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31

In der Zeit lud mich mein alter Onkel Isaak ein, mit ihm die Freuden seines Junggesellenlebens zu teilen und ein paar Wochen bei ihm zu leben. Ich nahm dankbar an, denn wir beide verstanden uns gut. Du erinnerst dich, mein lieber Leser, daß der Onkel draußen im Tiergarten wohnte und von seinem kleinen Balkon aus über das Grün der Bäume hinwegsehen konnte. Auf diesem Balkon nun nahmen wir in aller Frühe unseren Tee ein. Des Onkels Dienerin, eine bärbeißige, wortkarge Person, störte uns nicht den Appetit und die behagliche Laune. Denn Eier und Butter waren frisch, und der Honig mundete uns trefflich. Aber was bedeuteten die leiblichen Genüsse im Vergleich zu den geistigen Leckerbissen, mit denen der Onkel aufzuwarten verstand.

Sein Geist blieb ewig jung und schmiegsam – ein Vergnügen war es, ihm zuzuhören, wenn er über Politik, Wissenschaft oder Kunst sprach. Mit ein paar Strichen wußte er einen Charakter zu zeichnen, und mit einer liebenswürdigen Bosheit fand er den lächerlichen Punkt eines jeden Menschenkindes heraus. An mir hing der alte Mann mit einer rührenden Treue – er glaubte an mich – aber die Unsicherheit meiner Zukunft flößte ihm doch Sorgen ein. –

»Junge, Junge, du wirst hart zu kämpfen haben,« pflegte er zu sagen – und indem er mich prüfend betrachtete, fügte er hinzu: »Dir wird das Leben nichts ersparen – ich lese es dir von der Stirn.«

»Onkel, was tut's? Ich tauge nicht für ein faules Dasein – ich ziehe mir ein Leben vor, in dem einem der Wind die Haare zaust.«

Der Alte zog die weißen, struppigen Augenbrauen in die Höhe: »Junge, so redet die Jugend – hat dir erst einmal das Leben seine Blessuren geschlagen, wird dir anders zumute werden. Eines versprich mir vor allem: verplempere dich nicht. Fall nicht auf irgendein kleines Mädel herein, sondern halte dich. Ein goldenes Ruhekissen ist auch ein gutes Gewissen – und als armer Teufel sich durchs Leben schlagen, ist gerade kein Pläsier!«

Ich muß zu diesen Ratschlägen ein mehr als verdutztes Gesicht gemacht haben, denn der Onkel erhob sich plötzlich und winkte mir stumm. Er ging in sein Studierzimmer, in dem der altertümlich geschnitzte Großvaterstuhl vor dem kleinen, mit Büchern angehäuften Schreibtisch stand, und wies schweigend auf die Wand. Da hing das Bild der seligen Tante, umrahmt mit einem Immortellenkranz, und blickte streng und ernst auf uns herab.

Die Tante hat bei ihren Lebzeiten in der ganzen Familie als eine hervorragende Frau gegolten, deren eisernem Regiment auch der Onkel sich nicht entziehen konnte. Ihrer rauhen Energie hatte sich ein jeder im Hause beugen müssen. Und mancherlei artige Geschichten wurden erzählt, nach denen sich der Onkel, wenn auch knurrend und widerstrebend, seiner eigenmächtigen Ehehälfte hatte unterordnen müssen. Vierzig Jahre hatte der Onkel sein schweres Hauskreuz getragen – und erst nach dem Tode seiner gestrengen Frau begann das Dasein für ihn gefälligere Formen anzunehmen.

Er stand mit mir vor dem Bilde – und seine Züge verfinsterten sich in der Erinnerung an diese harten Zeiten.

»Sieh sie dir einmal genau an,« sagte der Onkel, während er selbst jeden ihrer Züge gleichsam nachprüfte.

Ich folgte seinem Geheiß und wartete in begreiflicher Spannung auf die Bekenntnisse, die nun folgen sollten.

Aber der Onkel machte plötzlich linksum kehrt, seufzte kaum vernehmlich und sagte lakonisch: »Reden wir nicht darüber.«

Dann strich er mit der Hand durch sein wallendes, weißes Haar, als wollte er mit dieser einen Bewegung lästige Bilder der Vergangenheit weit von sich scheuchen. Keine Erzählung hätte beredter sein können als diese erschütternde Geste.

