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Ich habe bisher die Geschwister nur flüchtig erwähnt. Es tut aber not, von ihrer Art und Lebensbetätigung einiges zu sagen, da sie auf die Entwicklung und Erziehung von uns Jüngeren keinen geringen Einfluß ausübten.

Die Älteste hatte den Namen Lotte und war ein schlankes Fräulein mit sehr geistreichen Zügen, in denen Herbheit und Stolz vorherrschten. Sie war eine Musikerin par excellence, nahm Klavier- und Gesangunterricht und erteilte solchen von früh bis spät abends. Es war ein Vergnügen, ihr beim Spiel zuzuhören, denn so feine Hände gab es wohl nicht ein zweites Mal auf dieser Welt. Sie zeigten die Rosafarbe einer schönen Meermuschel und erschienen durchsichtig wie edle Steine. Ihre schlanken, zarten Finger tanzten und hüpften über die Tasten, daß es uns jüngeren Geschwistern wie ein Gotteswunder vorkam. Mein Vater sagte von ihr, sie sei eine Musikernatur, denn sie besaß in hohem Grade die Kunst, die schwierigsten Kompositionen prima vista zu spielen.

Mein Bruder Richard war Geiger und studierte bei Meister Joachim. Die Schwester akkompagnierte ihn, und der große Ernst, mit dem diese beiden jungen Menschen ihren Studien oblagen, wirkte auf uns Kleinere vorbildlich. Der Vater war in einer Weise für seine Kinder ehrgeizig, die mir bei allem schuldigen Respekt heute nicht ganz unbedenklich erscheint. Er ging von der Idee aus, daß man in der Jugend alle Kräfte anspannen müßte, um im Alter zu ernten, und er verlangte von den älteren Geschwistern, daß sie keine Stunde des Tages ungenützt ließen. Gegen meinen Bruder Richard war er von einer Strenge, die wir nicht begriffen. Nie war er mit seinen Fortschritten zufrieden, und er verlangte von ihm ein Arbeitsmaß, das über die Kräfte des jungen Menschen weit hinausging. Hinter alledem verbarg sich eine zärtliche, spröde Liebe zu seinem Erstgeborenen. Das königliche Spiel des Meister Joachim, den mein Vater wohl nach dem lieben Gott am stärksten verehrte, war für ihn der Maßstab, den er an die Leistungen meines Bruders legte. Mein Bruder war der Typus der Pflichttreue, hingebenden Ernstes und redlichen Eifers. Aber mit Siebenmeilenstiefeln durch das Land der Kunst jagen und Beethovens Violinkonzert sich in Monaten statt in Jahren erraffen – das war ihm nicht gegeben. Ein blasser, schmächtiger Mensch, noch ganz in der Entwicklung begriffen, litt er unter dem eisernen Willen und den ehrgeizigen Wünschen meines Vaters. Ich sehe ganz deutlich, wie er eines Tages sich gegen die seiner Ansicht nach ungerechten Vorwürfe aufbäumte und eine sittliche Courage zeigte, die keiner dem bescheidenen Menschen zugetraut hätte.

»Ich tue, was ich kann,« sagte er zitternd zu meinem Vater, »aber wenn du Forderungen stellst, die ich nicht zu erfüllen vermag, so treibst du Schindluder mit mir, Vater, und quälst mich unbarmherzig.«

Mein Vater, der seinen Jungen nie in einem solchen Zustand gesehen hatte, war bleich geworden. Er sprach kein Wort. Er sah ihn nur mit einer eisigen, undurchdringlichen Miene an.

Da raffte mein Bruder Richard seine letzte Willenskraft zusammen, und ganz langsam sagte er: »Und wenn ich mich Kopf stelle, Vater, und die Nächte zu Tagen mache, werde ich niemals Joachim erreichen.«

Mein Vater lachte grimmig.

»Du bist ein Narr,« antwortete er, »und brauchst mir deine Binsenweisheit nicht aufzutischen. Es kommt lediglich darauf an, sich so weit als möglich das Ziel zu stecken.«

Er kehrte ihm den Rücken und verließ mit schweren, wuchtigen Schritten das Zimmer.

Nun war es mit der Selbstbeherrschung meines Bruders zu Ende. Er warf sich auf sein Bett und schluchzte so bitter, wie nur ein Kind zu schluchzen imstande ist.

