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Wieder vergingen Tage, dann kam der Morgen, wo er zum erstenmal mit vollem Bewußtsein erkannte, wo er war. – Was ist denn das? wo bin ich denn? hörte ihn Caecilie flüstern. – Du bist zu Hause, Enzio, schlaf. – Er schloß die Augen, seine Gedanken waren müde, aber die Welt hatte wieder Macht über sie gewonnen. – Ich bin nicht zu Hause, sagte er mit Anstrengung und öffnete sie von neuem. Dann versuchte er sich aufzurichten, sank aber gleich wieder zurück. – Du denkst, sprach er nach einer Pause halblaut, ich weiß nicht, wo ich gewesen bin: ich weiß es aber ganz genau: Ich war im Wasser; und jetzt will ich wissen, wo ich bin. – Caecilie sagte es ihm. Er sah sie staunend an, dann lächelte er und schloß die Augen.

Die Besserung seines Zustands ging bald schnell vorwärts. Er verlangte Irene zu sehn. Caecilie versprach es, aber sie zögerte diesen Moment immer wieder hinaus.

Wie kommt das rote Buch hierher? fragte er einmal sinnend, indem er in die Ecke sah. – Caecilie machte sich Vorwürfe, daß sie es nicht schon längst entfernte. – Jetzt fällt mir ein– – ich habe schon geträumt, ich hielte es in Händen – warte, – warte, was kam dann noch... ich träumte, daß ich es weiter schrieb, – o, es war eine Musik von unerhörter Schönheit, wie schade, daß ich sie vergessen habe! Gib mir das Buch. – Nein, Enzio, laß. – Weshalb denn nicht, ich will es haben. – Du kannst es morgen ansehn. – Aber ich bin doch wieder vollkommen gesund. Ich könnte aufstehn und arbeiten wie immer. – Er ließ nicht nach, sie gab' es ihm widerstrebend. Er schlug eine Seite nach der andern um. Dann kam er zum letzten Blatt. Überrascht haftete sein Blick darauf. – Was ist denn das? sagte er erstaunt. – Es kam ein sonderbarer Zustand über ihn, ein Zustand zwischen Traum und Wachen, als sei sein Wesen geteilt und als könne er die andere Hälfte nicht finden. Die Erinnerung stieg wie ein Dunst aus den tiefsten Böden seiner Seele und wirkte auf sein waches Bewußtsein wie ein fremder, kaum faßbarer, halb nur geahnter Geruch auf die Sinne. – Plötzlich tat es einen Ruck in ihm: Das habe ich geschrieben! sagte er; ich glaubte, ich hätte alles nur geträumt. – – Das ist ja Unsinn! fuhr er nach einer Pause fort, indem er sich bemühte, die Zeichen im Zusammenhang zu lesen. Am Schluß hatten all die Noten ihre Linien verlassen und schwärmten als Punkte frei für sich hinauf, wie eine Schar von Vögeln, die die Telegraphendrähte verlassen. – Das war das Ende! sagte er; o Gott, o Gott, und es war so schön! Das Schönste, was ich je gedacht habe! Und was ist das? da unten habe ich meinen Namen hingeschrieben? Das hat ja ein Kind gemalt, das erst die Zeichen lernt! Es sind deutsche Buchstaben, und ich schreibe doch so lange, lange nur lateinisch!


Die Sehnsucht, Irene wiederzusehn, ward immer heftiger in ihm; eines Tages kam sie wirklich, allein, und schloß die Tür hinter sich. Langsam trat sie näher, endlich ließ sie sich auf dem Bettrand nieder.