In den nächsten Tagen schien mir der Onkel merkwürdig verändert. Vielleicht mochten ihn seine Konfidenzen mir gegenüber gereut haben. Er hatte etwas Ranziges im Ton, spottete über Gott und die Welt und war gegen sich selbst von einer schneidenden Ironie, die mir wehe tat. Als wir eines Morgens beim Tee saßen und die Zeitung lasen, explodierte seine üble Laune. Er war auf eine Notiz über die Frauenemanzipation gestoßen, die damals gerade aufkam. Der Onkel lachte grimmig auf. »Das ist der größte Schwindel des Jahrhunderts,« sagte er wütend. »Demagogie im schlimmsten Sinne. Man möchte mit beiden Fäusten dreinschlagen, wenn man die Phrasen liest. Die Jahrhunderte hindurch unterdrückte Frau … gefesselte Geisteskräfte, die ans Licht drängen … et cetera. Daß man den tollen Unsinn noch miterleben muß! Und das Schlimmste ist, diese Narreteien werden die Köpfe verdrehen. Jede unklare Idee hat noch immer ihre Anhänger gefunden, nur gegen ernste Probleme wendet sich die träge Menschheit. Du wirst es noch mit ansehen, mein Junge, wie nur noch flachbusige, bebrillte Frauenzimmer herumlaufen, die mit der Zigarre im Maul das neue Evangelium verkünden. Unterdrückt – Jahrhundertelang, solches Gefasel! Man möchte aus der Haut fahren. Wer hat den Frauen verboten zu dichten, zu musizieren, zu malen! Und was ist dabei herausgekommen, nicht so viel!« Er knipste verächtlich mit den Fingern, und ein stumpfes Rot trat unter seinen Bartstoppeln hervor. »Und dabei sollte man doch meinen, daß in den freien Künsten, wo das Gefühl eine solche Rolle spielt, das Genie der Frau hätte ruchbar werden müssen. Wo ist nun die Neunte Symphonie, die eine Frau komponiert – oder der Faust, den ein Unterrock gedichtet hätte! Ich bitte aufzuwarten! Äh!« machte er, »es ist zum Kotzen! Die ganze Misere des Daseins kommt überhaupt nur von den Weibsbildern her – so zu lesen schon im ältesten Gedichtbuch, der Bibel. Ich habe immer gefunden,« fuhr er bissig fort, »daß alle Dichter, die die Psyche der Frau untersucht haben, die reinen Hanswürste sind im Vergleiche zu dem Poeten, der die Bibel verfaßt hat. Von Eva bis zu Maria Magdalene, welch eine Galerie durchtriebener und geriebener Frauenzimmer, die vor keinem Lug und Trug, Ehebruch und Mord zurückschrecken!«

Der Onkel wurde immer hitziger und cholerischer. Zum ersten Male empfand ich, daß er und mein Vater dasselbe Blut in den Adern hatten. »Und daß die Geschichte der Weibsgemeinheit mit der Erschaffung der Welt beginnt, daß die Heilige Schrift die Tragödie der Menschheit auf die Naschhaftigkeit, Neugierde und Wortbrüchigkeit der Frau aufbaut,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »habe ich immer als eine besondere, hellseherische Feinheit empfunden. Die Vertreibung aus dem Paradiese, durch die der Mensch aus seiner Unbewußtheit erwacht und zum Last- oder Arbeitstier wird, gehört zu den tiefsten Symbolen, die ein menschliches Gehirn ersonnen hat.«

Er hielt einen Augenblick inne und schöpfte tief Atem.

»Was willst du dagegen sagen: Delila saugt dem Simson das Mark aus den Knochen und stiehlt ihm Kraft und Schönheit – Judith mordet im Bette den Holofernes und wird dafür gepriesen – das Weib des Uria buhlt mit David, während der Mann draußen im Kampfe steht – und Salome trennt das Haupt vom Rumpfe des Jochhanaan. Ich habe den soupçon, daß auch bei der Kreuzigung Christi ein Weib die Hand im Spiel gehabt hat – ich lasse es mir nicht ausreden.«

»Onkel,« rief ich lachend, »da sieht man ja, zu welch abenteuerlichen Konjekturen dich dein blinder Zorn treibt.«

»Du wirst auch noch ein Skeptiker in puncto Frau werden, mein Junge,« antwortete er gelassen. »Da faselt man immer von der Hörigkeit der Frau – das Umgekehrte ist der Fall. Das dümmste Weib bringt es noch fertig, dem gescheitesten Mann Hörner aufzusetzen und ihn obendrein zu ihrem Kuli zu machen.«

Ich fühlte mich von diesen Reden abgestoßen. Ich erkannte den Onkel nicht wieder. Er, der bei den Damen sich der größten Beliebtheit erfreute und noch auf seine alten Tage als ein galanter Herr galt, der durch seine geistreiche und kavaliermäßige Art den Wettkampf mit den Jüngsten aufnahm, spie soviel Gift und Galle gegen das schönere Geschlecht aus, daß mir unheimlich zumute wurde. Sind das graue Theorien oder Lebenserfahrungen, dachte ich im stillen – und der Immortellenkranz um das Bild der seligen Tante tauchte vor mir auf. Aus dem Onkel vermochte ich in dieser Stunde nicht klug zu werden. Dabei hielt er, wie ein Raubvogel seine Beute, das angeschlagene Thema fest und redete unablässig, während seine hellen Augen leuchteten und funkelten.

