Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eines Abends kam sie noch spät zu ihm; er hatte eine Verabredung mit Teresita und wollte grade die Lampe löschen.

Ich will nur sehn, wie es dir geht! sagte sie. Sie sprach langsamer, weicher als sonst; – hab keine Angst, daß ich dich aufhalten werde. – Dann ließ sie den Blick in seinem Zimmer herumgehn. – Was suchst du? – Sie schüttelte den Kopf. So schön und lieblich glaubte er sie noch niemals gesehn zu haben. Er nahm sie in seine Arme und küßte sie. Sie wehrte leise ab; halb in Schuldbewußtsein ließ er die Arme sinken. Aber ihre Abwehr ließ sie ihm noch schöner, noch begehrenswerter erscheinen, nach einer Weile umfaßte er sie abermals, heftiger, leidenschaftlicher. Bleib! sagte er, ganz gegen seinen Willen. – Sie machte sich hastig los von ihm, mit einer Entschiedenheit, daß er sie verwirrt freigab. Nein, sagte sie und sah ihn an. Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber. – Ich muß jetzt gehn. – Weshalb bist du dann gekommen? – Sie erwiderte hierauf erst nichts, dann sagte sie: ich bin doch auch früher manchmal gekommen, ganz kurz, nur um dich einen Augenblick zu sehn, und du hast mich nicht gefragt, weshalb ich käme. – Ihm schnitten diese Worte durchs Herz. Aber was sollte er darauf antworten? – So gehst du wieder? – Ja. –

Er begleitete sie bis zur Tür.

Sie hob ihr Gesicht ganz zu ihm auf, und wieder sah sie ihn an mit einem Blick, der ihm niederschauerte bis in die Brust.

Leb wohl, Enzio, sagte sie. Dann schlang sie beide Arme um seinen Nacken und küßte inbrünstig seine Lippen. – Hast du mich noch lieb? – Ja, Enzio. Sie sah auf sein Gesicht, als tränke sie seine Züge in sich auf, dann ging sie.

Gott sei Dank, sie liebt mich noch! dachte er. Ach, wenn doch alles wieder so würde, wie es früher war! Dann sah er nach der Uhr: Es war die höchste Zeit, daß er selber ging. Und wenn er diesen Menschen wieder treffen würde ...


Als er am nächsten Morgen aufwachte, war ihm, als habe er eine Maske vor seinem Gesicht. Es schmerzte heftig bei der leisesten Bewegung.

Wenigstens habe ich ihn doch geworfen, diesen Schurken! dachte er und sah das Bild von gestern abend wieder vor sich: Da keuchte der gelbhäutige Spanier unter ihm, und neben der Laterne stand Teresita, die mit langem Hals und neugierig gespannten Augen dem Kampfe zuschaute. – Und ich habe ihr gezeigt, was geschieht, wenn sie es zu toll treibt! Das werde ich ihr heute morgen noch einmal mündlich zu Gemüte führen! Er erhob sich, um sich anzukleiden, prallte aber vor dem Spiegel fast zurück, aus Schreck über seinen Anblick. Seine Nase war unförmig dick, die Augen blutunterlaufen und unkenntlich verschwollen, vor ohnmächtiger Wut kamen ihm fast die Tränen: In diesem Zustand kann ich mich nirgends sehn lassen, nicht einmal die Straße betreten, ich muß mich hier in mein Zimmer verschließen!

Herr meines Lebens, schrie seine Wirtin, als sie ihm das Frühstück brachte, – wie schaun Sie denn aus?! – Regen Sie sich bitte nicht so auf, sagte Enzio ungeduldig, morgen ist alles wieder gut. – Morgen? Kalte Umschläge müssen Sie machen und sich niederlegen, eine Woche wird es mindestens dauern, bis Sie wieder aussehn wie ein Christenmensch! Mit dem Herumscharmieren ist's vorläufig vorbei, für eine kleine Zeit! – Eine ganze Woche? fragte Enzio erschreckt, und das zerrende Gefühl beim Gedanken an Teresita wurde stärker. Dann aber dachte er: Es ist ganz gut, daß es so schlimm ist, das wird ihr um so mehr imponieren!

