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Enzio an Caecilie.

Ich habe kaum Zeit zum Schreiben. Aber ich muß Dir sagen, wie glücklich ich jetzt bin. Mein früheres Schwanken ist vorüber, ich fühle, daß ich in meinem richtigen Berufe lebe. Meine Professoren mögen mich sämtlich gern und scheinen viel von mir zu halten. Meinem Kompositionslehrer habe ich die besten von meinen letzten Arbeiten vorgespielt, er hat sich ähnlich darüber geäußert wie Richard, nur sicherer, bestimmter, denn inzwischen bin ich ja wieder ein großes Stück vorwärtsgekommen. Ich soll aber vorläufig nicht an eigene Musik denken. Das will ich auch nicht, aber ich kann nicht anders. Auf einem Spazierweg fiel mir ein grandioses Thema ein, und gestern abend im Bett eine Adagio-Melodie, die so herrlich war, daß ich sofort aufsprang, Licht machte und sie genau so klar aufschrieb, wie sie mir gekommen war. Ich konnte lange nicht einschlafen. Heute zeigte ich beide vor, meinem Lehrer gefielen sie sehr gut als Einfall, aber wie ich sagte, ich wolle sie für eine Symphonie verwenden, lachte er, als wenn ich einen Witz gemacht hätte. Ich soll höchstens kleinere Sachen komponieren, Lieder etwa. Ich lerne Partituren lesen und spielen, und Instrumentation. Alles geht mir zu langsam. Mir ist, als tränke ich an einem riesigen Becher und müßte ihn gleich auf einmal austrinken. Alles ist so unübersehbar, und man möchte es doch gleich übersehn können! Abends gehe ich viel in Konzerte und Theater, ich bekomme jetzt erst einen Begriff, was ein Orchester ist. Das unsrige zu Hause, am Hoftheater, kommt mir beinah vor wie eine etwas erweiterte Kammermusik, so gemütlich und ahnungslos. Ich schreibe Dir bald wieder, ich kann jetzt nicht mehr.

Caecilie an Enzio.

Deine Briefe beglücken mich! Ich weiß es ja so genau, Enzio, daß Du für keinen andern Beruf bestimmt bist als für den Musiker! Ich wußte es auch, daß Deine Lehrer erkennen würden, daß etwas in Dir steckt!

Deine Wohnung ist sehr teuer, aber wenn sie dafür schön ist, so schadet es nichts. Zwei Zimmer mußt Du natürlich haben. Und da Du einen Flügel brauchst, mußte das eine auch recht groß sein. Daß es einen langen Balkon hat, auf dem Du morgens frühstückst, und daß die ganze Wohnung nicht in der Stadt ist, sondern draußen, mit Aussicht in den Wald hinunter, freut mich besonders. Bitte, stelle mir aber eine endgültige Liste zusammen von den Dingen, die ich Dir schicken soll, und erbitte nicht jedes Stück immer einzeln auf einer Postkarte. Das können wir einfacher haben. Eine große Markise für den Balkon ist notwendig, wenn keine da ist; frag mich nicht nach solchen Dingen. Ich schicke Dir eine neue Postanweisung.

Wie freue ich mich, daß Du Richard kennen gelernt hast! Wir sind oft zusammen, erst kam er manchmal deinetwegen, aber jetzt kommt er auch ohne Anlaß. Mit Deinem Vater steht er längst nicht so gut wie mit mir. Ich glaube, die beiden mögen sich heimlich nicht, obgleich Richard natürlich viel zu taktvoll ist, je ein Wort über ihn zu sprechen, das nicht voll Respekt und Anerkennung wäre. Aber in seiner Gegenwart ist er stiller, und das steckt mich dann unwillkürlich an. Es ist merkwürdig, was für eine Reife des Urteils er hat. Und dann fühle ich immer wieder: Er ist eine durch und durch vornehme, reine Natur.