»Jungchen, heirate nicht – vom Heiraten kommt das ganze Elend. Hier beginnt das soziale Problem – hier setzt der Besitzwahnsinn ein – hier tauchen alle Zweifel und alle Tragiken auf. Mein Haus? Meine Frau? Mein Sohn? Ich bitte um Beweise, um bündige Beweise, meine Herrschaften! Ein Mann, der ins Ehebett steigt, ist in dem Momente schon geliefert – ist ein Hahnrei und ein Harlekin. Die Frau zieht das Korsett aus und alle Gemeinheiten an. Ein miserables Ding ist die Ehe! Die Glücksspiele verbietet man – die Lotterie erlaubt man in beschränktem Maße – nur die Ehen, die das frivolste Spiel auf dieser Erde sind, hat man heilig gesprochen. Es ist zum Lachen!! Ein Männlein und ein Weiblein tun sich zusammen, wildfremde, in sich abgeschlossene Wesen, denen naturgemäß die innersten Berührungen fehlen – sollen nun auf Lebzeiten wie Galeerensklaven aneinandergekettet sein! Gibt es auf dem Planeten eine infamere Institution? Ich sage nein, und dreimal nein. Lieber Junge, ich bin nicht der erste, dem solche Erkenntnis aufdämmert. Es gehört zum Wesen des besseren Menschen, daß er auf seine alten Tage im Denken und Handeln freier und unabhängiger wird. Siehe Goethe! Was für Bettelsuppen kochen im Vergleich zu ihm unsere Radikalen – man müßte aus dem Wilhelm Meister und den Wahlverwandtschaften Goethes Manifeste über neue Formen und Bedingungen des Daseins herausziehen und sie der Menge zugänglich machen. Kein modernes Problem, das hier nicht angeschnitten, dessen Lösung hier nicht versucht ist. Ehe auf Kündigung schlägt Goethe vor, Verträge, die nach Ablauf einer bestimmten Zeit zu lösen sind. Darüber läßt sich reden, meine Damen und Herren, oder vielmehr, darüber ließ sich bis zum heutigen Tage nicht reden, denn die Siebenmalweisen haben solche Ketzerideen nicht für diskutabel gehalten. Auch gut! ????sóåôáé ?ìá ?ô ?í! Ich werde längst verfault sein – aber du wirst es vielleicht noch erleben.«

Der alte Herr hielt erschöpft inne. Er hatte sich heiß geredet, und wischte sich mit dem geblümten, großen Taschentuche den Schweiß von der Stirn. Ich entgegnete kein Wort – stand ich doch unter dem Eindruck, als ob der Onkel den ganzen Monolog mehr für sich gesprochen hatte, ohne Rücksicht auf den Zuhörer.

An dem Morgen ahnte ich nicht, daß dies die letzte große Rede sein sollte, die dem Onkel in diesem Dasein beschieden war. Beim besten Wohlsein, wenn auch etwas abgespannt, verließ ich ihn. Wer vermag den Eindruck zu schildern, als ich zurückkehrte und die Magd händeringend, schreckensbleich und mit verheulten und verzerrten Zügen stumm auf die Tür des Schlafzimmers wies. Da lag der Onkel, hilflos wie ein Kind, in seinen Kissen. Die rechte Seite war ihm gelähmt.

Der aus der Nachbarschaft herbeigeholte Arzt hatte einen Schlaganfall festgestellt. Der Onkel Isaak sah mich mit einem erbarmungswürdigen Blick an. Mich dünkte es, als ob sein breites Gesicht sich in die Länge gezogen hätte. Er versuchte krampfhaft die Lippen zu öffnen und zu reden – aber kein Laut entrang sich ihm. Er winkte mir mit einer stummen Bewegung – ich mußte am Rande seines Bettes niederknien, und nach der Art jener alten Leute, die sich im Angesicht des Todes mit höheren Kräften begabt fühlen, sah mich der Onkel mit schon halb gebrochenen Augen ein Weilchen still an, dann legte er wie segnend seine Hände über mein Haupt. Ich hätte wie ein Hofhund heulen mögen – aber vor der Majestät des Todes verstummte ich.


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