Meine Mutter trat leise herein und strich zärtlich über seine braunen Locken.

»Mutter, ich nehme mir das Leben,« rief er. »Ich halte das nicht länger aus.«

»Wie darfst du solche Dinge reden,« antwortete sie und schlug ihre Arme um ihn. »Soll ich dir erst sagen, daß der Vater es gut mit dir meint und nur dein Bestes will?«

Er blickte sie vergrämt an und sagte mit einer Stimme, die ihr Herz traf: »Ich halte es nicht länger aus, ich muß mir das Leben nehmen.«

»Setz dich einmal zu mir, du großer Junge du, ich will dir etwas erzählen. Du willst dir das Leben nehmen, und ich habe es dir gegeben, nicht nur unter Schmerzen, wie jede Mutter ihrem Kinde das Leben gibt, sondern ich habe darüber fast den Verstand verloren. Dein Vater hatte nur den einen Wunsch nach einem Sohn. Und deine Mutter brachte eine Tochter nach der anderen zur Welt. Bevor du geboren wurdest, habe ich in allen Nächten zu Gott um einen Jungen gebetet, und als du nun wirklich da warst, wollte ich es nicht glauben, und meine armen Sinne verwirrten sich. Viele Monate hat es gedauert, ehe Gott mir meinen Verstand wiedergab. Dein Vater sorgte sich um mich mit seiner ganzen Liebe und Güte. Und als er mich bei klarem Bewußtsein das erstemal wieder in seine Arme schloß, sagte er: »Für dieses Kind hast du einen schweren Preis zahlen müssen. Aber ich gebe dir mein Wort darauf – der Junge wird es dir tausendmal lohnen. Zu unserer Freude und unserem Stolz wird er heranwachsen – ich lese es von seinen Zügen.«

»Und nun verstehst du vielleicht,« fuhr sie fort, »weshalb der Vater gerade von dir so viel verlangt.«

»Er meint,« setzte sie leiser hinzu, »du seist es uns schuldig von der ersten Stunde deiner Geburt an. Und all seine Strenge ist nur Zärtlichkeit und Glaube an dich. Deine letzten Kräfte und Fähigkeiten möchte er ans Licht bringen.«

Diese Erzählung der Mutter machte aus meinen Bruder Richard einen starken Eindruck. Er gab den Widerstand gegen den Vater, der sich einmal hervorgewagt hatte, gänzlich aus, – er verdoppelte seine Anstrengungen. Denn er fühlte eine Verantwortlichkeit auf sich geladen, der er gerecht werden mußte. Nie hat es einen gütigeren und aufopfernderen Sohn und Bruder gegeben als ihn, nie einen besseren und zarteren Menschen bei aller Festigkeit des Charakters. Wie die ältesten Schwestern verzichtete er auf die Freuden und Zerstreuungen der Jugend. Er beugte sich dem ehernen, von dem Vater aufgestellten Gesetz der Arbeit und lernte in seinen jungen Tagen schon den ganzen Ernst des Lebens kennen.

Schwer von Natur war auch meine Schwester Anna. Sie trieb ebenfalls Musikstudien, ohne indessen an Begabung der älteren Schwester gleichzukommen. Da sie dies klar erkannte, so suchte sie – was ihr an Talent mangelte – durch andauerndes Üben zu ersetzen. Sie beschränkte sich indessen keineswegs auf die Musik, vielmehr nahm sie mit einer Energie, vor der uns manchmal angst und bange wurde, gemeinsam mit den Eltern die Erziehung von uns jüngeren Geschwistern in die Hände. Sie war die pflichttreue Gouvernante, wie sie im Buche steht. Ihr Gesicht hatte einen Zug der Strenge, den wir Kinder fürchteten. Ihr praktischer, sparsamer Sinn war darauf gerichtet, die wirtschaftlichen Sorgen der Eltern, die nicht gering waren, zu erleichtern. Sie hielt mit dem Vater Wassersuppen für die gesündeste Kost und bestand darauf, daß die Semmeln, die wir in die Schule mitbekamen, trocken blieben.