Was hast du denn? Was siehst du mich so an? fragte er. – Was soll ich haben? sagte sie und versuchte ihrer Stimme Festigkeit zu geben; sie machte sogar den Versuch, ihm ins Gesicht zu blicken. Da war es aber um ihre Selbstbeherrschung geschehn. Aufschluchzend sank sie zu ihm nieder und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Sie grub ihre Hände unter seine Schultern und hielt ihn fest, als wenn sie ihn nie mehr lassen wollte. – Irene! murmelte er und schlang die Arme um sie – hast du mich denn so lieb? – Sie antwortete nicht, aber sie umfaßte ihn noch fester. So lagen sie eine Weile schweigend. In ihm zerlöste sich alles in ein Gefühl von ruhevoller Wonne. – Das habe ich ja niemals gewußt! sagte er leise; seit wann hast du mich denn so lieb? – Immer! antwortete sie ebenso leise, aber jetzt noch viel mehr als früher. – Weil ich beinah gestorben wäre? – Sie machte ein Zeichen der Bejahung, dann sagte sie: Nein, nein, auch sonst, schon immer, immer. – Enzio legte beide Hände um ihr Haar, dann murmelte er: Liebe, geliebte Irene! – Ein neues Schluchzen durchbebte ihren Körper, endlich hob sie den Kopf, sah ihn mit tränenfeuchten Augen an, ließ ihn aber gleich wieder sinken und flüsterte: Und wenn du nun gestorben wärst – ich hätte es nicht überlebt. – Beide schwiegen wieder eine lange Zeit, dann sagte Enzio: Ach, Irene, du hattest doch nicht die Schuld. – Doch, doch, ich ganz allein! – So entsetzlich schlimm war es doch nicht. Ja, wenn ich unters Eis gekommen wäre ... Du warst doch unterm Eise! – Wie?! – Weißt du es nicht? – Er sah sie mit grauenerfüllten Augen an. Sie wollte ihre Worte widerrufen, aber Enzios Blick war von einer Kraft, daß sie's nicht konnte. Ja, sagte sie willenlos, du warst unter dem Eise, lange Zeit; und wenn du auch gerettet bist: Man zog dich für tot endlich an das Land. – Entsetzlich, murmelte er; dann war ich also schon gestorben, wenn man mich nicht – wenn man mich nicht – o, dies ist grauenhaft! Schauer der Vergangenheit schüttelten ihn, jetzt, wo er wußte, daß er die Grenze zwischen Leben und Tod tatsächlich überschritten hatte, daß er schon in einem Reich der Nacht gewesen war und daß nur der Zufall ihn daraus errettete, wieder lagen sie eine Weile stumm, dann sagte er: Und doch – – das Sterben ist nicht schwer, das habe ich nun gesehn. Und es war derselbe Fluß, auf dem ich früher zum ersten Male zu dir herübergekommen bin. Damals hattest du mich noch nicht so lieb. – Doch, immer, immer. – Weißt du, Irene, daß ich schon einmal, so wie ich war, in allen meinen Kleidern für dich im Wasser gewesen bin? – Sie hob den Kopf. – Das war als Kind, wie ich dich selber noch nicht kannte. Da war ich abends in deinem Garten und wollte dir ein Geschenk unter den alten Kastanienbaum legen. Es kamen Schritte, es waren deine Eltern, ich rannte zum Fluß hinab und warf mich wie ich war hinein und schwamm hinüber. – Das hast du getan? – Und ich bildete mir ein, mein Leben für dich gewagt zu haben. – Enzio, Enzio, flüsterte sie, – o, und ich war so undankbar. – Du wußtest es doch nicht. – Nein, aber trotzdem, trotzdem – mir ist, als wenn ich all die Zeit so häßlich gegen dich gewesen wäre, aber ich habe es nie so gemeint, ich habe nie jemand so lieb gehabt wie dich. – Alle Vergangenheit war ausgelöscht in Enzio. Er sah nur noch die Jahre seiner Freundschaft mit Irene, er fühlte das Nagende, Schmerzliche dieser Jahre, mit Wollust, jetzt, wo jeder Stachel genommen war, wo er Irene in den Armen hielt und wußte, daß sie nur immer ihn geliebt hatte. Ganz fern schwebte ihm die Gestalt des Bienle.

Was soll nun, dachte er, wie er allein war, mit der Zukunft werden? Am nächsten Tag verlangte er aufzustehn; eine Stunde war er außerhalb des Bettes, dann faßte ihn die Müdigkeit.