Er schrieb sogleich einen Brief an sie, den er durch einen Dienstmann bestellen ließ, erhielt aber keine Antwort. – Ich muß sie sehn, noch heute! dachte er und schickte einen zweiten Boten, dem er den Auftrag gab, die Antwort mitzubringen. Teresita war nicht daheim. Seine Unruhe ward immer größer. Ich muß sie sehn, wie mein Gesicht aussieht ist gleichgültig, ich muß zu ihr! Außerdem ist es sicher schon etwas besser mit mir geworden. Er zog seinen Mantel an, setzte den Hut auf und trat zum Spiegel, was ihn da aber ansah, war so lächerlich und komisch, daß er unwillig ausrief: Ein Vagabund, der sich in Herrenkleider gesteckt hat – – und Hut und Mantel wieder auf den Stuhl warf.

Am zweiten Tag kam ihm ein Ausweg: Besorgen Sie mir eine Bandage für mein Gesicht! sagte er zu seiner Wirtin, schwarz, das sieht am anständigsten aus. – Als er sie bekam und angelegt hatte, betrachtete er sich aufs neue. Immerhin konnte er sich so vor den Menschen zeigen. Er beschloß, abends zu Teresita zu gehn.

Nervös, ungeduldig saß er nachmittags am Flügel, als sich die Tür plötzlich leise öffnete. – Teresita!

Sie trat gegen ihre Gewohnheit sachte, fast behutsam ein, mit ein paar gleitenden Schritten vor ihn hin und sah ihn neugierig an, lachte und sagte: So also siehst du aus? Nimm doch einmal das Tuch herunter!

Endlich war Teresita da! Der Druck in ihm war zerlöst, aber sofort erfaßte ihn eine neue Bitterkeit: Bist du hergekommen, um mich wie ein Tier zu besichtigen? Du benimmst dich ganz danach! – Ja, ja, sagte sie erfreut, so ist es auch! Dann hob sie den Verband von seinem Auge und brach in ein schallendes Gelächter aus: Wem gleichst du nur, wem gleichst du nur? Kannst du es mir nicht sagen? Sie betrachtete ihn noch einmal, etwas nachdenklicher, dann meinte sie: den Brünetten steht es unvergleichlich besser! – Was steht ihnen besser? – Bei denen sieht es doch wirklich wie Kampfspuren aus! Bei den Blonden scheint es nur unappetitlich und krank! Ob das die hellere Haut macht?! – Was? rief Enzio, was willst du damit sagen? Hast du etwa den Kerl von vorgestern wiedergesehn?

Sie lehnte sich auf dem Stuhle zurück, kreuzte die Beine und sah neugierig-kalt zu ihm auf. – Teresita, rief Enzio und zitterte: Das kann nicht sein! Du hast doch gesehn, wie miserabel er dalag! – Ja, sagte sie und sprang auf, aber jetzt siehst du miserabler aus als er! viel, viel miserabler! – Enzio schüttelte sie: Bring mich nicht zur Wut! Du weißt nicht, wozu ich fähig bin! – In ihre Augen trat ein Ausdruck von Erwartung und Gespanntheit: was jetzt wohl kommen würde? Aber es kam nichts, von ihrer Nähe, von der körperlichen Berührung übermannt, rief er nur schmerzlich überströmend: Teresita, Teresita, warum bist du gestern nicht gekommen! – Ein Ausdruck von Enttäuschtsein und Geringschätzung ging über ihr Gesicht. Enzio faßte sich. Er kannte genugsam diesen Blick, er wußte, es werde ihr immer unmöglich sein, ihm das entgegenzubringen, was er notwendig brauchte und wonach jetzt sein ganzes Wesen schrie. Und doch fühlte er sich an sie gekettet. Qualvoll und grübelnd sah er sie an: Fehlte ihr jedes Verständnis für ihn? Und war es möglich, daß sie noch einen Funken von Gefühl und Sympathie, ja nur einen Gedanken hatte für jenen Menschen, der sein Nebenbuhler gewesen war? Der mußte doch für sie tot sein, abgetan für immer! Er ist es sicher auch, dachte er halb erbittert, sie will mich nur quälen, das Quälen ist ihr ja stets eine Wonne!

Teresita setzte sich jetzt, eine brennende Zigarette im Mund, zum Flügel und spielte. Ihm war das entsetzlich. Er vergrub den Kopf in seine Hände, er konnte es kaum ertragen, plötzlich lachte sie: Hörst du? Es hinkt! Sie spielte in einem sonderbar verzerrten Rhythmus und ging in derselben Art in eine Komposition von ihm über, die auf dem Flügel stand. – Hörst du? So hinkt es auch in deinem Gesicht! Eigentlich müßtest du dazu noch eine Krücke tragen! – Ich bitte dich, Teresita, hör auf! Ich kann es nicht ertragen, du bist gefühllos, ich bin krank!

