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Die Zeiten, wo er unter dem Flügel liegend seinem Vater zuhörte, waren längst vorbei. Jetzt saß er still in dem großen Ledersofa, neben seiner Mutter, wenn Quartett gespielt wurde, wie es seit einiger Zeit im Hause des Kapellmeisters eingeführt war.

Und das musikalische Blut in ihm begann sich leise zu regen. Ganz heimlich schlich er sich zuweilen in das Zimmer seines Vaters, wenn er niemand darin wußte, setzte sich an den Flügel und suchte sich Akkorde zusammen. Unter ihnen war einer, von dem er glaubte, daß es ihn eigentlich nicht gäbe, daß er ihn gefunden habe, und das war der allerschönste. Es war ein Akkord mit einem Vorhalt, der auf die Auflösung wartete, und es lag in ihm eine so schmerzliche Süßigkeit, daß er ihn immer von neuem anschlug und sich leise an ihm berauschte. In diesem Klang war etwas, das ganz anders war als alles in der Welt, etwas, das mit allem nicht einverstanden war und sich nach einem andern sehnte, ohne es zu finden; denn Enzio versuchte stets erfolglos aus ihm herauszukommen, immer auf eine andere Weise. – Der Kapellmeister lauschte mehrere Male hinter der Tür, fühlte, wo er hinaus wolle, und dachte voller Freude: Der Junge hat das echte Musikantenblut in sich; merkwürdig, das erste, womit er anfängt, ist gleich ein Problem! – Einmal, wie er wieder so lauschte, trat er ein.

Sofort erhob sich Enzio und wollte zur andern Tür hinaus. Er hielt ihn aber zurück und hieß ihn seinen Akkord nochmals anschlagen. Er tat es nicht, aber wie sein Vater mit gemütlicher Energie darauf bestand, schlug er aufs Geratewohl einen verminderten Dreiklang an. – Der ist auch sehr schön, aber den wollte ich nicht hören. Spiel den, den du vorher gespielt hast, wie du allein warst. – Enzio tat als dächte er nach, dann sagte er, dieser sei es gewesen, Sein Vater sah ihn zweifelnd an: glaubte er das selbst im Ernste? – Diesen hier hast du gespielt! meinte er und schlug den rechten an: und dann konntest du nicht weiter! Enzio errötete. Ihm war, als habe er einen Schatz versteckt gehabt und als werde der nun gelüftet. – Paß auf, die Geschichte ist ganz einfach: Der Kapellmeister improvisierte ein paar Takte, in denen er auf jenen Akkord hinarbeitete, sagte: Jetzt! als er ihn anschlug, und dann griff er, lauter und langsamer als zuvor, zwei neue und endete mit einem Schlußakkord, wie Enzio ihn aus allen Liedern kannte. – Was machst du denn für ein Gesicht? Gefällt dir das nicht? – Enzio schüttelte den Kopf. Der Kapellmeister führte die Harmonie zu einer andern Lösung. – Ist es so schöner? –Enzio holte Atem, hielt ihn einen Augenblick an, und stieß ihn wieder aus, ohne etwas zu sagen. – Mir scheint, dir gefällt's noch immer nicht? –

Bald nach dieser ersten musikalischen Unterhaltung bekam Enzio Klavierunterricht bei seinem Vater. Er führte ihn auch in die Anfangsgründe der Harmonielehre ein, die Enzio schon längst instinktiv begriffen hatte, ohne zu wissen, daß sie etwas Besonderes sei. Nach nicht allzulanger Zeit konnten sie dazu übergehn, kleine, einfache Lieder in Begleitung zu setzen. – Das ist aber alles genau so wie in der Schule! sagte er einmal, so einfach – ich mochte gerne etwas Schwereres! Alle Einwände seines Vaters halfen nichts dagegen, und zum Spaße meinte er: So, jetzt spiel du da oben mit beiden Händen in Oktaven deine bekannte Melodie, und ich werde links dazu eine Begleitung machen, die nicht so einfach ist; es soll mich doch wundern, ob du durchkommst. Beide setzten sich vor den Flügel und begannen. Es war eines der Volkslieder, wie sie in der Schule gesungen wurden. Gleich nach den ersten Tönen drohte Enzio alles zu verlieren. – Paß auf den Weg! paß auf den Weg! rief sein Vater. Das Ganze klang in Enzios Ohren falsch und doch wieder richtig, mit äußerster Konzentration seiner Erinnerung rang er dem Klavier die Melodie ab und hörte dabei doch immer die verwirrenden Klangfolgen neben sich. Er bekam rote Wangen und geriet in Schweiß, es war wie ein Kampf auf Leben und Tod, wie ein Wettlauf mit Bleigewichten an den Füßen, wie eine langsame Flucht durch eine enge Höhle, als wenn ihm ein unbekanntes Ding dicht auf den Fersen bliebe und ihn immer vorwärts drängte, ohne daß er doch die Hoffnung hatte je herauszukommen. Immer angstvoller, atemloser wurde es. Endlich war es vorüber. Eine ungeheure Anstrengung war das für ihn gewesen. Bravo! rief der Kapellmeister, bravo! Ich hätte nicht gedacht, daß du durchkämest. Was machst du denn für ein Gesicht? – Enzio fühlte sich vollkommen leer im Kopf. Er sah seinen Vater an und lachte, kurz und grundlos, und dann zuckte es heftig um seine Lippen.

