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Tagebuchblätter von Grete Senz.

Leutnant Dorn hat mich geküßt – und ich habe ihn wiedergeküßt, und das Tollste dabei ist, ich verspüre keinerlei Reue. Nun, gehe deinen Weg, mein Schicksal. Ich fühle, ich gleiche einem Stein im Rollen, es gibt kein Aufhalten mehr. Wie das alles gekommen ist – ich vermag heute nicht mehr alle Stationen meines Widerstandes aufzuzählen bis zu dem Augenblick, in dem meine Kraft zerbrach.

Er hat gefühlt, daß ich nicht weiter konnte, und dennoch wäre es feig und frivol, wollte ich behaupten, er hätte sich meine Schwäche zunutze gemacht. Ich glaube überhaupt nicht an die verführten Mädchen. Es scheint mir entwürdigend und schwächlich, daß, wenn ein Mann und eine Frau ihren Trieben folgen, man den einen Teil sozusagen als den »verführten« in Schutz nehmen will. Eine Frau, die sich als verführt hinstellen will, verdient das Prädikat schwachsinnig. Wie kann man überhaupt mit Leidenschaft und Liebe den Begriff Schuld verknüpfen – zwei Menschen, die sich in Seligkeit umfangen, sollen schuldig sein? Lieber Gott, was haben die Menschen für Gesetze gezimmert – und wo gerate ich hin?

Ich habe Leutnant Dorn geküßt – basta. Mit Schwesterlippen?! Ich will nicht diese quälenden Fragen! Weshalb bohrt und sägt unablässig meine Phantasie, um die dünne Scheidewand niederzureißen, die mich noch mit den Sittlichkeitsbegriffen der bürgerlichen Welt verbindet?

Leutnant Dorn ist wie ein ehrlicher Mann vor mich hingetreten und hat das Wort gesprochen, das allein unseren Fall kennzeichnet.

›Sie und ich, wir sind beide in gleichem Maße schuldig. Sie und ich! – Sie, weil Sie Versteck mit mir gespielt haben – und ich, weil ich mich täuschen ließ und wie ein dummer, gekränkter Junge Konsequenzen zog. – Ach, Fräulein Grete, was soll nun werden? Ist es denn menschenmöglich, daß wir daran zugrunde gehen sollen?‹

Bei diesen Worten sah er mich so tieftraurig an, daß mir das Herz stillstand; ich wandte mich ab, weil ich seinen Blick nicht ertragen konnte. Aber Leutnant Dorn beugte sich über mich herab und küßte mich, und da schlang ich meine Arme um seinen Hals und küßte ihn wieder.

Verdamm' mich Gott, ich konnte nicht anders. Ich spüre, wie die mir anerzogenen Anschauungen zerbröckeln. Ich wehre mich, durch mein Sonderschicksal aufgerüttelt, gegen eine veraltete Moral, und ich beginne aus Selbsterhaltungstrieb, um überhaupt noch zu existieren, die alten Tafeln zu zertrümmern. Und das Ende – wie wird das Ende sein? Komme was da wolle, ich gehe meinen Weg, und wenn ich versinke!

Am Abend desselben Tages.

Walters Augen verfolgen mich. Er quält mich bis aufs Blut mit seinen stummen Anklagen. Was will der dumme Junge von mir? Ich weiß, er haßt Leutnant Dorn und traut ihm nicht über den Weg. Er bildet sich ein, ich sähe in Dorn eine übermenschliche Heldengestalt. Er sucht mich durch giftige Bemerkungen herauszufordern. Es soll ihm nicht gelingen.

Es ist nicht wahr, daß Neigung verblendet macht – sie schärft nach meinem Dafürhalten die Augen. Vielleicht haben die anderen recht, wenn sie behaupten, Dorn sei ein banaler Mensch, in dessen Seele keine tieferen Gedanken wachsen. Was tut das mir – offenbar bin ich auch kein zartbesaitetes Menschenkind, wenn mich seine brutale Männlichkeit fasziniert, wenn allein seine körperliche Nähe mein Blut schon zum Sieden bringt. Nichts ist heimtückischer und verwerflicher, als sich beständig besser machen zu wollen, sich Masken anzuziehen, um seine Mitmenschen zu täuschen und ihnen ein Bild vorzuspiegeln, das mit der Wahrheit nichts gemein hat.

Wenn es sich um den Körper handelt, soll man beim Körper bleiben und nicht von der Seele faseln. Und wenn eine Frau liebt, handelt es sich um ihren Leib – denn mit dem Leibe und nicht mit dem Hirn bringt sie die Kinder, nach denen sie sich sehnt, zur Welt.

O Gott, wenn Helene diese Zeilen zu Gesicht bekäme, sie würde mich für eine Dirne halten und sich die Augen aus dem Kopfe schämen. Vielleicht ist in mir etwas Dirnenhaftes – aber vielleicht muß eine Frau bis zu einem gewissen Grade Dirne sein, will sie ihr Geschlecht nicht verleugnen.