Er empfing jetzt auch Besuche. Der Kapellmeister kam und brachte ihm eine erlesene Delikatesse mit, Fräulein Battoni schickte eine Torte mit der Zuckergußaufschrift: Dem heldenhaften Dulder, Richard kam, und endlich erschien auch Pimpernell. Caecilie hatte Enzio verheimlicht, daß sie, sowie sie von dem Unglück hörte, im Zustand gänzlicher Fassungslosigkeit erschien und forderte, daß sie selbst ihn pflegen dürfe. Sie war von ihrem unbeherrschten Wesen unangenehm berührt, sie sagte: Liebes Kind, Enzio hat auch noch andere Menschen, die ihm nahestehn; dann konnte sie aber doch nicht anders, als wieder herzlich sein, indem sie dachte: Dieses Mädchen liebt ihn also auch. – Pimpernell war inzwischen täglich an dem Haus in der Parkstraße gewesen, hatte geläutet, gefragt, wie es gehe, und war dann bescheiden wieder fortgegangen. Jetzt, glaubte sie, dürfe sie sich auch erlauben, ihn persönlich aufzusuchen. Enzio wollte sie erst nicht empfangen. Irene redete ihm zu: Sie ist ein so einfaches, armes Mädchen! – Gut, aber nur, wenn du dabei bist, will ich. – Ich? mich haßt sie! Das habe ich wohl bemerkt, wenn ich ihr unten die Tür öffnete. – Dann also erst recht nicht. – Statt einer Antwort ging Irene hinaus, dann trat sie nach einer Weile wieder herein, indem sie Pimpernell vorangehn ließ.

Pimpernell hatte sich dieses erste Wiedersehn besonders rührend ausgemalt, so rührend, daß ihr schon tagelang vorher bei der Vorstellung die Tränen in die Augen traten. Statt dessen lachte Enzio, wie er sie zu Gesicht bekam und schnitt dann eine Fratze, genau so wie er es als Kind tat. – Sie schien das nicht zu bemerken und begann zu reden. – Hör auf! sagte er, das ist ja eine richtige Kondolenzrede. Ich bin doch wieder ganz gesund. – Sie stockte, sah ihn unsicher an und fühlte dann selbst, daß ihre Rührung nicht am Platze war. Wie geht es mit dem Geschäft? fragte Enzio nach einer Pause. – Ach, davon wollte sie nicht reden. Und doch – – nach einer Weile kam es gleich heraus, daß sie ihm etwas sagen müsse, aber das könne sie ihm nur allein mitteilen. Irene erhob sich hierauf: Ich sage Ihnen gleich Adieu. – Pimpernell wandte sich ein wenig zu der Seite, von der Irenes Stimme tönte, und machte eine leise Verbeugung in die Luft.

Weshalb grüßt du meine Freundin nicht ordentlich? fragte Enzio sogleich, wie Irene draußen war. – Ich habe sie durchaus richtig und zeremoniell gegrüßt! sagte sie eifrig. – Bitte, das ist nicht wahr! Namentlich in meiner Gegenwart muß sie das kränken. – Und du? glaubst du, daß dein Empfang schön gewesen sei? Wenn du mir eine Grimasse schneidest, namentlich in ihrer Gegenwart? – Das ist wahr, sagte Enzio, entschuldige bitte. Aber du mußt bedenken, daß mich diese Krankheit wieder zum Kind gemacht hat. Höchst interessant! Ich habe im Fieber meinen Namen geschrieben wie in der alleruntersten Klasse bei meinem ersten Lehrer. – Sie wußte nicht recht, ob dies Scherz oder Ernst sein solle, ließ es auf sich beruhn und sagte: Also, da sie wahrscheinlich doch gleich wieder hereinkommt, will ich es dir schnell sagen: Ich werde in der nächsten Zeit meine Stellung hier aufgeben. Ich hatte in der letzten Woche Differenzen mit meinem Chef, und da erinnerte ich mich, was du mir angeraten hast, und ich habe gekündigt. – Ohne eine neue Stellung zu haben? – Was denkst du! nein, ich sicherte mir vorher eine andere, in der gleichen Branche. – Wo? – Sie nannte den Ort; es war derselbe, wo Enzio studierte. – Er fühlte sich höchst unbehaglich bei dieser Eröffnung. Was er im Scherze hinwarf, das hatte sie sofort aufgegriffen und zur Wahrheit gemacht. Ihn traf eine Art Verantwortung. Das war ihm peinlich; vielleicht ließ sie sich verleugnen, indem er tat, als sei er in dieser Angelegenheit ein gänzlich Außenstehender. So fragte er jetzt nach einem Schweigen mit möglichster Unbefangenheit: was möchtest du denn gern mit mir bereden? – Sie sah ihn erst verständnislos an, dann sagte sie: Mich beschäftigt doch diese neue Wendung sehr, und wenn du mich nicht selbst auf jene Idee gebracht hättest, so wäre ich nie auf sie gekommen. Ich bin dort gänzlich fremd und hatte gehofft, daß ich an dir einen Halt fände! Du bist auf einmal so anders, ich weiß nicht, was ich denken soll. – Enzio überlegte: wie jetzt sein Zusammenleben mit Bienle werden würde, davon hatte er keine Ahnung, vielleicht konnte sich Pimpernell mit ihr befreunden? Auf alle Fälle würde sie für sie beide zunächst als ganz gute Zerstreuung wirken. – Ich bin gar nicht anders! sagte er jetzt, ich finde es sehr vernünftig, was du tun willst, und ich freue mich darüber. – Wirklich?! – Aber natürlich! wir sind doch alte Freunde! – Ihre Hand ruhte auf seiner Bettdecke. Es hatte ihn schon die ganze Zeit gereizt, sie zu erfassen, obgleich er gar nicht zärtlich zu Pimpernell empfand. Jetzt konnte er sie nicht mehr so liegen sehn, er nahm und streichelte sie.

