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Richard machte eine sonderbare Erfahrung.

Das ist meine Freundin Irene! sprach Enzio eines Tages, als sie auf der andern Seite der Straße, ohne sie zu sehn, vorbeischritt. – Ein wundervolles Mädchen! sagte Richard. Enzio, der fast schon mit ihm hatte hinüberschreiten wollen, dachte auf einmal: Nein, lieber nicht; wenn er sie schon von ferne auf den ersten Blick so wundervoll findet, soll er sie gar nicht kennen lernen.

Ich habe sie wiedergesehen! sagte Richard an einem der nächsten Tage; und ich bin ihr gefolgt fast bis vor ihr Haus. Beinah hätte ich sie angesprochen; wenn ich nur mehr Mut gehabt hätte. – Er hatte keine Ahnung von Enzios naher Freundschaft zu Irene. – So? Du bist ihr schon gefolgt? fragte Enzio leichthin, aber im Herzen gab es ihm einen Stich. Es vergingen zwei weitere Tage, dann sagte Richard: Heute habe ich sie zum drittenmal gesehn.

Am selben Nachmittag suchte Enzio Irene auf. Er traf sie, wie sie mit ihrer Mutter ein Andante spielte, das er ihr komponiert hatte und zu ihrem Geburtstag in purpurrote Seide binden ließ. Hingenommen von der Musik, die er für sie gedichtet, nickte sie nur leise, als er eintrat, auch ihre Mutter unterbrach sich nicht und sandte ihm nur einen ganz kurzen Blick zu. – Noch ist nichts verloren! dachte Enzio pathetisch, ließ sich auf einen Sessel nieder und sah auf diese beiden Menschen, die wie zwei schöne Schwestern erschienen, beide mädchenhaft und still. Sie mag doch niemanden als mich! dachte er wieder und lauschte der Musik. – Sie endeten. – Enzio, sagte Irenes Mutter, mit ihrer langsamen und weichen Stimme – wir hätten es schöner gespielt, wenn du nicht gekommen wärst. Ich bekam fast etwas Herzklopfen, wie ich dich eintreten sah. – Ich nicht! sagte Irene, indem sie ihm die Hand entgegenstreckte, es ist doch ganz gleich, ob jemand zuhört, oder ob man allein spielt. Und während sie ihm ins Gesicht sah, bewegte sich noch leise ihre Oberlippe, wie immer, wenn sie grade etwas gesprochen hatte. – Bei dir erwartet das auch niemand anders! meinte ihre Mutter, in demselben langsamen, freundlich konstatierenden Ton; wie ist es, Enzio, kommst du mit in den Garten zu einem Angelspiel? Oder vielleicht erst später? setzte sie hinzu, da sie in seinem Gesicht ein Nicht-mögen las, das nach Begründung suchte. Dann ließ sie die beiden allein im Zimmer. – Irene hantierte noch eine Weile mit den Noten, summte dazu die verklungene Melodie, und als sie fertig war, setzte sie sich ihm gegenüber, sah ihn erwartungsvoll an und sagte: Du sprichst ja nichts!

Es war eine ziemlich komplizierte Arbeit für Enzio, das Gespräch scheinbar mühelos dahin zu bringen, wo er wollte. Er sagte erst mehrere gleichgültige Sätze, in denen er schon auf Richard zusteuerte, landete endlich bei ihm und fragte: Kennst du ihn? – Irene schüttelte den Kopf. Nicht? Ich will ihn dir beschreiben! Er tat das, so gut er es vermochte, Irene schien es nicht zu interessieren, sie fragte, ob sie nicht doch in den Garten zum Angelspielen gehen wollten. – Irene! Du verstellst dich! Du kennst ihn ganz genau! – Aber nein, ich habe keine Ahnung, wen du meinst. – Er läuft dir nach! – Wie kann ich wissen, wer mir nachläuft? – Du hast ihn auch von vorn gesehn! Zweimal ist er dir begegnet, in der Parkstraße. – Das ist ja möglich, aber ich erinnere mich nicht. – Du sollst ihn nicht kennen lernen! – Das will ich ja auch nicht. – Aber er will dich anreden. – wenn er mich fragt, wieviel Uhr es ist, dann muß ich ihm doch antworten. – Ja, aber weiter, weiter! Dann kommst du mit ihm in ein Gespräch, das nicht wieder aufhört! – Irene sah ihm aufmerksam auf die Lippen, dann lehnte sie sich zurück und sagte: Ich finde das komisch! Es gibt doch keine Menschen, mit denen man soviel spricht. – Ja, du nicht, aber er! Er kann reden, in einem fort, und so, daß man ihn nicht wieder unterbrechen kann, wenn er nicht will. – Er sah sie mit so verstimmten und grüblerischen Augen an, daß sie nach einer Pause antwortete: Mir liegt an deinem Freunde nichts, und deshalb mach du selber mit ihm aus, was du willst.