Ich habe ein heimliches Vergnügen daran, daß ich so weit bin, solche Sätze niederschreiben zu können. Diese Bekenntnisse sind mein letzter Halt. Irgendwo habe ich den Ausspruch einer dichtenden Frau gelesen: Hätte ich nicht im Dichten und Fabulieren ein Asyl gefunden, so wäre ich unbedingt Hetäre geworden. Das heißt zu deutsch: Das Schreiben und Dichten ist den Frauen nur ein Surrogat für unbefriedigtes Liebesleben …

Else schreibt mir sentimentale Briefe aus dem Pfarrhause – sie schwimmt beständig in Tränen. Ich lese diese Schreibereien mit einem bösen Lächeln. Jochimke – Jochimke, hüte di! – … Zwischen den Zeilen bettelt sie um mein Verzeihen und nennt mich das »herrlichste und selbstloseste Geschöpf auf Gottes Erde«. Nein, liebe Schwesterseele, auf den Leim krieche ich nicht!

In meiner Todesstunde will ich es dir nicht vergessen, daß du mich um mein Lebensglück betrogen und mir den Verzicht auf »ihn« abgewinselt hast. Wir sind quitt! – Daß ich schwach genug war, mich von deinen Tränen erweichen zu lassen, nimmt nichts von deiner Schuld. Du hast gefühlt, daß es Leutnant Dorn zu mir drängte, du hast gefühlt, daß mein Blut ihm entgegenklopfte, hast gewußt, daß du mir den Lebensnerv zerschneidest, und hast nicht gezaudert, von mir Übermenschliches zu fordern. Was soll mir deine Rührseligkeit hinterher! Ich sehe dich im Pfarrhause – wie du dich deiner Umgebung in Ton und Geste anpaßt, die Augen fromm niederschlägst und mit dem silberbeschlagenen Gebetbuch deinen Kirchgang zurücklegst. Pastor Schmeidler von der Jerusalemer Kirche hätte seine helle Freude, wenn du ihm in den Weg treten würdest.

Ich sehe, wie du dich abends in deinem Bette aufrichtest und tränenüberströmt Gott und Jesus Christus zu Zeugen deiner Schuldlosigkeit anrufst!

Schwester! Laß Gott und Jesum Christum aus dem Spiel, sie haben nichts zu schaffen mit diesem erbärmlichen Handel. Und wenn ich heute ein Ende mache und mir eine Kugel durch den Kopf schieße, so geschieht es nicht deinetwegen. Nein, liebe Schwester, noch bin ich nicht so weit. Ich strecke nicht die Waffen. Ich stehe aufrecht da und kämpfe. Mein Sterben brächte dir keinen Frieden und ihm kein Glück. Warum müssen drei Menschen elend werden, wenn es genügt, daß einer zugrunde geht und für die beiden anderen Raum schafft. Wäre es nicht das Simpelste und Natürlichste, ich schüfe Klarheit und spräche zu dir: Gib ihm sein Wort zurück, denn er liebt mich und ich liebe ihn. Ich habe den ehrlichen Versuch gemacht, dir das Feld zu räumen, umsonst. Gott wollte es nicht! Jetzt zeige du, wes Geistes Kind du bist! Zugegeben, es wäre das Geradlinige, das Einleuchtende! Und das Resultat? Entweder würde sich Else um den Verstand heulen, oder ins Wasser gehen – und ich und er, wir wären die von dieser Welt Gerichteten. Mitten in mein nächtliches Geschreibsel klingen die Töne des danse macabre, niemand spielt sie, aber die Melodie singt und klingt in meinen Ohren, ein schauriges Notturno, und die schwarzen Buchstaben auf dem Papier tanzen wie Holbeinsche Totengerippe im Takte nach der Musik. Konsequenzen ziehen ist das Lebenswort des Leutnants Dorn. Der Leutnant Dorn ist superklug. Ich begreife, daß ein aus seiner Bahn geschleifter Mensch Religion und Sitte über Bord wirft und hohnlachend hinwegschreitet über das, was man menschliche und göttliche Ordnung nennt. Leere Vokabeln für ein frei gewordenes Individuum – frei wird das arme Menschenkind, wenn es ihm an die Gurgel, oder sage ich besser, wenn es an sein Blut und an seine Seele geht.

Ich ziehe jetzt nach Leutnant Dorns Maximen Konsequenzen. Es ist kein Verbrechen – Notwehr ist es, wenn ich den aus dem Wege räume, der mir den Boden abträgt, mir die Kehle zuschnürt. Vor die Frage gestellt: ich oder der andere – antworte ich kaltblütig und tatentschlossen: der andere.

Ein Kapitel niederträchtiger Heuchelei enthalten die Sätze: Im Kriege sollst du deinem Feinde eine Kugel durch den Kopf jagen, im Frieden darfst du deinen Gegner im Duell niederknallen, aber wehe dir, wenn du still und geräuschlos den kalt machst, der, auf Ring oder Eheschein pochend, dir das Lebensglück stiehlt. Ich verkünde für die Liebenden, sofern alle anderen Auswege verrammelt sind, das Evangelium des Mordes. Ich verkünde – – –

Nein, und tausendmal nein, ich tanze wie eine Irrsinnige über Abgründe – ich rede mich um meine Seligkeit – Fieberängste wirren und schütteln mich, Mutter Gottes, hilf meiner armen Seele, ehe sie zerbricht!


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