»Viel Butter macht Pickel,« pflegte sie zu sagen, »und außerdem habt ihr noch den Vorteil, euch nicht die Hefte zu befetten.«

Sie war überhaupt eine ausgesprochene Feindin der Butter. Es gehörte schon ein ziemlich scharfes Auge dazu, um auf den Schnitten, die wir zum Abendessen erhielten, die Butter zu entdecken. In einer virtuosen Art fuhr sie mit dem Messer über das Brot, wobei sie es nicht liebte, daß wir die Zuschauer machten.

»Salz und Brot macht Wangen rot,« sagte sie, »und mit einem leichten Magen arbeitet es sich doppelt gut.«

Wir waren mit dieser Logik keineswegs einverstanden. Ja, wenn wir in den zweiten Stock zur Familie Senz kamen, wo eine ganz andere Lebensführung zu Hause war, schwoll uns die Leber vor Neid. Hier kannte man nicht die Angst vor Pickeln. Fingerhoch war das Brot bestrichen – so wenigstens berichteten wir unserer Schwester, die dafür nur ein verächtliches Lächeln übrig hatte.

Der Wahrheit gemäß muß festgestellt werden: sie brachte es mit ihren beständigen Reden über diesen Gegenstand dahin, daß wir Kinder für das ganze Leben eine tiefe Abneigung gegen Fett und Butter beibehielten.

Übrigens fanden wir uns allmählich mit dem Prinzip unserer Schwester ab, zumal uns eine Auflehnung nicht das mindeste genutzt hätte.

Viel schwerer wurden mein Bruder Karl und ich durch den erfinderischen Sparsamkeitsgeist der Schwester nach einer anderen Richtung hin getroffen. Eines Tages entdeckten wir zu unserem Schrecken, wie sie vor der Nähmaschine saß und einen Berg altmodischer Umlegekragen meines Vaters, die am Rande schon durchstoßen waren, mit unbarmherziger Schere in zwei Teile schnitt. Von jedem der beiden Enden nahm sie wiederum ein gutes Stück fort, dann setzte sie die Maschine in Bewegung, um aus den Kragen des Vaters unserer Halsweite entsprechende zusammenzunähen. Wir mußten nun die fertigen Kragen anprobieren, die zu ihrer Freude tadellos paßten. Daß sie infolge der Naht uns hinten am Halse drückten, erschien ihr ein geringer Übelstand. Als wir uns unter Tränen weigerten, die Kragen anzulegen, geriet sie in großen Zorn.

»Versündigt euch nur,« sagte sie sehr ernst, »die Strafe wird schon folgen. Wenn ihr wüßtet, wie gut ihr es im Vergleich mit anderen Kindern habt! Denkt immer daran, wie sich der Vater quälen muß, und tragt seine Kragen mit Stolz und Dankbarkeit!«

Was half es uns, daß wir am Halse rote Stellen hatten, daß die Naht unleidlich scheuerte, daß wir uns vor den Mitschülern unsagbar schämten – die Kragen wurden getragen, und wenn sie ausgedient hatten, traten neue von der gleichen Art an ihre Stelle. Denn der Vorrat meines Vaters schien unerschöpflich, und meine Schwester verrichtete mit wahrer Inbrunst auf Kosten unserer Hälse ihre Henkerarbeit. Wir standen nicht gut mit ihr. Zu unerfahren und kindisch, um ihre aufopfernde Liebe zu würdigen, erfüllte es uns mit Erbitterung, wenn inmitten unseres fröhlichen Spieles in den Hof ihr Ruf drang: »Helene, Karl, Felix – sofort hinaufkommen und arbeiten!« Wenn sie mit »Helene« begann, so fuhren die Kinder im Hofe lachend fort: »Karl, Felix.« Wir bissen die Zähne zusammen und gehorchten mit stiller Wut.

Die Mutter fühlte ein menschliches Rühren, wenn sie auch gegen die Autorität der Schwester nie anzukämpfen wagte. Sie fand Tröstungen mancherlei Art, von denen ich mit besonderer Freude mich an die heißen Bratäpfel erinnere, mit denen sie uns an kalten Winternachmittagen, wenn die Schularbeiten getan waren, traktierte. Meine Schwester Dora, die dem Alter nach auf Anna folgte, bildete zu dieser den striktesten Gegensatz. Ich habe schon erzählt, daß sie eine wunderliche Person war: Klein und nicht gerade schön von Aussehen, war sie flink wie ein Wiesel und hatte einen gottgesegneten Humor. Sie stritt mit der älteren Schwester über die gegen uns gerichtete Erziehungsmethode und pflegte dann jedesmal zu sagen: »Ich will lieber ein guter als ein böser Narr sein. Ein Narr bleibt man immer, und mit Güte kommt man bei Kindern weiter als mit Strenge.«

