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Was hatte es mit dem Gemunkel über die Familie Senz auf sich? Lange zerbrach ich mir darüber den Kopf, bis ich des Rätsels Lösung fand. Frau Senz war eine wunderschöne zarte Dame, die uns Kindern wie ein Wesen höherer Art erschien. Sie sprach mit einem leichten, fremdartigen Akzent, der dem Ohre wohltat. Ihre Bewegungen waren voller Anmut, und ihr Gesicht hatte einen traurigen Zug, der von stillen Leiden Zeugnis ablegte.

Herr Ludwig Senz wurde im ganzen Hause nur der Graf genannt; er war über sechs Fuß hoch und hatte in der Tat das Aussehen eines Aristokraten. Uns Kindern imponierte er mächtig, obwohl ich mich kaum erinnere, daß er sich jemals mit uns abgegeben hätte. Aber zuweilen schritt er mit einer Laterne und einem Bund Schlüssel über den Hof, und hinter ihm ging das Dienstmädchen mit einem großen Korbe. Dann schloß Herr Ludwig Senz seinen Weinkeller auf, der im zweiten Hofe lag, und der Korb wurde mit Rheinwein, Champagner und Burgunder gefüllt. In diesem Keller bin ich niemals gewesen, in meiner Phantasie jedoch sah ich die Bouteillen mit ihren Strohgewinden vom Erdboden bis zur Decke aufgestapelt. Der Weinkeller war für unser Empfinden ein untrüglicher Beweis für den märchenhaften Reichtum der Familie Senz, wenn es eines solchen überhaupt noch bedurfte. Denn wir Kinder hatten nie zuvor soviel Glanz und Herrlichkeit beisammen gesehen. Wir konnten uns gar nicht genug tun, wenn wir von den hechtgrauen Seidenmöbeln erzählten, die in dem sogenannten Salon standen, oder von dem wuchtigen, eichenen Büfett und den stolzen Lutherstühlen, mit denen der Speisesaal eingerichtet war. Und in den schweren, weichen Teppichen, mit denen alle Zimmer belegt waren, meinten wir zu versinken. Es konnte in einem Grafenschloß nicht schöner sein. Das Allerschönste aber waren die beiden Senz-Mädel Else und Margarete, mit denen meine Schwester Helene bald die gleiche enge Freundschaft verband, die Walter Senz und mich verknüpfte. Ich schwelge noch heute in der Erinnerung, wenn ich an die drei lieblichen Mädchen zurückdenke.

Else Senz hatte von der Mutter die leise Schwermut und den Glanz der dunkelbraunen Augen geerbt. Sie hatte das nämliche blonde, leuchtende Haar wie ihre Schwester Margarete, neigte jedoch ein wenig zur Fülle.

Die Jüngere war im Gegensatz zu ihr schlank wie eine junge Birke. Sie hatte die Zierlichkeit eines Rokokofigürchens, ihr Gang war von einer unnachahmlichen Grazie. Wer nicht tiefer zu sehen vermochte, hätte sie wegen ihrer strahlenden Lebensfreudigkeit, mit der sie das ganze Haus erfüllte, für ein übermütiges, leichtes Geschöpf halten können. Sah man aber in ihre schimmernden Augen, die auf ganz seltsame Art zuweilen die Farbe wechselten, so ahnte man, daß auch dieses Seelchen seine Abgründe hatte und den Menschen nur die leuchtende Oberfläche ihres Wesens zeigte, unter der das Geheimnis ihres Daseins und eines außergewöhnlichen, verwegenen Geistes verborgen lag. Denn in ihr war noch einmal die großzügige Phantasie und die entschlossene Geistesrichtung der seltsamen Frauen aus der Zeit der Romantik lebendig geworden; davon aber sollten ihre Freunde erst nach ihrem tragischen Tode Kenntnis erhalten.

Und zwischen diesen beiden Frühlingsgestalten stand meine braunäugige Schwester Helene, von ganz anderer Rasse und ganz anderem Schlage, aber wie sie umflossen von dem goldenen Schimmer holdseliger Jugend. Wer in unserem Hause wurde nicht angesteckt von dem silbernen Lachen der drei Mädchen, wer blickte nicht ihrer jungen Schönheit nach, wenn sie Arm in Arm geschlungen des Weges zogen.