Er ist himmlisch, einfach himmlisch! sprach der Kapellmeister später zu seiner Frau, von einer musikalischen Nervosität, und von einem Ehrgeiz – ich hätte niemals gedacht, daß er einen solchen Ehrgeiz hätte!

Allmählich gelangte Enzio, dazu, selbständig kleine Melodien zu schreiben zu einem Begleitgerüst, das ihm sein Vater gab. Ihm ging eine ganz neue Welt auf. Leise lernte er die Freude des Schaffens kennen, wenn auch in ganz primitiven Formen. Aber wenn ihm etwas auch noch so gut gelungen war: immer hatte er das Gefühl, als müsse es noch viel schöner sein.

So einfach wie die Sachen sind, sagte der Kapellmeister, sie sind fast alle miteinander von einer ganz besondern Qualität. Ich erinnere mich nicht, Besseres gemacht zu haben, wie ich so alt war. – Halb froh, halb schmerzlich war es Caecilie, wenn sie ihren Mann so reden hörte. Denn aus seinen Worten klang ihr eine unausgesprochene Resignation in bezug auf seine eignen Kräfte. Jetzt arbeitete er an einer tragischen Oper, aber es schien, als werde sie nie über den Anfang des zweiten Aktes hinauskommen. Langsam und mühselig war sein Schaffen, vielleicht, sagte sie einmal zu ihm, solltest du dich doch wieder der früheren Art deines Talentes zuwenden, warum muß es denn durchaus schwer und tragisch sein ! – Caecilie, das verstehst du nicht! antwortete er nervös und ungeduldig. Jene Zeiten sind vorbei, müssen vorbei sein. Du wirst es schon erleben, ob ich Erfolg habe oder nicht; überhetzen, übereilen darf ich nichts, alles muß langsam und natürlich reifen. –

Sollte Enzio einmal denselben Beruf erwählen wie ihr Mann? Diese Frage lag ja noch in weiter Zukunft, aber Caecilie begann sich doch schon jetzt mit ihr zu beschäftigen. Und wenn ihn dasselbe Schicksal treffen würde wie seinen Vater? Oder wenn seine Begabung nicht ausreichte? Sprach der Kapellmeister von Enzios Zukunft, so lenkte sie die Unterhaltung bald auf andere Dinge. Und eines stand ganz klar in ihrer Seele: Nie würde sie zugeben, daß Enzio sich ganz der Musik widmete, wenn dieses nicht sein einziger, sein glühender und durch nichts umzustoßender Wille wäre. – Ach, wenn er es doch wäre! so kam es ihr unwillkürlich in die Gedanken, wenn ich in ihm doch rein und strahlend aufblühen sähe, was in seinem Vater so furchtbar schwer zum Durchbruch kommt!

Einmal, zu Weihnachten, hatte Enzio seiner Mutter ein kleines Stück komponiert. Da gab es den ersten Kampf. Der Kapellmeister zerstörte ihm eine überraschende Wendung zum Schluß hin. Enzio rief leidenschaftlich: Wenn du mir den Takt durchstreichst, wenn du ihn änderst, dann werde ich das ganze Blatt zerreißen! So wie ich es geschrieben habe, ist es am schönsten, und grade den Takt mag ich am liebsten von allen! – Es half ihm nichts, er mußte sich fügen. Als aber der Abend kam, spielte er doch alles so, wie es zuerst gewesen war. – Hierüber war der Kapellmeister ernstlich verstimmt. – Caecilie, sagte er eifrig, wie wenn es sich um eine wirkliche Nebenbuhlerschaft handele, ich mache dich zur Schiedsrichterin, da es für dich geschrieben und von mir dann geändert ist; ich werde dir beides vorspielen, erst seines, und dann meine Änderung!