Sie sprang auf und ließ sich wieder in den Sessel fallen, plötzlich fuhr sie aber in die Höhe: Ich wollte gar nicht hierbleiben, ich bin nur gekommen, mir meine Peitsche zu holen, die ich neulich vergaß. – Willst du reiten, allein? – Jawohl, jawohl, allein, ganz, ganz allein. Sie kitzelte ihn mit der Peitsche, lachte und war fort.

Enzio blieb in der größten Erbitterung zurück. Teresita besuchte ihn die nächsten Tage nicht mehr, und er dachte: Es ist besser, ich sehe sie erst wieder, wenn mein Gesicht ganz verheilt ist, in diesem Zustand bin ich für sie ja doch bloß eine lächerliche Figur!

In diesen Tagen gänzlicher Ruhe hatte er genug Zeit zum arbeiten. Ich will es versuchen! dachte er, jetzt werde ich mich ganz konzentrieren können!

Es kamen Stunden, Tage voller Qualen. Hoffnung wechselte mit Niedergeschlagenheit, Selbsttäuschung mit klarem, erbarmungslosem Sehen.

Mit mir ist es nichts mehr, jammerte er, ich bin leer geworden, es ist ein für allemal vorbei mit mir! – Und doch fing er immer wieder von neuem an. Es war, als müsse er das Schicksal zwingen.

Vielleicht, wenn ich mir Wein kommen lasse, daß es dann besser geht! – Aber es ging nicht besser, er trank ihn nur, um sich zu betäuben. – Wie soll ich auch arbeiten können in diesem Zustand, wo ich bei jedem Taktstrich, bei jeder Note an andere Dinge denke! wo ich vor Eifersucht fast umkomme!

Als er wiederhergestellt war, ging er sofort zu ihr. Sie hatte grade Besuch. Es war ein Ehepaar auf der Durchreise, Bekannte ihres Hauses. Sie bemerkte sogleich, daß es gekommen war, um zu spionieren. Wie Enzio an ihr Zimmer klopfte, erhob sie sich flüchtig, nannte ihn »Sie« und stellte ihn als einen jungen Herrn vor, dessen Mutter sehr viel Interesse für sie habe und sie ein wenig protegiere. – Ich lebe ja so allein hier, sagte sie, und etwas Familienanschluß ist für ein junges Mädchen doch sehr gut. Sie wollen gewiß gern wissen, wie ich meine Abende verbringe: Ich gehe selten aus, man ist hier ja nicht so beschirmt und beschützt wie zu Hause; sehn Sie, dies ist mein lieber, kleiner Freund, der mich davor bewahrt, daß ich mich nachts, wenn ich nach Hause komme, im Dunkeln fürchte! – Wo? fragte das Ehepaar, denn es war nur Enzio im Zimmer. Hier! sagte sie und hielt ihnen ein Schächtelchen mit Wachszündhölzern unter die Nase. Sehn Sie: da zündet man eins an, und wenn es ausgebrannt ist, dann nimmt man ein anderes. Erst brennt der Kopf, nicht wahr, und dann folgt alles übrige. – Ja ja, sagte das Ehepaar. – Haben Sie es sich genügend angesehn oder soll ich es noch ein wenig da lassen? fragte sie sehr freundlich. Bald darauf verabschiedeten sich die beiden. Kaum waren sie draußen, so fiel Teresita Enzio um den Hals: Jetzt bist du wieder genau so schön wie früher, ja noch viel schöner! wenn du gesund bist, dann bist du tausendmal schöner als alle Brünetten zusammen genommen! – Teresita, ich habe Qualen von Eifersucht durchgemacht! Hast du jenen Kerl inzwischen wiedergesehn? – Aber natürlich! Weshalb denn nicht? – Sie sah ihn mit einem so selbstverständlich freien Blicke an, daß er dachte: Gott sei Dank, meine Befürchtungen waren grundlos! – Ich habe lange über dich und mich nachgedacht, sprach er jetzt, ich malte mir die schrecklichsten Dinge aus; das sage ich dir: wenn es einmal wirklich so kommen sollte, wie ich dachte, dann ist alles zwischen uns vorbei! Dann siehst du mich nie wieder! Die Zeiten, wo ich dir blind unterworfen war, sind vorüber, du hast mich genug gequält, einmal hat es ein Ende. – Aber Enzio, fühlst du denn nicht, daß ich dich noch genau so liebe wie früher?! Laß doch die Eifersuchtsgedanken! Fernando ist ein netter Mensch, und ich will, daß ihr beide euch versöhnt! Er mag dich sehr gern, weil er gesehn hat, daß du ein starker und mutiger Mensch bist, ich habe lange mit ihm geredet, und er ist bereit, dir jederzeit die Hand zu drücken. Mach jetzt keine Komödie, sondern zeige dich ebenso vernünftig wie er. Wenn ich mit ihm die Freundschaft abbräche, verlöre ich zugleich auch meine übrigen Freunde aus der Heimat, denn sie halten alle ganz fest zusammen, und du mußt doch begreifen, daß ich auch deinetwegen nicht etwas aufgeben mochte, was hier in der Fremde doppelt wertvoll für mich ist, nicht wahr? – Enzio sah sie grübelnd an, sie schlang die Arme um seinen Nacken und küßte ihn so heftig, daß er in alles einwilligte.