Richard war krank, eine ganze Woche lang. Ich besuchte ihn oft und habe seine Mutter kennen gelernt. Eine sonderbare Frau! Sie sah mich mehrmals an, als wenn sie sagen wollte: Nachdem Sie Ihr Hühnchen in Gelee gebracht haben, könnten sie nun wieder fortgehen! Ich glaube, sie hängt mit leidenschaftlicher Liebe an diesem Sohne, sie hat etwas von einer Adlermutter an sich. Ihre tiefliegenden Augen sind beinah fanatisch in ihrem Blick. wie bescheiden leben sie, und aus was für hochkultivierten Verhältnissen stammen sie ursprünglich! Du hast mir auch niemals von dem Bild erzählt, das über dem Sofa hängt, von dem Ritter mit dem Stahlhelm und dem hellblonden Haar. Du wußtest wahrscheinlich nicht, daß das ein Selbstporträt von Richards Vater ist; ich erkannte ihn sofort an der Ähnlichkeit der Augenstellung. Wie eng und klein und ohne Licht sind ihre Räumlichkeiten! Wie gerne möchte ich ihnen meine Hilfe anbieten! Aber das wage ich nicht. Sie benehmen sich in dieser ärmlichen Umgebung mit einer Selbstverständlichkeit, als wenn es schöne, weite Räume wären, ich habe sogar das Gefühl, als wenn Richards Mutter irgendwie versessen wäre auf diese Eingeschränktheit, und auch nicht anders leben würde, wenn sie es könnte. Die letzten Male, als ich fortging, war sie etwas freundlicher. Ich habe eine Idee, als wenn Richard sie darum gebeten hätte. Nach Dir hat sie sich zuweilen erkundigt, mit einem fernen Wohlwollen, das aber im Grunde doch wohl Gleichgültigkeit ist. Ich nehme ihr das nicht übel. Mütter sind verschieden, und sie hat das Recht, diesen Sohn ausschließlich und so fanatisch zu lieben wie sie tut.

Denke Dir, Irene hat jetzt einen Drachen. Ich war am Vorabend ihres Geburtstages dort und brachte ihr eine Blume. Da fragte ihre Mutter sie, ob sie nicht noch einen Wunsch habe. Du weißt, Irene äußert sich so wenig! Jetzt dachte sie nach und sagte: Ich möchte einen Drachen! Das klang bei ihr ganz selbstverständlich. Ihre Mutter meinte: So, einen Drachen willst du ... ja, das denke ich mir ganz schön! – so, als ob sie ihn schon irgendwo im Blauen schweben sähe. Für diese Familie gelten ganz andere Voraussetzungen als für andere. Weißt Du, daß es die Lieblingsbeschäftigung ihres Vaters ist, nach »Feierabend«, wie er sagt, Seifenblasen steigen zu lassen von der Veranda aus? – Irene versteht es nicht, ihrem Drachen den ersten Auftrieb zu geben. Deshalb muß Richard manchmal mit. Er sagt, es sähe schön aus, wenn Irene so hoch in den Himmel schaute nach dem kleinen weißen Ding dort oben, und den Faden immer weiter gehen ließe. Ihr Vater hat zu ihr gesagt, sie müsse den Drachen taufen, so wie ein Schiff, und hat sie halb neckend gefragt, ob sie ihn nicht Enzio nennen wolle. Da sagte sie ganz ernsthaft: Wenn er einen Namen haben muß, heißt er natürlich Enzio. Das wird Dich freuen.

Richard hat mir etwas Niedliches erzählt: Kürzlich begegnet er auf der Straße einem jungen Mädchen, das ihn mit verlegenen und runden Augen ansieht, stehen bleibt und fragt: Nicht wahr, Sie sind der Freund von Enzio? Dann erkundigt sie sich nach Dir, ob Du denn nicht mehr in der Stadt seiest, sie sähe Dich ja nie mehr mit ihm zusammen. Schließlich bekam er heraus, daß dies die Pimpernell war, von der Du ihm früher wohl erzählt hast. Sie sagte, Du kennest sie schon längst nicht mehr, sie habe einmal etwas Schreckliches getan. Jetzt habe sie sich innerlich und äußerlich verändert: Sie mache Puppen, für ein Geschäft, das ihr diese Arbeiten recht gut bezahle. Die Trennung von ihren Eltern habe durchaus »in Güte« stattgefunden, sie sähe sie noch Sonntags zum Mittagessen; sie wäre eine »solide Arbeiterin in ihrem Fach geworden«. Er fragte sie, ob sie Deine Adresse haben wolle, aber sie antwortete: Grüßen Sie ihn, wenn Sie das wollen, mehr kann ich nicht zugestehn. Und dann, als sie ihm adieu sagte, grüßte sie ihn selbst plötzlich auf eine so gemessene und beinah schroffe Weise, als hätte er sich ihr vorher auf eine zudringliche Art genähert. Eine komische Person!