Bald darauf erhob sich Pimpernell. Wie charakterlos bin ich! dachte Enzio. Sein Gefühl von Beschämung suchte gewaltsam einen Ausweg: An der Tür wollte Pimpernell sich noch einmal umwenden, sie tat grade den Mund auf, als ihr etwas Warmes, Weiches mitten ins Gesicht flog. Es war Enzios Kopfkissen. – Wirf zurück! sagte er und streckte im Liegen die Arme aus. – Kindskopf, antwortete sie, unentschieden, ob sie sich beleidigt fühlen solle. Aber im Grunde ihres Herzens war sie doch froh: Hätte er das getan, wenn er so fremd zu ihr fühlte, wie sie zwischendurch gefürchtet hatte? Ziemlich zufrieden stieg sie die Treppe hinab und verließ das Haus, nachdem sie flüchtig noch einmal umgekehrt war und einen sehr schönen Damenpelz, der dort im Vorplatz hing, befühlt hatte.


Das Bienle ahnte dunkel, in welcher Gefahr Enzio geschwebt hatte. Mehrere Briefe von ihr waren gekommen, und endlich hatte Caecilie geantwortet: Enzio sei krank, aber auf der Besserung; er selber könne noch nicht schreiben. In dem Brief, den Bienle ihr darauf schrieb, stand zwischen den Zeilen, sie glaube nicht, daß die Gefahr schon ganz vorüber sei, sie glaube, daß man ihr dies nur sage, um sie zu beruhigen. Caecilie mußte an alte Volkslieder denken, mit ihrem immer wiederkehrenden Weh, dem niemand helfen kann; so lasen sich alle ihre Worte.

Als Enzio nach Haus zurückkehrte, gab sie ihm den Brief, und sie konnte nicht anders, als ihm sagen, wieviel Zärtlichkeit und Liebe sie für dieses Kind empfinde. Enzio las ihn, dann seufzte er tief auf und steckte ihn in seine Tasche. – Antworte ihr noch heute! sagte sie bittend, versprich es mir, Enzio! Tu es gleich! – Er tat es. Und am Schlusse fügte er mit schwerem Herzen hinzu, daß er große Sehnsucht nach ihr habe, und daß er sie ja nun bald wiedersehen werde. Sie schrieb darauf zurück, einen kurzen, glücklichen Brief: Er möchte auch nicht vergessen, ihr zu schreiben, wann sein Zug ankäme, damit sie ihn von der Bahn abholen könne. Das tat Enzio aber nicht, wenigstens, so dachte er, muß ich mich erst ein paar Tage dort ganz von neuem eingewöhnen, wie soll nur alles werden! Sie hat ja keine Ahnung, auch nicht die leiseste Ahnung! Bin ich nun mit Irene eigentlich verlobt? Gesagt hat es keiner von uns, aber sie denkt es jedenfalls ebenso stillschweigend wie ich selber!