Abends fand die Versöhnung statt. Der Spanier zeigte freundlich alle seine weißen Zähne, wie er ihm die Hand entgegenstreckte, Teresita behielt Enzio im Auge, und mit halber Abneigung nahm er sie. Die drei waren allein, Enzio konnte kein Spanisch, der Spanier kein Deutsch, und wenn der eine etwas sagte, übersetzte es Teresita dem andern, oder vielmehr sagte sie, was ihr grade in den Sinn kam, die ausgesuchtesten Schmeicheleien. Jetzt begann das frühere Leben wieder, aber leise kamen die alten Aufregungen, die früheren Zerrungen zurück. – Wir sind doch oft genug allein! sagte Teresita, du kannst es mir nicht verdenken, wenn ich mich manchmal in meiner Muttersprache unterhalten möchte! – Gott weiß, was ihr euch in eurer Muttersprache mitteilt! rief Enzio, ich habe mir schon manchmal gedacht, das müssen schöne Dinge sein – ich verstehe nichts davon, aber ich sehe genug am euren Blicken; es ist unter allen Umständen unzart, sich in Gegenwart eines Dritten in einer fremden Sprache zu unterhalten. – Genau dasselbe kann Fernando sagen, wenn wir deutsch reden!– Seinen Einwurf, daß dies nicht dasselbe sei, ließ sie nicht gelten: wenn ich hier im Ausland Worte in meiner Heimatssprache höre, so ist es, als wenn der, der sie spricht, mein Bruder wäre!

Enzio verlor sein Mißtrauen nicht. Er konnte nicht jeden Tag und jede Nacht mit Teresita zusammen sein – was mochte alles vorfallen, wenn er nicht bei ihr war! Ganz im geheimen dachte er oft: Ich weiß ja doch, daß sie lügt, daß der andere mein glücklicher Nebenbuhler ist; – aber er wollte dies nicht denken. Das Leben zu dritt hatte sich von selbst gestaltet, Enzio hatte nicht die Kraft, diesem Zustand ein Ende zu machen, da er, ohne es zu wollen, ganz allmählich in ihn hineingeraten war. Auf Momente höchster Extase, in denen er ihr stammelnd sagte, er liebe sie über alles, folgten Auftritte, wo er ihr Gemeinheit, Niedrigkeit vorwarf. Stand er grade selbst in Gunst, so erschien ihm die Tatsache der Nebenbuhlerschaft gleichsam historisch, er suchte sich zu täuschen mit der Hoffnung, daß sie von nun an nur noch ihm gehöre, bis er dann wieder merken mußte, wie wirklich jene Tatsache war. In ohnmächtiger Wut blieb er zurück, wenn sie sich endlich mit ihrem Freund erhob, indem sie sagte: Du gehst wohl heut allein nach Hause. Aufregend für beide Feindesfreunde war jeder Abend, denn Teresita liebte es, in ihnen beiden Hoffnungen zu erwecken, zu zerstören, wieder zu erwecken, wieder zu zerstören, wie es ihr grade Freude machte. Ab und zu stiftete sie auch Mißverständnis und Verwirrung. Sie sagte jedem von beiden, heute sei er der Auserwählte, und wenn sie sich zum Gehen erhob, standen alle beide auf, jeder im Glauben an sein gutes Recht und maßen sich mit verstecktem Groll, bis Teresita sie auseinanderbrachte.

