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In den nächsten Tagen geht mein Vater in die Operationsklinik von Professor Julius Wolff. In der Stadt heißen sie ihn den Knochen-Wolff. Brustkarzinom lautet die Diagnose. Es geht auf Leben und Sterben!

Es geht aufs Sterben, sagt mein Vater – und sein Lächeln ist nicht von dieser Welt.

Wir gehen stumm und gedrückt einher. Über unseren Häuptern schlägt der Engel des Todes die Fittiche zusammen. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In einer der letzten Nächte, die der Vater in unserem Hause – auf dieser Erde zubringt, wird er mitten aus dem Schlaf geweckt.

Senzens schwarze Anna steht mit wirren Haaren im Flur.

Um des Herrgotts willen möchte der Herr Doktor auf der Stelle herunterkommen, das Fräulein Grete liege in Krämpfen, verdrehe die Augen und kralle in Todesqualen die Finger in die weißen Kissen.

Der Vater schleppt sich mühselig die Treppe herunter.

Auf seinen stummen Wink verlassen Frau Senz und Else mit verstörten Gesichtern das Zimmer.

Nun richtet sich Grete Senz in ihren Kissen auf, kreidebleich ist sie … und das schwere, blonde Haar fällt ihr aufgelöst über die weißen, schmalen Schultern.

Klar sind ihre Sinne.

Zwei dem Tode geweihte Menschen sehen sich ins Antlitz – ein alter Mann und ein blühendes, junges Menschenkind.

Sie weiß, daß sie sterben muß – und keine Todesangst verzerrt die einzig schönen Züge, wenn auch der Leib sich unter Schmerzen krümmt. Mit übermenschlicher Kraft und gebrochener Stimme beichtet sie meinem Vater und gibt ihm am Ende die engbeschriebenen Blätter, auf denen sie den Jammer ihres Daseins gebucht hat. Um einen letzten Liebesdienst fleht sie, der Vater soll Mutter und Schwester nichts verraten, damit Else den Weg zum Altar findet und die Mutter nicht zusammenbricht.

Der Vater nickt mit eherner Miene der Weggenossin zu und streichelt sanft ihre Hand, die kälter wird.

Sie weiß, daß er ihr Wort halten wird. Niemanden will sie sehen. Schwer sinkt der Kopf in die Kissen – ein schwaches Lächeln huscht um die fein gezeichneten Lippen, und leicht und tänzerisch schwingt ihre starke Seele sich in das Reich der ewigen Schatten.

Der Totenschein von Margarete Senz war der letzte, den mein Vater in seinem Leben geschrieben hat. Er lautete auf Sepsis.


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