Enzio an den Kapellmeister.

Daß Du mir vorwirfst, ich gäbe soviel Geld aus, macht mich traurig. Ich weiß nicht, wo ich sparen soll. Ich habe nur zwei Zimmer, nicht einmal ein Badezimmer, so daß ich mir eine Gummiwanne und einen englischen Waschapparat kaufen mußte. Im Essen kann ich auch nicht sparen, da man sich anständig nähren muß. Ich würde bald kaput sein, wenn ich in diese kleinen billigen Restaurants gehen müßte, in denen die Konservatoristen meistens essen. Alle sagen, essen sei die Hauptsache und Grundbedingung für gleichbleibende Leistungsfähigkeit, die sie natürlich nicht haben, weil sie zu wenig essen. Mittags Wein trinken bin ich von zu Hause gewöhnt. Gut kleiden muß ich mich doch ebenfalls, ich mag nun einmal nur Allerbestes, und bin auch so erzogen worden. Das übrige geht für Konzerte und Theater drauf, was zu meinem Studium gehört. Lieber gehe ich gar nicht, als auf schlechte Plätze. Ich lebe wirklich nicht kostspieliger, als ich von zu Hause gewöhnt bin. Ich kann jetzt nicht mehr schreiben, ich habe eine Verabredung, und der Brief soll schnell fort.

Enzio an Richard.

Richard, ich begreife nicht, daß Du mir nicht schreibst! Du bist doch längst wieder gesund! Ist irgend etwas vorgefallen? Wie ich erfahre, siehst Du jetzt Irene häufig. Ist das der Grund, weswegen Du mir nicht schreibst? Du mußt ganz offen zu mir sein; ich bin nicht mehr so kindisch wie früher. Außerdem kenne ich Dich jetzt zu gut.

Ich dachte gar nicht daran, daß es Pimpernell noch gibt. Ich habe immer das Gefühl, als müßten alle Menschen so bleiben, wie man sie selbst gekannt hat. Sie war übrigens reizend! Es ist, glaube ich, mehr hinter ihr als man denkt. Es würde mich sehr freuen, wenn Du näher mit ihr bekannt würdest. Ich war diese Tage in einer wahnsinnigen Verfassung und ich bin es noch. Ich habe die Nibelungen gehört, vier Abende hintereinander. Ich hatte keine Ahnung, daß es so etwas gibt! Daß eine Musik soweit in ihren »Ausdrucksmöglichkeiten« gehen kann, um ein Wort zu gebrauchen, das man hier überall hört unter den Musikern. Ich war wie betrunken, habe mir sofort die Klavierauszüge gekauft, die Partituren geliehen, und kann kaum noch etwas anderes denken als diese Tonwelt! Bei uns zu Haus am Theater kam man ja nie über den Lohengrin hinaus, höchstens noch die Meistersinger, die ich ganz früher einmal gehört habe und damals nicht verstand, und die außerdem schrecklich zurecht geschnitten waren, wie mein Vater selber sagte, wegen unserer primitiven Mittel am Theater.

Ich fange an, mühsam die Partituren zu lesen. Den Don Juan hörte ich neulich wieder, aber ich weiß nicht, diese Musik sagt mir fast nichts. Sie kommt mir recht antiquiert vor. Vielleicht fehlen mir aber nur die richtigen Zugänge zu Mozart. Ich bewundere die Kunst, mit der das alles gemacht ist, aber sie berührt mich innerlich nicht. Die Zeit muß doch eine große Macht ausüben auf alles was geschaffen wird. An ein paar Stellen allerdings hat es mich durchschauert, da war mir plötzlich, als sähe ich anstatt in ein frohes, heiteres Gesicht in ein furchtbares, ewiges, unerbittliches, beinah unmenschliches, ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.

Ich muß jetzt viel Bach studieren, um das Kontrapunktliche zu lernen; das habe ich ja schon bei meinem Vater durchgemacht, muß es aber noch einmal und gründlicher. Ich werde wieder geelendet mit Fugenschreiben, haben die heutzutage wohl noch einen Sinn?

Meine Mutter schrieb mir, daß Du sie zuweilen besuchst; auch, daß sie bei Euch war. Geh nur recht oft zu ihr.