War Enzio dann allein zu Hause, so malte er sich die nichtswürdigsten Szenen aus, die er nicht verhindern konnte, und schließlich fragte er sich: Bin ich nicht töricht, dumm, daß ich dem allem zusehe? Warum mache ich es nicht grade so wie sie? Wenn ich hier zu Hause bleibe und immer nur an das eine denke, so werde ich ja noch verrückt! Ich muß mich ablenken, mich in andere Erlebnisse stürzen, und »Treue« wird sie wohl wahrhaftig nicht von mir voraussetzen. Dann lief er aus seinem Zimmer, in die Stadt zurück und ließ sich treiben, wohin ihn der Zufall trieb. In den Armen anderer Mädchen suchte er seine Verzweiflung zu vergessen. Dazwischen schrieb er einen Brief an Bienle und fragte an, warum sie sich gar nicht mehr sehn lasse. Auf sie war er erbittert. Er glaubte, durch ihr gänzliches Fernbleiben wolle sie ihm andeuten, daß sie erst wieder komme, wenn er mit Teresita endgültig gebrochen habe. – Genau wie Pimpernell! so dachte er; im Grunde ist sie genau so! Dann aber erfaßte ihn etwas wie Scham, und er dachte wieder: Es ist ganz recht von ihr, daß sie nicht mehr kommt, von selbst, sie müßte keinen Stolz haben, wenn sie das täte!

Eines Abends bot Teresita eine neue Überraschung, für Enzio sowohl wie für den Spanier. Sie hatte sich schon die ganze Zeit geweidet an der unterdrückten Spannung, und als sie endlich aufbrach, schienen beide am Tisch zurückbleiben zu wollen. In Enzios Blick lag die Frage: weshalb stehn Sie nicht auf? und dasselbe lag in des Spaniers Augen, war das eine neue Mystifikation? Teresita sah sich noch einmal vergnügt um und winkte einen Abschied. Der Spanier begriff viel früher als Enzio. Er sagte: Hoho! Haha! begann eine Zeichen- und Augensprache und veranlaßte Enzio, ihm zu folgen, vorsichtig gingen sie hinter Teresita drein, die so unbekümmert war, daß sie sich auch nicht ein einziges Mal nach ihnen umsah. Unten an der Ecke wartete ein dritter Freund. Sie nahm seinen Arm, ging mit ihm durch ein paar Straßen, dann verschwanden sie in einem fremden Hause. – Der Spanier murmelte etwas Entsetzliches, dann drückte er sich fauchend um die Ecke.

Nun ist es aus, nun ist alles aus, dachte Enzio; in ihm war eisige Stille. Dann überfiel ihn eine Scham über sich selbst: Wie war er gesunken, daß er sich so weit hatte treiben lassen! – Jetzt muß ich mit ihr brechen, und jetzt wird es leicht sein! Aber dann, in der Nacht, dachte er: Habe ich ein Recht, ihr das Leben vorzuwerfen, das sie führt? Sie tut schließlich auch nichts anderes, als was ich selbst getan habe, sie hat nicht einen, sie hat mehrere, – aber so sehr auch sein Verstand dies immer von neuem sagte: mit dem Gefühl kam er nicht darüber hinweg.

Am Vormittag war er bei ihr. – Habt ihr mich gesehn? fragte sie, als teile er ihr eine freudige Überraschung mit: ja, ja, jetzt wird's ein Kleeblatt! – Mich reiße heraus! rief Enzio, wenn du nicht die beiden andern herausreißt! Das sage ich dir: du siehst mich niemals wieder, wenn es nicht von heut ab anders wird! – Vorläufig schon! antwortete sie, denn morgen mache ich mit meinem neuen Freunde eine kleine Reise; wenn wir wieder da sind, darfst du dich melden. Gefällst du mir dann noch, dann soll's dich freun.

Enzio wußte nicht, was er tun sollte, um ihr seinen Ekel, seinen Abscheu zu zeigen. – Ringst du nach Worten? lachte sie: ja, ja, wenn die Deutschen entrüstet sind, dann fehlt ihnen die Sprache! dann keucht nur die biedere Brust! Jetzt erwartest du gewiß doch auch, daß wir uns unsere »Andenken«. zurückgeben sollen. Tu es nicht, lieber Enzio, es wäre zu geschmacklos! Ihr Deutsche seid ja allerdings immer geschmacklos!

Ich lasse mich nicht auch noch von dir beschimpfen! schrie er, ich habe schon genug von dir auszuhalten gehabt! Geh nur mit deinem neuen Freund wohin du willst, und wenn du mich auf den Knien anflehtest, zu dir zurückzukommen: ich käme nicht! Von heute ab ist alles zwischen dir und mir glatt abgehauen wie mit einem Beil!