Heute habe ich sie zum viertenmal gesehn! sagte Richard. – Du warst wieder da? Etwas zog sich krampfhaft in Enzio zusammen. – Ja, natürlich. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, Enzio? – Bist du naiv! sprudelte er hervor. Natürlich bin ich eifersüchtig, wahnsinnig eifersüchtig sogar? Jetzt verstand Richard endlich Enzios sonderbares, einsilbiges und fast kaltes Wesen der letzten Tage. – Ja, wenn das so steht, sagte er nach einer Weile, dann werde ich mir selbstverständlich Mühe geben, deine Freundin nie wiederzusehen. – Sofort zerlöste sich alle spannende Bitterkeit in Enzio; es war, als habe sein Gefühl plötzlich gleichsam Luft bekommen. – Ich hätte dir niemals in deine Kreise eingegriffen, fuhr Richard fort; du kennst mein Verhältnis zu den Menschen noch zu wenig: Mich interessieren sie, und du kannst nicht anders als lieben, wenn dir jemand nahetritt. Na ja, knurrte Enzio und dachte darüber nach, daß er sich mit seinem ganzen Eifersuchtsaufwand recht übereilt habe. Ich hatte mir gedacht: Kennst du Irene erst einmal, so mag sie dich vielleicht lieber als mich, und dein Verhältnis zu mir würde dann auch anders, wenn du Irene möchtest. – Aber Enzio! fragte Richard erstaunt, was hätte denn eine Neigung zu einem Mädchen mit meinem Verhältnis zu dir zu tun? Enzio schämte sich. Dann trieb ihn die Furcht, Richard könne ihn noch immer für engherzig und kleinlich halten, in ein Gegenteil seiner Empfindungen, und er sagte: Nächste Woche kommt Irene zu mir. Willst du dann auch dabei sein? Richard lehnte dieses zunächst ab, aber Enzio bat heftiger und beteuerte, er müsse dieses tun, so daß er schließlich einwilligte.

Enzio hatte dieses auch nicht zu bereuen, denn im Verkehr zwischen allen dreien änderte sich im Lauf der Zeit nicht das geringste. Richard sprach sich mit neidloser Freude über Irene aus, die, wie er sie nun mehrere Male gesehen, ihm ganz jenen Eindruck bestätigte, den er erwartet hatte. – Nichts – sagte er – geschieht bei ihr wie bei andern Menschen, die ich kenne; bei allem, was sie tut, ist sie stets mit sich im Einklang; auch das Gewöhnliche bekommt bei ihr den Schein des Ungewöhnlichen; Gott weiß, woran das liegt! –

Irene war zunächst ein wenig erstaunt gewesen, als Enzio sie mit diesem selben Freund bekannt machte, den sie nicht kennen lernen sollte. Sie dachte aber nicht weiter darüber nach, und wie Enzio später einmal die Rede darauf brachte, sagte sie nur: Ich finde, man soll gegen seine Freunde immer nett sein. Über Richard selbst äußerte sie sich nicht viel. Erst auf Enzios Drängen gab sie sich Mühe, nachzudenken: Er hat eine schöne Stirn! Und als ihm das noch nicht genug war: Man kann ihm so gut zuhören, ähnlich wie meinem Vater. Enzio, beruhigte dies alles sehr.