Sie hatte sich in einer der Hinterstuben ein Arbeitszimmer eingerichtet und beschäftigte mehrere kleine Fräuleins. Da wurden aus glänzender, knitternder schwarzer Seide feine Schürzen zurechtgeschnitten und mit bunten Blumengirlanden bestickt. Meine Schwester Dora erzählte während der Arbeit ihren Gehilfinnen lustige Schnurren, und nicht selten klang das fröhliche Gelächter der Mädchen an unser Ohr.

Diese Schwester hatte in der größten Not immer ein kluges Wort auf der Pfanne, und ihre dunklen Augen funkelten und blickten lebenstüchtig in die Welt.

Und nun zu dir, Helene, die du die Anmut und Schönheit unseres Hauses verkörpertest. Ich sehe deinen schlanken, mädchenhaften Körper, ich höre dein silbernes, helles Lachen und den Wohlklang deiner Stimme, wenn die Lieder unserer Jugend aus deinem Munde tönten. Herzensgüte und Couragiertheit, Drolerie und Charme zeichneten dein Wesen aus; und eine Augenweide warst du für jeden, der dich sah. Dein Preislied werde ich auf diesen Blättern singen.

Mein Bruder Karl war ein Windhund, der nur Musik im Kopfe hatte und anstatt der Schularbeiten selbstgefundene Melodien aufs Papier brachte. Er beteiligte sich kaum an unseren Knabenspielen und ging schon als Junge seinen eigenen Weg.

Welch ein Galgenstrick ich persönlich war – wieviel Verdruß, Kummer und Sorgen ich den Eltern bereitete, und wie ich insbesondere dem Vater das Leben sauer machte, wird des weiteren dieses Buch zeigen.

Mein Vater war oft genug über mich der Verzweiflung nahe, und nur der alte Onkel Isaak hielt mir die Stange und wußte des Vaters Zorn gegen mich immer wieder zu besänftigen.

Der Onkel Isaak war, wie ich am Anfang oben erzählt habe, der Ahnherr unseres Hauses. Alter Onkel, ich küsse dir voll Ehrfurcht und Dankbarkeit die Hände.

Er war ein kleiner Mann, breitschulterig und mit weißem, vollem Haupthaar, er hatte ein massiges, rundes, bartloses, wohlgenährtes Gesicht, wie ich es in dieser Art zuweilen bei katholischen Landpfarrern gesehen habe. Aber seine Züge trugen den Ausdruck geistiger Arbeit und seelischer Energie. Der Onkel konnte behäbig lachen. Dann legte er die großen, schönen Hände auf seinen Schmerbauch und war possierlich anzuschauen.

Zwischen ihm und meinem Vater hat es manchen harten Strauß gesetzt. Es gab Zeiten, in denen die beiden Männer zu unserem Leidwesen jeden Verkehr miteinander abbrachen. Das lag wohl daran: mein Vater war ein Bekenner, und mein Onkel war ein Lebensphilosoph. Mein Vater sagte: Wer nicht für mich ist, ist wider mich. Und mein Onkel erklärte von Feindschaften nichts wissen zu wollen.

In Stunden der Erbitterung nannte ihn mein Vater einen Jesuiten und fügte hinzu: »Mit einem Rabbiner ist er ein Jude, mit einem katholischen Pfaffen betet er die Mutter Gottes an und mit einem evangelischen Geistlichen wird er zum überzeugten Protestanten. Wie einer das zustande bringt, ist mir ein Rätsel, dazu besitzt er ein Phlegma,« schloß er verächtlich, »mit dem er hundert Jahre alt werden wird.«

Wie oft mußte meine Mutter zwischen den beiden Männern vermitteln und den Vater daran erinnern, was der Bruder für ihn und die Geschwister getan hatte!

Nicht immer verschlugen diese guten Gründe. Der Vater war eine viel zu gerade und herbe Natur, um den verästelten und verschlungenen Charakter des Onkels in gerechter Weise zu beurteilen. Seiner großartigen Begrenztheit ging diese allzu differenzierte Art wider den Strich.