Gott sei Dank! dachte er, wie er allein war, jetzt habe ich endlich die Kraft gehabt und ein Ende gemacht.

Nun wußte er, was er zu tun hatte.

Noch am selben Abend ging er zu Bienles Wohnung und sah über eine Stunde zu ihrem Fenster hinauf: wenn er dort oben Licht bemerkte, dann wollte er pfeifen, ganz leise, und sie würde es doch hören. Aber das Fenster blieb dunkel. Ob sie wohl schon zu Bett war?

Die nächsten Tage war er wieder dort, stets vergeblich. – Ob sie ein anderes Zimmer bewohnte? Ihm wurde immer unruhiger zumute. Ob sie vielleicht krank war?

Schließlich hielt er diese Ungewißheit nicht mehr aus. Eines Morgens ging er in ihre Wohnung und läutete. Eine Frau öffnete ihm, mit aufgeschürzten Ärmeln. Er wußte sogleich, daß das ihre Mutter war. – Was wünschen Sie? – Ich wollte Bienle sprechen. – Er nannte seinen Namen. Ihre blauen, hellen Augen blickten ihn erschreckt an. Sie wollte die Tür sofort wieder schließen. – Halt, halt, ich muß sie sprechen, Sie wissen ja nicht, was davon abhängt. – Ich weiß alles, Sie können sie nicht mehr sprechen, denn sie ist nicht mehr da, sie ist fort, sie kommt nicht wieder, machen Sie selbst, daß Sie fortkommen, Sie haben sie genug gequält, und wenn mein Mann Sie träfe – – – Sie ist fort? sie ist gar nicht mehr da? Alles Blut lief ihm zu Herzen. – Abgereist ist sie, in eine Stellung ist sie gegangen, sie hat mir nicht ein einziges Wort über Sie gesagt, aber ich kann mir schon alles denken! – Wo, wo ist sie denn? fragte er verzweifelt. – Das sag ich nicht! Sie hat mir einen Eid abgenommen, daß ich es nicht sag! Und wenn ich's dürfte, tät ich's doch nicht! Endlich ist sie zur Vernunft gekommen! Und wenn Sie noch ein bißchen Herz im Leibe haben, dann lassen Sie sie bei ihrem Willen. – Mit diesen letzten Worten drängte sie ihn hinaus. Die Tür ward hinter ihm geschlossen, er starrte sie noch einen Augenblick an, dann verfiel er in ein lautloses, krampfhaftes Weinen und dachte: Nun ist alles, alles aus.

Jetzt, nachdem er Bienle verloren, wurde ihm erst klar, was er an ihr besessen hatte.

Nun stand er ganz allein, ganz einsam da. Was sollte er tun? Sollte er an diesem Orte bleiben, wo er erst so glücklich, und dann so unglücklich war?

Gute Nacht, Enzio! las er über seinem Bette. – wenn ich doch schlafen könnte und nie wieder aufzuwachen brauchte! Wenn ich dieses ganze Leben von mir abschütteln könnte! Wie hatte Bienle gesagt? Geh fort von hier, komm nie zurück, reise heim, vielleicht wirst du da noch glücklich. – Ich will gar nicht mehr glücklich werden! Nur Ruhe will ich haben, ich will nach Haus, mich ausweinen über mein Unglück, – nun habe ich nur noch meine Mutter!


Die ersten Tage nach seiner Heimkehr war Enzio wie ein Traumwandelnder. Rücksichtslos gegen sich selbst, mit größter Härte hatte er seiner Mutter alle Dinge der Vergangenheit erzählt.

Nun hilft dir nichts als Arbeit, feste, angestrengte Arbeit, um dich über alles hinauszubringen, Enzio. Du mußt Mut haben und Selbstvertrauen. Bleibe ein paar Wochen hier, dann geh in eine andre Stadt. Dieses alles ist furchtbar schlimm, aber wenn du das selbst erkennst, so wird es auch wieder besser werden!

Enzio wunderte sich, wie ruhig und gefaßt seine Mutter war. Sie mußte es sein, um ihn nicht noch mehr zu entmutigen. Langsam hatten sich ihre Schultern daran gewöhnt, neue Gewichte zu tragen, ohne daß eine Ermüdung äußerlich sichtbar ward.