An jedem Nachmittag kam Kandidat theol. Johann Kern in das Senzsche Haus. Unter seiner Aufsicht fertigten die Mädchen und Walter Senz ihre Schularbeiten an. Der Kandidat war ein bartloser, lang aufgeschossener Mensch mit stahlgrauen, durchdringenden Augen unter einer mächtig gewölbten Denkerstirn. Sein kluges, geistreiches Gesicht hatte das leidende Aussehen eines Schwindsüchtigen. Die Senzschen Kinder fürchteten seine Strenge, aber niemals wagten sie es, über ihn Klage zu führen. Herr Johann Kern schien das Senzsche Haus heimlich zu regieren. Nach dem Unterricht erwartete ihn Frau Senz in ihrem Boudoir, um mit ihm auf französisch und italienisch Konversation zu machen. Nicht selten blieb er über den Abend und ersetzte bei Tisch den Hausherrn, der in der Regel abwesend war. Wir Kinder durften in seiner Gegenwart kein lautes Wort sprechen und atmeten befreit auf, sobald man uns in das Spielzimmer ließ. Uns schien es, als ob Frau Senz Furcht vor dem Kandidaten hätte. Sie hing, wenn er sprach, wie gebannt an seinem Munde und war jedes Winks gewärtig. Einmal meinten wir im Nebenzimmer zu vernehmen, wie der Kandidat mit strengen Worten sie anfuhr, und wie sie leise und demütig in sich hineinweinte. Wir waren eine Weile ganz still, bis Grete Senz das Schweigen unterbrach und mit funkelnden Augen beteuerte, eines Tages würde sie den Kandidaten vergiften. Dieser Ausbruch erschreckte uns derartig, daß wir sie inständig baten, von dergleichen sündhaften Gedanken zu lassen, die ihr Gott niemals verzeihen könnte. Grete Senz verschränkte die Arme.

»Ihr kennt mich alle nicht,« sagte sie, »und werdet noch etwas Schreckliches an mir erleben.«

Obwohl wir nun verängstet in sie drangen, sich näher zu erklären, gab sie uns doch keine Antwort, schloß vielmehr die Lippen fest aufeinander und zog die Augenbrauen ein wenig empor. Ein trotziger Ernst war über sie gekommen, der fremdartig von ihrem sonst so heiteren Wesen abstach. Uns wurde beklommen zumute. Da öffnete sich die Tür, und Rabbiner Rubinsteins Sohn Hugo wünschte uns einen guten Abend.

Er war ein melancholischer Judenjunge mit schönen, glänzenden, schwarzen Locken und mandelförmigen, immer fragenden Augen, etwas älter als die Mädchen. Heimlich dichtete er.

Walter Senz hatte mir erzählt, daß er ein miserabler Schüler sei, aber die besten deutschen Aufsätze mache. Das letztere erfüllte mich mit Neid, das erste gönnte ich ihm. Denn uns Jungen gegenüber spielte er sich wie ein erwachsener Herr auf, der uns erziehen wollte.

Die Mädchen fanden ihn »interessant«. Er las ihnen aus seinem Drama »Spartacus« vor, für das sie schwärmten, während Walter Senz und ich es für Blech erklärten. Ein Urteil, das uns teuer zu stehen kam, denn die Mädchen duldeten nicht mehr, daß wir den weiteren Vorlesungen beiwohnten.

Hugo Rubinstein verehrte Else Senz. Er hatte auf die Wand des Treppenflurs mit roter Kreide ein Herz gemalt, das die verschlungenen Buchstaben H und E enthielt. Walter Senz fand, daß dies eine Gemeinheit sei, und haßte ihn von ganzer Seele. Hierin bestärkte ich ihn nach Kräften. Dennoch muß ich zugeben, daß auch wir uns dem Reize seiner Persönlichkeit nicht völlig entziehen konnten.

Eines Abends holte er einen kleinen Goldschnittband aus dem Jackett hervor und legte ihn mit einer feierlichen Gebärde auf den Tisch. Ein Weilchen warteten wir gespannt auf das, was nun folgen würde. Er sah uns erst der Reihe nach prüfend an, dann sagte er langsam, jede Silbe betonend: »Es ist das Buch der Lieder von Heinrich Heine – das Schönste, was je ein Mensch gedichtet hat,« fügte er hinzu.

»Konnte denn der besser dichten als Sie?« fragte Walter.

Hugo Rubinstein lachte wehmütig auf, während Else Senz dem Bruder einen drohenden Blick zuwarf.

Und nun las er mit seiner ausdrucksvollen Stimme ein Gedicht nach dem anderen uns vor, und wir lauschten mit verhaltenem Atem.

Als er geendet hatte, glänzten in den Augen der Mädchen Tränen. Auch wir Jungen waren ein wenig gerührt, obwohl wir uns des Gefühls im Innern schämten.

Hugo fuhr mit der Hand über seine runde, hohe Stirn und lehnte sich erschöpft zurück.

»Heinrich Heine,« sagte er, »wurde in Düsseldorf als Jude geboren, ließ sich taufen und ging nach Paris, wo er auf seiner Matratzengruft eines elenden Todes starb.«

Diese kurze Lebensbeschreibung Heinrich Heines beschloß den Abend. Denn gerade als ich eine Frage an ihn richten wollte, betrat Frau Senz das Zimmer.

»Kinder, es ist Zeit zum Schlafengehen,« sagte sie, »gute Nacht insgesamt!« …

Es kann nicht geleugnet werden, daß wir an dem Abend vor Heinrich Heine und Hugo Rubinstein einen heiligen Respekt empfanden.


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