Zu seiner Mutter sagte er einmal: Es kommt mir vor, als wäre ich lange von zu Hause fortgewesen, viel länger als vorher, was habe ich inzwischen alles erlebt! – Sie ahnte wohl, was er außer seinem Unglück und der Krankheit sonst noch meine, doch sie sprach nichts darüber aus; das mußte er alles mit sich selbst ausmachen.

Bleibst du wieder so lange fort, wie das letzte Mal? fragte Irene ihn, als sie sich Lebewohl sagten. – Nein! rief Enzio, diesmal wird es anders. – Ich wollte, ich könnte mit, sagte sie auf einmal heftig. Er schlang seinen Arm um sie: Tu es, wollte er sagen, aber da stand plötzlich wieder die Gestalt des Bienle vor seinen Augen. Statt einer Antwort seufzte er. Sie verstand dies Seufzen falsch und sagte: Ich sehe ja selber ein, daß es unmöglich ist! Aber ich glaube, wenn du jetzt fort bist, muß ich immer an dich denken. – Denkst du, mir geht es anders? Es wird eine schreckliche Zeit werden! – Er seufzte noch tiefer. Sollte er zu Irene von Bienle sprechen? Nein! dachte er, und dann bildete er sich ein, daß seine Beziehungen zu Bienle von nun an andre würden. – Sorgt deine Wirtin gut für dich, Enzio? Fühlst du dich dort wohl aufgehoben? – O ja, ganz wohl. – Stört dich das Kind nicht beim Musizieren? – welches Kind? – Du sagtest doch, sie habe ein kleines Mädchen, Bienle nanntest du es, glaube ich. – Enzio war froh, daß Irene sein Gesicht nicht sehen konnte; sonst hätte sie bemerken müssen, wie er errötete. – Nein, sagte er, sie stört mich gar nicht. – Wie alt ist sie? Spielt sie noch mit Bällen? – O ja! nickte er und dachte in aller Schnelligkeit: Wenn Bienle wollte, könnte sie auch noch mit Bällen spielen. Irene ging zu einem Schrank, beugte sich zu einem Fach nieder, in dem alte Kinderspielzeuge von ihr lagen, und brachte einen Ball: Schenk ihr den, ich wollte ihn schon immer verschenken, aber da er mir so lieb war, habe ich ihn noch nicht fortgegeben. Jetzt kann sie mit dir zusammen damit spielen, wenn du einmal dazu Lust hast. – Leb wohl, Irene, ich danke dir für alles – vergiß mich nicht!

Am selben Tage reiste er ab, den Ball nahm er nicht mit; er verschloß ihn in einer Lade seines Schreibtischs


Da wären wir wieder! sagte Enzio für sich selbst, als er in der Dunkelheit seine kleine Wohnung betrat. Von außen leuchtete der Schnee herein und erfüllte das Zimmer mit ungewissem Dämmerlicht. Er ließ sich mit einem Seufzer auf das Sofa nieder und schloß die Augen. Die Erinnerungen zogen an ihm vorbei: Als er von hier fortging, wie traurig war ihm da zumute, wie liebte er diese ganze Stadt, diese Wohnung, diese Stube, die all die Zeit auf seine Rückkehr gewartet hatte, und deren Wände er nun schweigend wieder um sich herum empfand, was lag alles zwischen jetzt und damals!

Soll ich nicht die Lampe bringen? fragte seine freundliche, rundliche Wirtin. Sie war sehr zufrieden, daß er wieder da war, denn mit seiner Unachtsamkeit und seinem sorglosen Geldbeutel gab er ihr manch guten Nebenverdienst.

Ja, bringen Sie nur die Lampe, sagte er müde. Das Fräulein hat mir auch einen Gruß an Sie aufgetragen; es war heute hier.

Enzio runzelte die Stirn. Ihm durch seine Wirtin einen Gruß bestellen! So etwas tut man doch nicht!

