hast, Richard, war schön und ist mir zu Herzen gegangen, aber du negierst alles und jedes, bis auf ein paar große Ausnahmen, und tust, als ob du selber dagegen ein reifer Künstler wärst. Ich gebe mir Mühe mit dem, was ich schaffe, aber ich bin bescheidener und hüte mich vor großen Worten!

Richard errötete leicht. Hältst du mich für hochmütig? fragte er. – Offen gesagt: Ja, ein wenig. – Das tut mir leid, denn dann sehe ich: Du hast mich nicht verstanden. Der ganze Unterschied zwischen mir und dir ist der: Ich habe eine feste, bestimmte Anschauung von Kunst, und du bist dir nicht klar über die Wege, die du zu gehn hast. – Aber du widersprichst dir ja fortwährend. – Wieso? – Weist auf große Vorbilder hin, denen man nacheifern soll, und wenn es dann einer tat, so sagst du wieder: Dem ist die Form zum Verhängnis geworden, sie hat ihn an der vollen Entfaltung seiner Kräfte gehindert. – Richard seufzte: Nacheifern? Das habe ich nie gesagt. Es gibt Grundgesetze in der Kunst, die nicht dazu da sind, befolgt, sondern erlebt zu, werden. Das können sie nur dann, wenn man dazu berufen ist; das glaube ich zu sein, und wenn du das hochmütig nennst, so ist es eine Übereilung von dir. Ich bin wahrhaftig nicht hochmütig, weder in bezug auf mich noch auf andre. Lebt man aber in einer Zeit wie der unsrigen, so muß man doppelt sorgsam auf sich selbst bedacht sein und sich in eine Stille retten, schon um nicht von dem Lärm gestört zu werden, der uns draußen überall umgibt. Du hast dich selbst noch nicht gefunden, du tastest noch, obgleich du nun ziemlich lange draußen warst. – Ich schreibe jetzt einfach, wie mir's ums Herz ist! sagte Enzio, fast wie eine Drohung. Richard wendete sich lebhaft zu ihm: Anders zu schreiben wäre ja auch töricht! Wenn du wirklich etwas zu sagen hast, wirst du zuverlässig schon die richtige Form dafür finden! Mach doch nicht ein so unglückliches Gesicht! Es ist gar nicht nötig, daß du alles verstehen mußt, was ich sagte, Worte helfen nie ein Werk zutage fördern, alles muß instinktiv in einem selbst vorhanden sein, je naiver, um so besser! Kunstphilosophieren ist eine unfruchtbare Sache, der eine hat Talent dazu, der andre nicht, mit der Kunst selbst hat es nichts zu tun, im Grund ist vielleicht derjenige sogar besser dran, dem es ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Worauf kommt das Ganze nun heraus? dachte Enzio später, als er allein war: Auf das gleiche schließlich, was ich selbst am Ende sagte, nur daß ich es in einem einfachen C-Dur ausdrückte, während er ein kompliziertes His-Dur draus macht, das praktisch genommen dasselbe ist! Aber ich ahne schon: Wenn ich später etwas Neues fertig habe, dann fängt er doch wieder mit seinen alten Geschichten vom »Erlebnis« an; ich werde mich nicht mehr drum kümmern, ich bin reif genug, um selbst meinen Weg zu wissen.

Mir scheint, sagte Caecilie, du bist gegen Richard etwas verstimmt? Er erzählte ihr alles: Ich habe doch nun schon so viel komponiert, und von ihm kennt keiner etwas. Und dabei spricht er so, als könnte er alle Musiker, außer seinem Beethoven etwa, in die Tasche stecken. Aber jetzt schreibe ich etwas Neues, und wenn ihm das dann wieder nicht gefällt, so ist es mir egal. Schließlich gibt es auch noch andre Menschen auf der Welt, und die sind nicht so einseitig verrannt wie er. – Richard ist nicht verrannt, Enzio! – Du glaubst wohl am Ende, daß er mehr erreicht als ich? – Ich hoffe, sagte Caecilie, daß ihr beide gleichviel erreicht und daß eure Freundschaft so schön bestehen bleibt, wie sie bis jetzt gewesen ist. – Du hoffst nicht, daß ich mehr erreiche als er? – Caecilie zögerte: Nein, Enzio, weshalb sollt ihr nicht gleichviel erreichen? – Glaubst du, daß Richards Mutter ebenso denkt wie du? – Das ist mir gleich. Ständest du ihr so nah wie Richard mir, dann müßte sie genau so denken.


Richard übersah Enzios Verstimmung und verscheuchte sie auf diese Weise. Irenes Vater ist ein prachtvoller Mensch! sagte er eines Tages; heute war ich seit langer Zeit wieder einmal bei ihm. Unterhaltungen mit ihm wirken wie ein Stahlbad auf mich. Seine Gesichtspunkte sind immer die tiefsten und zugleich die einfachsten. Auf der Kegelbahn soll er dann das reinste Kind sein. – Kegelst du manchmal? – Ich? nein, ich habe keine Zeit. Aber er hat mich aufgefordert. – Meinst du, daß er mich auch auffordern wird? – weshalb nicht? Aber ich glaube, es würde dir nicht gefallen. Da sind, soviel ich weiß, nur lauter Männer mit Vollbärten, und die sind dir nicht sympathisch. – Entsetzlich! sagte Enzio energisch. Aber – fügte er erstaunt hinzu – ich denke, Irene ist mit ihren Eltern in Italien? – Sie sind diesmal schon vor acht Tagen zurückgekommen. – So? fragte er, schon wieder gleichgültig, Was macht denn Irene? Modelliert sie immer noch? – Du sagst das ja so geringschätzig! – Ach Gott, im Grund ist das doch nichts. Sie sollte sich im Haushalt betätigen, das ist der wirkliche Beruf für ein Mädchen. – Du scheinst kein Interesse mehr für Irene zu haben? – Eigentlich nein! Ich bin doch nun auch so lange von Hause weggewesen. – Willst du sie nicht aufsuchen? – Was denkst du denn?! Natürlich suche ich sie auf! Wir sind doch Freunds! Außerdem weiß ich, wieviel Irene von mir hält!



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