Richard an Enzio.

Zunächst: daß ich bis jetzt nicht schrieb, lag an meiner Krankheit, auch daran, daß ich Deine Mutter so oft sehe, und Du weißt, ich habe nicht viel freie Zeit, was hast Du für eine gute Mutter, Enzio! Sie lebt nur in Dir, jede Zeile von Dir ist ihr eine Reliquie, und wenn sie gern mit mir zusammen ist, so ist es zum größten Teil deshalb, weil ich Dein Freund bin. Als ich krank war, kam sie täglich; ich brauche nicht zu sagen, welche Wohltat und Erleichterung das für uns bedeutete. Sie dachte an alles, nicht nur an das Nächste und Nähere, sondern an Dinge, an die eben nur ein Mensch denkt, der sich ganz mit den Sorgen eines andern identifiziert. Und wie vieles ist sonst in ihr, von dem ich keine Ahnung hatte! Welche Frische und Jugendlichkeit kann sie zuweilen haben, als sei sie eigentlich ein anderer Mensch, als sie sich gewöhnlich zeigt. Ich habe das Gefühl, als sei manche Seite ihres Wesens bis jetzt nur noch nicht recht zum Entfalten gekommen. Sie hat viel gelesen, aber von moderner Literatur kennt sie fast nichts. Ich habe sie auf manches hingewiesen, was mich selbst beschäftigt, und ich bin erstaunt über ihre Aufnahmefähigkeit. Ein paarmal las ich ihr zufällig vor, daraus sind allmählich feste Stunden geworden. Meine Mutter sieht es, glaube ich, nicht gerne und denkt, ich zersplittere mich zu viel, aber das ist meine Sache. Ich weiß nicht, was Dein Vater gegen mich hat. Er ist sonderbar in seinem Wesen. Vor ein paar Tagen begegnete ich ihm mit der Battoni im Park. Kurz, ehe ich an ihnen vorbeikam, sagte er irgend etwas zu ihr, was sich auf mich zu beziehen schien, und beide sahen mich dann halb verlegen an. Vielleicht dachten sie, ich hätte es gehört.

Neulich hatten wir einen Konzertabend, an dem eine »unvollendete Symphonie in H-Moll« von Deinem Vater aufgeführt ward. Der Titel und auch das »H-Moll« forderte unwillkürlich zu einem gewissen Vergleich heraus, der für ihn nicht günstig ausfiel.

Stürz Dich nur jetzt in die Musik der Nibelungen und berausche Dich an ihr, – man kann sie nicht anders als im Rausch genießen. Wagner ist ein Magier, ein Zauberer, sein Name schließt eine Welt in sich, die einzig dasteht. Aber um diese Welt liegt keine reine, himmlische Atmosphäre, es ist, als entstiegen aus allen ihren Poren narkotisierende, betäubende, süße Dämpfe, die die Seele einhüllen; sie knechtet die Empfindungen anstatt sie zu befreien. Und in diesem Geknechtetsein liegt die ganze Wollust ihres Zaubers, der etwas Verruchtes an sich hat. Der Venusberg des Tannhäusers ist mir ein Symbol für Wagners Kunst; es ist, als sei sie gleichsam unterirdisch abgeschlossen, dumpf umwölbt von einer Riesenhöhle, die den Himmel nicht mehr sehn läßt. Und der Tannhäuser selbst kommt mir vor wie einer, der sich gewaltsam aus dieser Welt, die ihn zu ersticken droht, befreit – es hat etwas Erschütterndes an sich, wie er wieder zum erstenmal die Hirtenflöte des freien Tales hört, wie wenn Wagner sich selbst den Rücken kehren möchte zu einer andern Welt hin. Solche Töne der Natur hat er öfter getroffen und jedesmal wirken sie auf mich wie die Rufe eines Träumenden, der sich befreien möchte von dem Alpdruck seines Traumes, wie ein visionärer Blick in ein verschlossenes, fernes Paradies. Das Erlebnis »Wagner« ist ganz anders als alle andern künstlerischen Erlebnisse. Es wirkt nicht rein als Kunst, es wirkt persönlich, wie wenn man jahrelang unter dem Einfluß eines dämonischen Menschen gestanden hätte, bis man aus Selbsterhaltungstrieb diesen Einfluß endlich von sich abschüttelt. Und ist es gelungen, ist einmal der Bann gebrochen, dann sehen einen wieder wie aus der Ferne zwei Menschenaugen an, die zu fragen scheinen: Wo bist du geblieben? Dann kann es einem gehen wie dem Tannhäuser, der sich in die verlassene Welt zurücksehnt, der in sie zurückkehren würde, wenn ihn nicht andere, reinere Kräfte hielten. Das unterirdische Reich dauert weiter, – so, wie Wagners Kunst bestehen bleibt, auch wenn man sie negiert. Sie ist eine feste Tatsache, eine Welt für sich, ein Riesenleuchtturm, dessen Licht magisch anziehende Strahlen versendet für alles, was in der Luft herumfliegt. Wer sich einmal fast den Kopf an ihm zerstoßen hat, der meidet ihn. Wagner gegenüber muß man, wenn man sich selbst noch nicht gefunden hat, sich freiwillig in Fesseln schlagen, wie Odysseus sich an den Mast binden ließ, als er an der Insel der Sirenen vorbeifuhr. Seine Kunst macht glücklich-unglücklich, und wirkt auch am meisten auf Menschen, in deren Leben und Wollen eine Disharmonie besteht. In sich ist er vollkommen, und es ist Wahnsinn, ihm die Berechtigung des Daseins abzusprechen, wo es doch besteht wie in den Pyramiden Ägyptens. Man kann ihn nicht nach fremden Gesetzen messen, er hat sein eignes Gesetz in sich, das er sich selbst geschaffen hat. Das Parteigezänk um ihn herum kommt mir vor wie die Wellen, die ein großes Schiff umplätschern, und ihm doch nicht das Geringste anhaben können.