– Hat sie sonst noch etwas sagen lassen? – Nein, gar nichts. – Um wieviel Uhr war sie hier? fragte er weiter, nur, um etwas zu sagen. – Ich weiß nicht, ich war nicht zu Hause. –woher wissen Sie dann, daß sie hier war? Und wie können Sie mir einen Gruß von ihr bestellen? – Persönlich gesagt hat sie es nicht, insofern, als ich ihr nicht mit meiner werten Persönlichkeit gegenübergestanden bin, aber ich hab mir halt gedacht: Ich muß doch einen Gruß vom Fräulein ausrichten. – Wie konnte sie denn in meine Wohnung? – Sie haben ihr doch die Schlüssel überreicht! Haben Sie das schon vergessen? Da, schaun Sie her, da hat sie sie heute wieder auf den Tisch gelegt, kerzengrade wie Soldaten, alle drei, nach der Größe angeordnet, einen hinter dem andern. Und sauber hergerichtet hat sie die Zimmer in der Zeit, wo Sie fort waren – das heißt, sauber waren sie ja schon vorher. Aber sie hat an angebrachten Stellen noch ein übriges getan, wenn ich mich so ausdrücken darf. Die Vorhänge hat sie alle herabgenommen, gewaschen, gebügelt und wieder hergebracht, und eines Tages ist sie dagewesen mit Politur und hat die Füße gestrichen an dem Tisch, wieder ein andres Mal hat sie ein Nähzeug mitgebracht und den ganzen Nachmittag die Wäsche geflickt, die Sie hiergelassen haben, die Kleider hat sie gereinigt mit Benzin und Terpentin, und noch verschiedenes andere erledigt. Ja, ja, das ist ein tüchtiges Fräulein, das Fräulein Braut.

Sie ging wieder, und Enzio packte bei dem Schein der Lampe seinen Koffer aus, trug jedes Stück an seinen Platz, und wie er den Uhrständer auf den Nachttisch stellte, bemerkte er ein kleines gesticktes Deckchen, das da früher nicht gewesen war. – Das rührende Kind! murmelte er, als er es genau angesehn und rechts unten in der Ecke ein ganz kleines B eingestickt entdeckte. Dann seufzte er wieder tief.

Was ist denn das? sagte er für sich, als er seinem Koffer ein Paketchen entnahm, das er sich nicht erinnerte hineingetan zu haben. Er wickelte es bei der Lampe aus dem Seidenpapier. Es war ein Täschchen aus ungegerbtem gelblich-weißem Leder, an den Schnittflächen mit blassen, silbernen Metallbändern kreuzweise durchstickt, wie eine Arbeit primitiver Völker. Inwendig lag ein Zettel: Irene für Enzio. – wie raffiniert geschmackvoll! dachte er, und küßte erst den Zettel, dann das Täschchen selbst. Darauf sah er wieder die Decke von dem Bienle an. – Sie kann es eben nicht besser! dachte er; und sie hat gewiß gemeint, es wäre wunderschön; es ist ja auch sehr hübsch; das arme Kleine!

Hier roch es irgendwo nach Veilchen. Sollte sie ihm am Ende auch Blumen ins Zimmer gestellt haben? Er fand sie bald. Da standen sie, auf dem Tisch, dicht neben dem Bilde seiner Mutter, das noch mit ein paar Veilchen besonders für sich geschmückt war.

Er nahm sein Abendessen zu Haus; lange schwankte er, ob er noch in ein Restaurant gehn und sich zerstreuen solle.

wenn doch wenigstens jemand hier wäre, dachte er, wie er so still dasaß, ganz gleich, wer es ist, nur jemand, mit dem ich reden könnte. Ob ich später noch einmal aus dem Haus gehe, zur Stadt hinein? Er bereute jetzt beinah, dem Bienle nicht die Stunde seiner Ankunft geschrieben zu haben. Und weshalb war sie nicht noch einmal gekommen, um nachzusehn, ob er nun wirklich da sei? Es war ja gut, daß sie es nicht tat, aber im Grund wäre es ganz natürlich gewesen! Hatte sie's ihm übel genommen, daß er sie ohne letzte Nachricht ließ? Das sah ihr doch nicht ähnlich. – Sollte sie etwa draußen vor dem Hause stehn? Das Haus mußte schon geschlossen sein. – Ach was, dachte er, das ist eine ganz dumme Einbildung von mir. Aber sie meldete sich wieder. – Um mich selbst zu beruhigen, werde ich nachsehn. Er eilte die Treppe hinab und schloß die Haustür auf. Draußen war alles still und kalt. Mehrere entgegengesetzte Empfindungen hatten in aller Schnelle seine Seele gekreuzt: erst eine Hoffnung, dann der Gedanke: ach, wenn sie doch lieber nicht da wäre – und dann, als er niemand sah, ein unbestimmtes, leeres Gefühl.