Wie furchtbar schade, sagte er eines Tages zu Richard, daß ich nun so bald fortgehe! Jetzt, wo ich dich grade kennen gelernt habe! Wieviel könnte ich noch von dir haben! Und nun soll das alles bald vorbei sein, wir müssen uns viel schreiben! Ich möchte jetzt beinah am liebsten hierbleiben. Aber mein Vater sagt, was du mir einmal von den Konservatorien erzählt hast, wäre Unsinn. Die seien ebenso notwendig für den Musiker wie die Akademie für den Maler. Anderseits atme ich auf, wenn ich erst wegkomme. Mir ist doch so, als wenn das Leben dann erst anfinge. Hier halte ich es für die Dauer nicht mehr aus. Und doch habe ich irgendwie Angst vor einer Veränderung, wenn ich davon spreche, daß ich nun bald allein leben werde, sieht mich meine Mutter manchmal mit so sonderbaren Blicken an. Ich weiß genau, was diese Blicke sagen wollen. Sie denkt dann: Ob er wohl fest genug ist dem Leben gegenüber? Ob er sich nicht unterkriegen lassen wird, sobald er auf sich allein gestellt ist? Und dann werde ich auf einmal melancholisch und weiß selber nicht warum. Mir ist manchmal, als führte ich hier ein Traumleben, vielleicht hängt das auch mit meinem ganzen jetzigen Zustand zusammen, mit meiner Sehnsucht nach einem Mädchen. – Aber du Glücklicher, du liebst doch Irene. – Nein, du verstehst mich nicht! Ich weiß nicht, ob es allen Menschen so geht: Aber mich treibt es oft ruhelos herum. – Ach so, sagte Richard, ja, ich verstehe dich. – In den Augen meiner Mutter sehe ich einen unausgesprochenen Vorwurf und eine Angst um mich, und neulich hat sie es gesagt: Ich weiß, du bist früher reif als andre, aber halte dich von einem Schritt fern, für den du noch zu jung bist. – Merkwürdig! sagte Richard. Da muß doch einmal irgend etwas vorgefallen sein, was du verschwiegen hast. – O, da ist mehreres vorgefallen, das heißt: davon weiß sie nichts und es kam auch nie bis zum letzten Schritt; nur einmal – ja, das weiß sie und das war schrecklich. Da ist es fast zu einer ganz nahen Freundschaft gekommen zwischen mir und einem Mädchen, das bei uns im Hause eine Stellung hatte. Meine Mutter merkte es und sie ward fortgeschickt. Ich habe geheult wie ein Junge, wie sie zum ersten Male »du« zu mir sagte, zu mir, der ich für alle zu Haus »der junge Herr« bin, – – du kannst dir nicht denken, was für ein Schwindelgefühl mich packte. Sie mußte gehen und sollte am nächsten Morgen abreisen. Ich sagte ihr am Abend Lebewohl. Den nächsten Tag war ich todunglücklich, wähnte sie schon weit fort, und am übernächsten Tage – treffe ich sie plötzlich auf der Straße. Denke dir, da war ich sofort gänzlich abgekühlt. Ich verstehe das nicht, ich habe sie doch so geliebt! Dann ist sie wirklich abgefahren. Und jetzt denke ich manchmal: wäre sie doch wieder da! Ich turne, bade, spiele Fußball, mache mich müde und matt mit Spazierenlaufen, wenn ich nicht arbeite und alle diese Ideen über mich herzufallen drohen – und das Spazierenlaufen ist grade das Schlimmste von allem. Ich begreife nicht, daß meine Mutter dieses letzte immer will. Es ist ganz gleich, ob ich hier in der Stadt oder draußen auf dem Land gehe: ich kehre stets mit einem neuen Bilde heim. Ich muß mich beherrschen, denn der Wunsch meiner Mutter ist mir heilig; ihr bin ich alles, alles, und was da auch in ihr Leben eingetreten sein mag – ich will nicht, solange ich es hindern kann, ihr irgendeinen Schmerz bereiten.

So redete er jetzt. Und an einem der nächsten Nachmittage ließ er sich wieder treiben, immer mit dem Vorsatz, bis zu der Grenze des ihm Erlaubten zu gehn: Halbe Erlebnisse, nie zu einem Ende gebracht, und immer mit dem heimlichen Wunsch begonnen, daß sie zu einem Abschluß führen möchten. Dann lief er wieder allein, weite Strecken, manchmal draußen im Feld, auf dem Land, manchmal drinnen im Park, in dem er zwölfmal die Runde machte, und der ihm in seiner Kindheit so unermeßlich weit vorkam.

Dort im Park folgte er einmal einem Mädchen, das bereits diskrete, aber begehrliche Blicke nach ihm ausgeworfen hatte. Sie schien ihm außerordentlich hübsch, und wie sie nun um die Ecke bog und noch einmal zu ihm zurücksah, beschleunigte er seine Schritte.

Enzio?! Auf Don-Juanpfaden?! ließ sich eine Stimme vernehmen, und wie er sich zur Seite wandte, saß da eine Dame, die ihr Gesicht mit dem aufgespannten Sonnenschirm verdeckte und gleichzeitig ihr Kleid etwas in die Höhe raffte, so daß ihr spitzes Schuhwerk und ihre durchbrochenen Strümpfe sichtbar wurden. Er stand erst stutzig, dann, freier gemacht in seinem Impuls durch den Augenblick und durch den entgegenkommenden Ton der Stimme, die ihm bekannt schien, beugte er sich nieder, um unter dem Schirm durch auf ihr Gesicht zu sehn. Sie richtete ihn noch tiefer, ließ dabei ein glockenhelles Lachen hören, hob dann schnell den Arm und zauste ihn an seinem Haar.