Die Frage wird sofort anders, wenn man seine Kunst als »reine Musik« betrachtet. Da ist es, als sähe man auf einmal einen Fisch auf dem Lande. Als »reine Musik« ist sie das Formloseste, Unmöglichste was sich denken läßt, wenn man ihr die Bühne wegnimmt, ist sie verloren und fällt auseinander. Wagner hat das größte Unheil angerichtet in der Musik, dadurch, daß man ihn falsch verstand. In seinen Werken war bis zur letzten Note das poetische das Zeugende, und von hier aus gewann er auch für die musikalische Seite seiner Werke eine Form, die zwar nicht aus der Musik selber kam, aber doch eben immerhin eine Form war, das letzte, in unserer Musik, was wirklich nach Beherrschung, Gestaltungskraft aussah. Und das haben seine Nachfolger und Nachahmer übersehen. Ihre eigene Musik, soweit sie reine Instrumentalmusik ist, hängt vollkommen in der Luft. Man will alles sein: wild, grenzenlos, zart, lyrisch-empfindsam, moralisch-asketisch, sinnlich, geistreich, frivol, und hat es verlernt, an die tief drinnen schlummernden, in sich gesammelten, ursprünglichen Empfindungen zu rühren. Was an der heutigen Musik echt ist, ist nie länger als ein paar Takte. Alles übrige, der ganze Aufbau und was sonst dazu gehört, ist gemacht, zusammengestellt und darum erlogen. Die heutigen Musiker sind erfüllt von dem grotesken Wahnsinn, die Liedform, das heißt die der Musik von Natur gegebene, ihre eigenste, eigentliche Form, überwinden und ausschalten zu können. Das ist freilich leichter als das andere: diese Form neu zu erleben und neu durchzufühlen.