Was bin ich dumm! dachte er, nachdem er eine Weile frierend dort gewartet hatte: sie liegt selbstverständlich schon lange zu Bett! Dort geht ja immer alles mit den Hühnern schlafen. – Häßlich und lieblos war das von ihm gedacht; wie sehr mußte Bienle am Tage arbeiten, wie sehr hatte sie den Schlaf nötig. – Das war ja auch nur so ein Ausdruck, sprach er wie zur Entschuldigung zu sich selbst. – Oben im Zimmer stand er wieder bewegungslos.

Also die Lampe sieht gradezu dumm aus! Stumpfsinnig selbstzufrieden mit ihrem eignen Brennen! Ich will zu Bett! Dies ist ja doch ein trostloser, verpfuschter Abend!

Er nahm Irenes Ledertäschchen mit ins Schlafzimmer, legte es auf den Nachttisch, und daneben den Zettel, der dazu gehörte. Als er ins Bett gestiegen war, knisterte etwas unter seiner Wange. Merkwürdig, dachte er, ich glaubte bestimmt, daß ich den Zettel auf den Nachttisch gelegt hätte! nahm ihn vom Kopfkissen auf und wollte ihn nun wirklich auf das Tischchen legen. Aber da sah er, daß er dort schon lag, obgleich er ihn in der Hand hatte. einen kurzen Moment fühlte er sich wie behext, dann sah er sich genauer den an, den er in den Fingern hielt: Gute Nacht, Enzio! stand darauf geschrieben, von der Hand des Bienle. Er nahm nun auch den andern und hielt jetzt beide in den Händen.

Beide Mädchen standen mit lebendiger Deutlichkeit vor seiner Seele.

Er legte die Zettel langsam auf den Tisch zurück, dann löschte er das Licht, lag eine Weile mit offenen Augen, und tastete darauf wieder mit der Hand nach ihnen. Es war fast, als berühre er ihre Kleider.

Er konnte sie nicht mehr unterscheiden. Irenes Gruß sollte an meinem Herzen ruhn! – Und ich? schien es hilflos zu fragen. – Beide sollten an meinem Herzen ruhn. – Aber wie sentimental war das, – sie mochten nur da liegen bleiben. Nach einer weile jedoch langte er abermals zum Bett hinaus, ergriff sie beide und nahm sie zu sich an seinen Körper, einen neben den andern.

Am nächsten Morgen stand er ziemlich erschöpft auf. Er hatte eine Masse von wirren Träumen gehabt; wie er frühstückte, fiel ihm einer von ihnen wieder ein. Bienle und Irene waren ihm da als zwei Töne erschienen, und zwar als eine Terz. Oben oder unten muß ich mich dazusetzen, hatte er fortwährend gedacht; nach unten gibt es zusammen einen Molldreiklang, aber nach oben wird es Dur. Also es geht doch, es geht doch ganz vorzüglich! – Wie blödsinnig, dachte er jetzt.

Vormittags machte er seinen Professoren kurze Besuche und ward von ihnen wie ein Auferstandener begrüßt. An sie alle hatte er Briefe geschrieben und jedem einzelnen versichert, daß er fast schon zu den Gestorbenen gehört habe, Sie waren warm und herzlich: Unsere schönste Jugendzierde! sagte sein Kompositionslehrer und klopfte ihm auf die Schulter – da hätte ich den lieben Herrgott wirklich nicht begriffen, wenn er uns die vor der Zeit genommen hätte! – Es wurde Enzio mit einemmal wohler und wärmer ums Herz, und er sagte ganz von selber: Ich freue mich jetzt ungeheuer auf die Arbeit!



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