Fräulein Battoni! sagte er erstaunt. – Jawohl, ich bin's, mein Engel! Sie richtete ihre blanken Augen mit einem sieghaften Lächeln auf ihn: will der junge Don Juan vielleicht ein wenig Platz bei mir nehmen, oder treibt ihn seine heilige Pflicht von hinnen? – Ich habe absolut keine Pflichten! sagte Enzio errötend, ich ging hier nur ganz zufällig. – Sie drohte ihm listig mit dem Finger: Mach du mir nichts weiß, ich kenne die Stimme deines Blutes! – Diese Worte klangen in ihm erregend nach. Das war, als wenn sie ihn ganz verstünde und irgendwie auf seiner Seite wäre. – Warten Sie hier auf jemand? fragte er, ein wenig verwirrt. – Nein ich warte auf gar niemand! Das heißt, mein guter Engel hat mich doch hier unbewußt auf jemand warten lassen, auf einen andern Engel, – auf dich, Enzio! – Sie lachte, als habe sie einen Scherz gemacht, aber ihre Augen sandten ihm einen tiefen, zärtlichen Blick zu. – Wie die Kinder groß werden! sprach sie nach einer Weile; jetzt, Enzio, bist du voll erwachsen! Ich beneide das Mädchen, das sich von dir umarmen läßt. Bist du noch unschuldig, Enzio? – Darauf antworte ich nicht! sagte er langsam. – Sie erwog schwankend, ob diese Worte auf ein ja oder ein nein hindeuteten, dann traf ihr Instinkt das Richtige und sie meinte: Du möchtest gern nicht mehr unschuldig sein, und hast doch nicht den Mut dazu. – Enzio erhob sich. Sie zog ihn sogleich wieder auf die Bank, und im selben Moment, wo er aufs neue zu sitzen kam, war sie ihm ganz nahgerückt, als mache sie es sich bequemer. Was will sie denn von mir? dachte er erregt, das sieht ja fast so aus, als wenn sie wieder in mich verliebt wäre, und dieses Mal ganz richtig! – Erinnerst du dich noch, Enzio, sprach sie nach einer Pause, wie ich dir früher einmal sagte, ich möchte so jung sein wie du selber? Damals dachte ich: wäre er doch so reif wie ich – das gäbe ein schönes Paar zusammen. Ach, mein Gott, wie schnell sind die paar Jahre inzwischen verflossen. Und doch – fuhr sie nach einem kleinen Schweigen fort, da er diese Worte nicht zu hören schien – du wärst mir zu jung, Enzio! Du bist zu knabenhaft. – Er machte eine unwillkürliche Bewegung mit dem Kopf, als ob er widersprechen wolle. – Ja, ja, das ist leider wahr! sagte sie in einem beinah sorgenvollen Ton, du bist noch viel zu sehr ein Kindskopf!

Das junge Mädchen, dem Enzio zuerst gefolgt war, kam zurück, offenbar verdutzt, wo er geblieben sei. Als sie ihn neben der eleganten, noch immer schönen, etwas üppigen und aus abenteuerlichen Augen frei heraussehenden Dame sitzen sah, die gar nicht anders konnte, als ihr einen halb nachsichtig-triumphierenden Blick zuzuwerfen, indem sie ihre Stellung durchaus nicht veränderte, drehte sie wieder um und verschwand dann in etwas schnellerer Gangart hinter dem Gebüsch.

Geh ihr nach, Enzio! sprach Fräulein Battoni; sage ihr, ich habe dich geschickt, weil sie mir leid täte. Mach nicht so dumme Augen, Enzio, es steht dir schlecht, denn du hast die schönsten Augen von der Welt, wenn du nur willst! Er wollte sich wirklich erheben, da er nun gemerkt hatte, daß alle Verstellungskunst ihr gegenüber übel angewandt und unnütz sei. Sie hielt ihn aber noch einmal zurück: Es war ein hübscher Zufall, daß wir uns hier begegneten, vielleicht läßt er uns noch einmal zusammentreffen. Aber sichrer ist, man hilft ihm nach, obgleich ich die Zufälle liebe. – Dann schlug sie ihm einen Nachmittag vor, an dem sie sich hier wieder treffen wollten, genau um dieselbe Stunde. Enzio versprach alles, küßte ihr die Hand und ging davon. An der Ecke sah er sich noch einmal um und nickte. Sie nickte ebenfalls und machte eine wedelnde Bewegung mit der Hand. Dann suchte er das verschwundene Mädchen, geriet auf einen unrichtigen Pfad und fand sie nicht mehr. – Kokett, furchtbar kokett! murmelte er, indem er wieder an Fräulein Battoni dachte, was will sie nur von mir? Sollte sie wahrhaftig in mich verliebt sein? Sie ist doch noch immer wunderschön!



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