Der Kapellmeister merkte nichts von allem, wunderte sich bloß, warum Enzio so plötzlich zurückgekommen war, und gab sich zufrieden mit Caecilies Erklärung: Er leidet an einer starken künstlerischen Depression, und das hielt er alleine nicht mehr aus. – So etwas vergeht wieder, meinte er. Ähnliches habe ich früher hundertmal an mir selbst erlebt, ich freue mich sogar, daß er jetzt endlich solche Stimmungen kennen lernt, daraus erwächst ihm nur Gutes. Er wird ein wenig bescheidener, das kann nichts schaden.

Enzio lebte die erste Zeit wie eingeschlossen zu Hause. In ihm war eine fieberhafte Angst.

Laß alle Arbeit! sagte Caecilie, was ich dir vorher riet, war falsch; ich wußte nicht, wie tief verzweifelt es in deinem Innern aussieht. In solcher Stimmung ist es ganz' unmöglich, irgend etwas zu schaffen. Geh viel spazieren, suche Richard auf, denk nicht an Arbeit. Oder wenn du willst, laß mich mit dir verreisen, wie gehn an die See oder in die Berge, dort wirst du dich erholen. – Nein, ich muß hier bleiben, dort draußen würde mein Zustand noch viel ärger werden, ich muß mir selber Ruhe schaffen, und nur dadurch, daß ich arbeite und wieder fühlen lerne, daß nicht alles in mir in Grund und Boden versunken ist. Da draußen würde mich nur immer wieder die Erinnerung packen. Zur Arbeit kann mich retten, und wenn ich sehe, daß es nichts wird, daß alles in mir verdunstet und verflogen ist, dann bleibt mir nichts übrig, als aus der Welt zu gehn.

Caecilie litt die allergrößten Qualen bei solchen Reden, aber sie bezwang sich und suchte ihn jedesmal durch Vorstellungen der Vernunft zu beruhigen: Solche Stimmungen macht jeder Künstler durch. Du hast sie doch auch früher schon gekannt, und es wird nicht das letztemal sein, daß du sie durchkostest. Sieh deinen Vater an! Du weißt nicht, was ich in früheren Jahren mit ihm durchgemacht habe! – Glaubst du, ich würde je ein Leben führen, wie er es führt? Er ist glücklich dabei, aber seine Seele hat sich langsam gewandelt, sie weiß selber nicht mehr, wie sie früher ausgesehn hat; nein, wenn ich fühle, daß es nichts mehr mit mir ist, dann ist es besser, wenn man ein Ende macht! – Du wirst das auch nie fühlen, Enzio! Aber selbst wenn du es jetzt denkst: Wäre es nicht feige, schändlich, den Glauben an sich fortzuwerfen? Du bist doch noch so jung! Wärest du um viele Jahre älter und ständest da wie jetzt, dann könnte ich nichts sagen; aber die Zeit deiner Entwicklung ist noch längst nicht abgeschlossen! Du hast erst eben angefangen! Sieh Richard an: Bis jetzt hat noch kein einziger Mensch irgend etwas von ihm gehört, und er ist fünf Jahre älter als du! In euren Jahren macht das viel aus! Kein Mensch wußte, was er bis jetzt geschrieben hat und ob es gut oder schlecht war. Jetzt endlich tritt er mit einem Werk hervor, wer weiß, was du alles geschaffen haben wirst, wenn du so alt sein wirst wie er! Richard? fragte Enzio erstaunt, – mit welchem Werke tritt denn Richard vor? – Hat er dir's nicht geschrieben? Von dem Musikfest, dieses Jahr? – Nichts! Keine Silbe! – Ein nagendes, zerrendes Gefühl war in ihm. – Du hast recht, sagte er nach einer Weile, man muß abwarten, wie es mit mir wird.

Gott sei Dank, dachte Caecilie, er fängt an, ruhiger, überlegter zu denken.

Am selben Nachmittag suchte er Richard auf. Der wußte schon um Enzios Hiersein. Caecilie hatte ihm einen Brief geschrieben, ihn beschworen, in ähnlichem Sinn auf ihn einzuwirken wie sie, und, falls Enzio wieder an die Arbeit gehen sollte, nur Aufmunterndes zu sagen, selbst wenn alles minderwertig sei, was er zustande bringe.

Spiel mir dein Werk vor, sagte Enzio, jetzt endlich wirst du nicht mehr nein sagen.

Richard spielte es.

Als er geendet und sich umblickte, saß Enzio stumm und wie aus Stein im Sofa. Richard ahnte, was in ihm vorging, befangen erhob er sich und trat zu ihm heran.