Er tat es, dann fragte er: Nun, was sagst du? – Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: Ich glaube, beides kommt mir gleich schön vor.

Enzio kam in die schwärmerischen Knabenjahre. Die Zeit, wo er Gesichter küßte, die er in Bilderbüchern fand, war vorüber, er begann seine Liebe und Verehrung auf Menschen von Fleisch und Blut zu übertragen.

Das höchste, herrlichste Wesen, das er kannte, war Fräulein Battoni, die seit kurzem am Theater die Stellung einer Primadonna einnahm. Als Agathe im Freischütz hatte sie ihm einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, und abends, wenn er im Bette lag, dachte er oft: O, wenn ich sie doch kennen lernen könnte! Endlich vertraute er sich seinem Vater an: wenn ich sie nur einmal, einmal aus der Nähe sehen dürfte! – Findest du sie denn so schön? – O wunderschön! – Der Kapellmeister sah ihn mit schmelzendem Blicke an und sagte: Göttlich ist sie, du hast recht! Dann schwiegen beide, bis Enzio wieder fragte: wo kann ich sie denn einmal sehen? – Er erfuhr, daß sein Vater mittags nach den Proben meist ein Stück desselben Weges mit ihr nach Hause ging. – So kam es, daß Enzio eines Tages nach der Schule im schnellen Laufe zum Theater eilte, sich vor dem kleinen Seiteneingang aufstellte und wartete, bis die beiden endlich herauskamen. – Herr Gott! sagte Fräulein Battoni, vor Überraschung über Enzios vollendetes Gesicht beinah erschreckt, was ist dieses für ein bildschöner Junge! Das ist Ihr Sohn? Du bist ja ein bildschöner Junge! – Enzio sah sie strahlend an, sie sah ihn ebenso strahlend an, und dann streichelte sie ihm die Wange. – Ja, ja, sprach der Kapellmeister stolz, das ist der Enzio, Ihre neueste und jugendlichste Eroberung! Fräulein Battoni zeigte ihre schönen Zähne und ließ ein herzliches, klingendes Gelächter hören.

Im allerersten Moment, als Enzio sie sah, war eine große Enttäuschung in ihm; der mächtige Federhut, das pompöse, seidene Jackett, der rote Atlasschirm und auch die sehr dunklen Haare, – das alles stimmte nicht zu seiner Erinnerung an die Agathe. Aber wie sie nur ihre ersten Worte sprach, war er sogleich unwiderstehlich gefangen. –

Er machte nun sehr oft Umwege am Theater vorbei, manchmal verspätete er sich, zuweilen winkte Fräulein Battoni von ferne mit dem Schirm. »Mein Engel« nannte sie ihn stets. Einmal, als sie sagte, er müsse heut mit seinem Vater alleine gehn, sie habe einen andern Weg, sah er sie so enttäuscht an, daß sie ausrief: Nein, so ein entzückendes Geschöpf! sich schnell zu ihm niederbeugte und ihm einen vollen Kuß auf seine Lippen gab.

Ein andermal traf er sie allein, ohne seinen Vater. Sie fragte ihn nach seiner Schule, und wie er ihr langwierig den ganzen Stundenplan erzählte, unterbrach sie ihn mit der Frage: Sag, und hast du auch schon eine kleine Freundin, die du so ganz besonders gerne magst, was? und sah ihn mit einem erwartungsvollen Blick an. Enzio antwortete hierauf nicht. – So rede doch! fuhr sie ermunternd fort, mir darfst du schon alles sagen! Ich erzähle es keinem Menschen weiter, auch deinem Vater nicht! Es wäre doch nett, wenn wir beide so ein kleines Geheimnis miteinander hätten. – Enzio schwieg. Sie drohte ihm schalkhaft mit dem Finger und sagte: Keine Antwort ist auch eine Antwort. Also: Ist deine Freundin blond oder schwarz? Enzio schwieg weiter und wünschte, daß er eine hätte.