Mit Deiner Abneigung gegen Fugenschreiben hast Du recht. Gewiß muß man wissen, wie man Fugen baut, aber man kann sie nicht mehr, so wie Bach, um ihrer selbst willen schreiben, da man nicht mehr an sie glaubt. Man kann sie nur zu einer Absicht außerhalb ihrer selbst gebrauchen, zum Zweck einer größten Steigerung etwa, so wie es Beethoven tat in dem »Gloria« seiner Messe, um einen höchsten Jubel auszudrücken. Bach bannt die Empfindung in eine starre, riesige Form. Mir ist immer, als wenn er für gar keine Zuhörer geschrieben hätte; wenn er seine großen Werke, etwa die Matthäuspassion, anfängt, ist man stets gleich mitten drin, es gibt keine Einleitung, keine Entwicklung, seine Stücke sind so gebaut, daß er beinah in jedem Moment enden könnte. Er schließt nicht ab, er hört auf; er hat keine Steigerung, keine Kontraste innerhalb eines Stückes, nur Ausbau. Er ist großartiger als irgendein anderer, aber auch einseitiger. In kaum einer andern Musik empfindet man so stark das Musikalische um des Musik-technischen willen, bei keinem andern fühlt man so wie bei ihm das »Handwerk«, Seine Sachen gut zu spielen, hat eine ähnliche, stählende Wirkung auf die musikalische Seele, wie eine gesunde, gymnastische Tätigkeit auf den Körper. Der ungeheure ethische Gehalt ergibt sich scheinbar ganz nebenbei. Es ist, als sei seine Musik ebenso selbstverständlich gewachsen wie irgendein Naturgebilde, das der liebe Gott geschaffen hat, wobei man sich auch nicht fragt: Warum hat er das gemacht? Er ist für uns heutige Menschen wie das Land für den Städter.

Dein Gefühl für Mozart kann ich verstehen, wenigstens weiß ich, was ihm zugrunde liegt. Er ist so in sich und seiner Zeit, daß man ihn hinnehmen muß so wie er ist. Es fehlt uns jeder Maßstab für ihn. Wäre ich kein Musiker, würde ich ihn vielleicht mehr lieben als jeden andern; so aber hüte ich mich vor ihm und gehe ihm aus dem Wege. In ihm ist nichts, was mich auf mich selbst zurückweist, was meine eigenen Kräfte erhöht. Bedingungslose Hingabe ist ihm gegenüber das einzig mögliche, und dazu bin ich nur selten imstande. Aber es ist falsch, ihn immer nur als den heiteren Rokokokünstler hinzustellen, wie man es tut. Ich weiß, welche Stellen aus dem Don Juan Du meinst, wo Du von dem »furchtbaren, unerbittlichen Gesichte« sprichst. Du hast es sehr schön ausgesprochen. In der Zauberflöte gibt es eine Stelle, die auch dahin gehört; es ist, als habe Mozart einmal in einer Vorexistenz Blicke in ein Gorgonenantlitz, in leere Abgründe des Grauens und des Entsetzens getan, deren unbewußt nachhallende Erinnerung ihn später Töne finden ließ, denen noch eine leise Wirkung von jener versteinernden Gewalt innewohnt.

Ich sagte vorhin, in Mozart sei nichts, was mich auf mich selbst zurückweist, was meine eigenen Kräfte stärkt. Für mich gibt es – auch trotz aller modernen Musik, trotz Wagner, Berlioz, Bruckner, Brahms nur einen Musiker, – nicht der auf mich wirkt, aber der mich befruchtet, über sein eigenes Werk hinaushebt, wenn Du das richtig auffaßt: Beethoven.

Er ist der einzige, der wirkliche, absolute Musik schreiben konnte, wenn man einen strengen, das heißt: seinen Maßstab anlegt. Bei ihm ist die Musik rein auf sich selbst gestellt und spricht nur aus sich. Er hat trotz der großen Wildheit und Kraft seines Temperaments eine ungeheure Leidenschaft für das Direkte, Gesetzmäßige, Natürliche, keiner hat mehr über die Launen seiner Natur gewacht, als er, und aus eben diesem Trieb heraus. Er hat nicht geruht, bis er einen Gedanken auf den einfachsten, selbstverständlichsten, natürlichsten Ausdruck gebracht hat; das ist den Heutigen grade entgegengesetzt, und deshalb kann man mehr von ihm lernen als von einem andern. Dein Vater nennt ihn immer den »wilden, ungebändigten Titanen«, und ich hatte neulich einen Streit mit ihm darüber. Denn das ist nicht wahr. In dieses ungebändigte Titanentum ist er von seinen Zeitgenossen und Nachfolgern hineinstilisiert worden, weil er ihnen vielleicht in seinem persönlichen Leben so erschienen ist. Bei ihm bedeutet das Persönliche aber nichts. Es gab in ihm eine viel tiefere und wichtigere Seite, die ihn befähigte, Werke von einer frommen, seligen Harmonie und Glückseligkeit zu schreiben, wie sie auf der Welt nie da waren. Vor allem, er hatte im Grunde nichts Tragisches, Unausgeglichenes in sich, wie es moderne Neurastheniker bei ihm so gerne suchen.



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