Ja, sagte er, ich glaube, dieses hier ist mir gelungen. Aber es ist auch die Arbeit von Jahren. Mir wird das Schaffen viel schwerer als dir, Enzio; ich beneide dich um deine Leichtigkeit zu komponieren. Ich weiß, daß du dich augenblicklich in einer kleinen Mißstimmung befindest, die wird vorbeigehn, in ein paar Jahren werden wir die schönsten Werke von dir haben. – Enzio schwieg. – Laß dich nicht unterkriegen! Solche Zeiten kommen und vergehn. Ich habe sie selber durchgemacht, da hilft nur Arbeit, und immer wieder Arbeit. Auf dich setze ich nach wie vor die größten Hoffnungen. – Enzio schüttelte den Kopf. Mit mir ist es aus, sagte er, das weiß ich; jetzt noch viel besser als vorher. – Richard faßte seine Hand: Rede nicht so, das ist feige und verzweifelt. – Enzio umklammerte Richards Finger. – Morgen hole ich dich ab, Enzio, da machen wir einen großen Spaziergang miteinander.

Als er ging, traf er im Vorplatz Richards Mutter. Sie sah ihn erst sinnend an, dann sagte sie freundlich: Nun, sind Sie zurückgekommen?

Wie sieht der eingefallen und verändert aus! sprach sie später zu Richard, der arme Mensch, er tut mir wirklich leid. Jetzt endlich kommt der Jammer über ihn. Ich wußte es immer, daß niemals etwas aus ihm wird. Sein Leben war von Anfang an verpfuscht. Ein Mensch wie er, verwöhnt vom ersten Augenblicke seines Daseins, und von solcher Schönheit, müßte einen Charakter von Stahl haben, um seinem Leben dagegen das Gleichgewicht zu halten. Ich danke Gott, daß er uns so schlimme Jahre der Entbehrung geschickt hat, und daß es uns niemals sehr gut gehn wird im Leben. Willst du nicht einmal Irene wiedersehn? fragte Caecilie, – sie weiß, daß du hier bist und daß du leidest, und sie wundert sich, daß du nicht zu ihr kommst. – Ich kann Irene nicht sehn! Ich könnte ihr nicht in die Augen blicken! Ich will sie auch nicht sehn, ich habe kein Verlangen danach! Zwischen Irene und mir ist es aus, selbst wenn ich sie noch liebte, könnten wir doch niemals zusammenkommen! – Enzio, sagst du das alles wegen des Vergangenen? – Auch wegen des Vergangenen! Irene ist zu rein für mich. – Dies letzte Wort schnitt Caecilie durchs Herz, all ihre Mutterliebe rebellierte dagegen. – Ich verstehe es, daß du so sprichst, aber wenn du jetzt den Mut, den festen Willen hast, ein andres Leben anzufangen so ist noch nichts verloren. Und ob du nun denkst, daß ihr nie zusammenkommen werdet – – du würdest sie auf das Allerschmerzlichste kränken, wenn du jetzt vermiedest, sie wiederzusehn! Wenn euch das Leben nicht füreinander haben will, so muß sie das langsam und ganz natürlich fühlen lernen, und wie ich Irene kenne, wird sie nie etwas wollen, wovon sie einsieht, daß es haltlos werden wird! Geh hin zu ihr, verkehre mit ihr als Freund, so wie in früheren Jahren, diesen unnatürlichen, abgeschlossenen, elenden Zustand hältst du für die Dauer doch nicht aus! – Ich will nicht! Ich habe eine wahnsinnige Angst vor Irene! In ihr sehe ich ein Leben, wie ich es hätte führen können, in ihr verkörpert meine frühe Jugendzeit mit all ihren schönen Träumen und Hoffnungen, das alles würde mich noch viel mehr quälen, als es sowieso schon tut. – Enzio, ich glaube, du bist dir selber nicht klar über das, was in dir ist! Du wirst keine Qual und Unruhe empfinden, wenn du sie wiedersiehst, sie wird dir nur dazu verhelfen, allmählich deine Ruhe und Zuversicht wieder zu finden, du wirst fühlen, daß du nicht der Mensch bist, der du jetzt zu sein glaubst!

Caecilies Worte wirkten nach in ihm. Mit Herzklopfen öffnete er eines Tages ein Kuvert, dessen Schriftzüge er sofort als Irenes erkannte. Sie schrieb, daß sie ihn erwarte.

Sollte er nun zu ihr hingehn? Hatte seine Mutter vielleicht recht? War es nicht feige, wenn er sie jetzt vermied? Kam nicht einmal doch der Moment, wo er sie wiedersah? Er ging.



 << zurück weiter >>