Jetzt, nachdem er Fräulein Battoni kannte, traf er sie auch zuweilen in der Stadt, auf der Promenade, in den Straßen, und jedesmal neckte sie ihn mit seiner Freundin, deren Namen er nicht sagen wolle. In Gegenwart seines Vaters tat sie es nie, höchstens drückte sie ihm einmal heimlich den Arm, wenn ein hübsches Mädchen in seinem Alter vorbeikam, und dann lachte er für sich, halb verlegen und halb überlegen; so hatten sie doch eine Art Geheimnis zusammen. Manchmal aber war sie ganz zerstreut und sagte ihm kaum guten Tag. Mitunter meinte sie: Jetzt möchte ich doch wissen, was wir für Wetter bekommen! Dann lief er über den Platz bis zu der großen Scheibe, hinter der man lesen konnte, wie es wurde, lernte den Bericht rasch auswendig, aber wenn er dann zu Fräulein Battoni und seinem Vater zurückkam und herzusagen begann: »Bei mäßigem bis frischem Winde und wenig veränderter Temperatur wolkiges Wetter mit keinen oder unerheblichen Niederschlägen« mußte er seine Worte zwei-, dreimal wiederholen, ehe sie ihn zu verstehen schien.

Höre, sagte sein Vater eines Tages zu ihm, ich will nicht, daß du uns so oft vom Theater abholst. Jungens haben mit Jungens von der Schule heimzukommen, und außerdem hat Fräulein Battoni einen Ton gegen dich, der mir nicht angenehm ist. Ich verstehe deine Schwärmerei sehr gut, aber nun schwärme auch einmal für jemand anders!

Das tat Enzio auch bald. Er suchte sich Schwestern von Kameraden aus, und wenn er diese Kameraden besuchte, so war es im Grunde nur ein Vorwand für seine andern Neigungen. Jede hielt sich in ihrem ahnungslosen Herzen für die Bevorzugte, denn Enzio ließ sich stets und vollkommen vom Augenblick beherrschen. Hinterher freilich war er oft traurig, und wußte selber nicht warum. Sein großes musikalisches Talent, seine geschmackvolle Kleidung, sein gut gepflegter Körper gab ihm in ihren Augen etwas Übergeordnetes und Schimmerndes, und in ihren Herzen lebte er als der schönste Junge, den es gäbe. – Zu Hause erzählte er viel von ihnen, lud wohl auch die eine oder die andere ein, und Caecilie sagte: Was hast du nur an diesen Mädchen! zwang ihn wohl auch manchmal, sich statt ihrer Kameraden einzuladen, aber dann war er verstockt, unliebenswürdig und im Herzen tieftraurig, weinte später und jammerte: Wenn ich nun einmal die Mädchen lieber mag, das ist doch keine Sünde! Sie sind viel netter, viel niedlicher, viel süßer als die Jungens! so daß sie ihm schließlich seinen Willen ließ. – Wie das werden soll, dachte sie manchmal, weiß ich nicht. Sein Vater ist selbst so sehr weich, ich bin nur eine Frau, die Lehrer in der Schule verwöhnen ihn, und hier zu Hause geht es ihm viel zu gut. Alles bekommt er, nichts entbehrt er, er müßte in eine ganz feste, strenge Zucht genommen werden.

Aber wie sollte sie das machen? Ihn in eine Pension schicken? Sie fühlte sich außerstande, sich von ihm zu trennen. Den ganzen Zuschnitt ihres Lebens ändern? Das durfte sie nicht, aus Rücksicht auf ihren Mann. Einen Lehrer ins Haus nehmen, der ihn hart erzog? Das mußte das Verhältnis zwischen ihr selbst und Enzio ändern. Sie wußte nichts, und so gab sie sich Mühe, rücksichtsloser und härter zu ihm zu sein. Aber das konnte sie auf die Dauer auch nicht, da sie ihn zu sehr liebte. Enzio war noch gänzlich sorglos-spielerisch. Nur Eine ernste Seite seines Wesens gab es: das war die Musik. Da schwand mit einem Male alles Kindisch-Zerfahrene in ihm, da ward er ernst wie ein Erwachsener. Seine Fortschritte waren bedeutend, der Kapellmeister setzte die allergrößten Hoffnungen auf ihn. So ging die Zeit hin, bis eines Tages die erste tiefe Neigung in sein Herz trat.



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