An einem Geburtstage meines Vaters schickte ihm der Onkel einen Stock mit einer schönen, elfenbeinernen Krücke durch einen Boten ins Haus, der mit dem Präsent ein paar artige Verse überbrachte. Denn der Onkel und der Vater waren Gelegenheitsdichter, die sich in gebundener Rede wohl auszudrücken verstanden. Er selbst hatte es nicht riskiert, persönlich zu kommen, da sie wieder einmal in Fehde lebten.

Mein Vater wurde krebsrot vor Ärger. Die ganze Geburtstagsfreude war ihm verleidet. Er schrieb auf die Rückseite des Kuverts: An Isaak: »Ich schicke Dir Deinen Stock zurück. Prügele Dich mit ihm windelweich, damit das Krumme in Dir gerade wird. Dann komm' zu mir. In wahrer Liebe Dein Bruder Siegmund Benjamin.«

Nachdem er dieses Geschäft erledigt hatte, fand er seine gute Laune wieder. Aber meiner Mutter hatte er den Tag gründlich verdorben, als er ihr getreulich seinen Streich beichtete.

Am Nachmittage klingelte es, und der Onkel erschien auf der Bildfläche.

»Lieber Benjamin,« sagte er, »ich bringe dir nun persönlich den Stock, damit du selber das Liebeswerk an mir vollstrecken kannst. Ich glaube, du hast heißeres Blut und mehr Kräfte, als ich alter Mann.«

Die Mutter schnitt dem Vater jede Antwort ab, küßte den Schwager, zog ihm in Eile den Rock aus und nötigte ihn, Platz zu nehmen.

Der Vater lachte besiegt und sagte nur: »Und wenn du dich Kopf stellst – du bist und bleibst ein Jesuit.«

Das quittierte der Onkel mit einem listigen, schlauen Lächeln, bei dem sich jeder sein Teil denken konnte.

Man nannte den Onkel in der Stadt den Allvater.

Damit hatte es folgende Bewandtnis: Der Onkel hatte seinen Erstgeborenen Alexis genannt. Dem zweiten Sohne gab er den Namen Alfons, und seine Tochter wurde Alma getauft. Die Kinder, die ihm später geboren wurden, hießen Almira, Alexandra und Alfred.

Wenn man ihn wegen dieser Marotte zur Rede stellte, erwiderte er: »Ich wollte beweisen, daß, wenn man einmal A gesagt hat, man noch lange nicht genötigt ist, B zu sagen. Ich bin nämlich der Ansicht,« fuhr er fort, »daß es an der Zeit ist, mit gewissen verrosteten Vorurteilen zu brechen. Wer A gesagt hat, soll sich dreimal besinnen, ob er auch B sagt, oder ob es nicht viel klüger ist, bei A zu bleiben. Und wer sich eine böse Suppe eingebrockt hat, soll sie nicht zu Ende essen, sondern beim ersten Löffel aufhören. Dies wenigstens ist meine Meinung – scheint meine Meinung zu sein,« korrigierte er sich fein lächelnd.

Jeden Tag ging mein Vater in die Kliniken – besuchte mein Onkel die Universität. Da saß der alte Onkel unter den jungen Leuten – saß auf der vordersten Reihe und spitzte die Ohren, lächelte amüsiert, wenn ein geistreiches Wort fiel, oder verzog spöttisch den Mund, wenn ihm die Weisheit des Vortragenden nicht einleuchten wollte.

»Wer ausgelernt hat, hat ausgelebt,« entgegnete er, wenn man sich über seinen Hörerfleiß verwunderte.

Neben den geistigen Genüssen liebte der Onkel ein gutes Mahl, und alle Welt machte es sich zur Ehre, ihn zu laden, weil er in seiner bedächtigen, ruhigen Art gute und weise Dinge zu sagen wußte. Als während einer Mahlzeit, bei der die feinsten Leckerbissen aufgetragen wurden, plötzlich das Gespräch stockte, unterbrach der Onkel die Stille mit den Worten: »Es gibt doch einen Gott.«

Dieser salomonische Ausspruch wurde später zum geflügelten Wort. Bei jedem exquisiten Essen erinnerte man sich solchermaßen an das Dasein Gottes.

Alter Onkel mit den weißen Haaren, du warst ein Lebenskünstler. Dein Andenken halte ich in Ehren.


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