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36

Der Vater hat eine tödliche Krankheit und verbirgt sie uns. Er trägt seine Schmerzen allein, er verschmäht jeden Trost. Er wehrt sich mit seiner starken Natur gegen das Gift, das seinen Körper zersetzt. Er kämpft mit dem Tode und trägt das Haupt aufrecht. Nur sein Gang ist schwer, müde und schleppend.

Die Mutter sieht das ganze Unglück, sieht, wie der Vater zuweilen, von Schmerzen überwältigt, sich in sein Zimmer schließt, wo er aus seinem Arzneischrank das Fläschchen Kokain hervorholt, um sich für den Augenblick wenigstens Linderung zu schaffen.

Sie sieht das alles – und schweigt. Der Vater hat sie in vierzigjähriger Ehe das Schweigen gelehrt. Die Zähne beißt sie zusammen und bleibt stumm. Du gute, treue, sorgende Mutter, die du deine Tränen ebenso vor uns bargst, wie der Vater uns sein Siechtum verheimlichte.

An einem späten Herbstnachmittage saßen die Eltern in ihrem Wohnzimmer. Der Vater hatte sich vor den weißen Kachelofen den kleinen Spieltisch gerückt, aus dem sein Schachbrett stand, die Mutter hatte in dem braunen Plüschsofa Platz genommen und ließ die Hände, die in all den Jahren nie zu schaffen aufgehört hatten, müde in den Schoß sinken. Zuweilen warf sie einen besorgten Blick zum Vater hinüber, der bei dem Spiele seine Schmerzen zu vergessen suchte.

»Alte,« sagte er plötzlich, »ich fürchte, lange mache ich es nicht mehr. Kopf hoch, Alte, und nicht geheult. Ein paar Jährchen später, und du bist auch an der Reihe. Man soll von dem Sterben nicht so viel Wesens machen, es ist im Grunde gleichgültig, ob zehn Jahre früher oder später. Das Haus ist bestellt, die Kinder stehen auf eigenen Füßen, ich habe meine Arbeit getan – was will ich mehr. Schätze hinterlasse ich dir nicht – aber auch keinen Groschen Schulden – es gibt keine unbezahlten Rechnungen, wenn ich einmal nicht mehr bin. Die Rechnung geht glatt auf, stimmt auf Heller und Pfennig. Und in meiner Schreibtischschublade liegen zweihundert Taler für mein Begräbnis und die gleiche Summe für das deine. Das Geld habe ich mir trotz aller Nöte abgespart. Auch im Tode wollen wir beiden Alten auf niemanden angewiesen sein.«

Er hielt inne, denn meine Mutter vermochte sich nicht länger zu beherrschen, sie schluchzte schmerzhaft in sich hinein.

»Alte, werde mir nicht gerührt. Wir haben wie gute Kameraden zusammengehalten und dieses Dasein auf eine solide und anständige Art geführt. Was will man mehr. Und wenn wir auch manchmal aneinandergeraten sind – und ich meine schwere Hand auf euch habe wuchten lassen – gut gemeint war es immer. Das wißt ihr insgesamt.

Habe ich in meiner Strenge zuweilen über die Schnur gehauen, du lieber Gott, wir sind eben alle Menschen.«

Die Mutter ging auf den Vater zu und legte die Arme um seinen trotzigen Nacken.

»Alter,« sagte sie in tiefer Erschütterung, »sprich nicht so – ich ertrage es nicht. Gott kann dich uns nicht entreißen, was sollen wir ohne dich anfangen.«

Und nun fing sie bitterlich zu weinen an, daß meinem Vater angst und bange wurde.

»Renette,« sagte er, und es war ganz selten, daß er meine Mutter bei ihrem Vornamen nannte – »Renette, nimm dich zusammen und mache es mir nicht sauer, wenn ich mit dir über die letzten notwendigen Dinge rede.«

Aller zärtlicher Zuspruch meines Vaters verfing nicht. Die Mutter war zerbrochen.

Der Vater seufzte tief auf. Das Leid der Mutter schuf ihm Erbarmen.

»Ich spreche ja nur für den äußersten Fall,« sagte er milde, und leiser fügte er hinzu: »Ich rede in den nächsten Tagen mit Professor Wolff, vielleicht ist noch eine Hilfe, oder zum mindesten ein Aufschub möglich.«

Meine Mutter blickte in aufschimmernder Hoffnung den Vater mit feuchten Augen an.

Ach, wie rasch klammert sich eine verzweifelte Seele an den letzten Rettungsanker.

»Gott wird helfen, ich glaube an Gott,« flüsterte sie und faltete demütig die Hände. »Sage mir, was ist es für eine Krankheit?«

Der Vater runzelte die Stirn.

»Wir wollen darüber nicht sprechen,« erwiderte er in jenem strengen, sachlichen Tone, gegen den es, wie die Mutter wußte, keinen Widerspruch gab.

Sie wandte sich vergrämt ab; er sollte den neuen Ausbruch ihres Schmerzes nicht sehen.

»Schach dem König,« rief der Vater, »die Partie ist beendet.«

Er warf die Figuren durcheinander und fuhr mit der Rechten über seinen Scheitel, als wollte er sich die gefurchte Stirn gleichsam glätten. Dann trat er an das Fenster und blickte auf die Straße und das Getümmel der Menschen, die geschäftig wie die Bienen aneinander vorbeischwärmten.

»Ist das ein Getriebe,« meinte er und lächelte. »Man drängt und stößt sich, und einer gönnt kaum dem anderen das bißchen Raum, das er notwendig braucht, um sich vorwärts zu bewegen. Und zu welchem Zwecke? … Zuletzt kommt der große Schnitter und mäht alles hinweg. Wer weiß im Grunde, wozu er gelebt und gelitten hat? Liebste Renette, mußte denn dieses ganze Dasein durchgemacht werden? Schließlich ist man ja nichts weiter als ein Mechanismus, ein Räderwerk, das von Kräften, die wir nicht kennen, auf die wir keinen Einfluß haben, bewegt wird, bis die Räder abgenutzt sind und das Werk stillsteht. Und wir reden in unserer Vermessen- und Verstiegenheit von einem eigenen Willen, von selbständigen Trieben. Ach, du lieber Gott, es ist die uralte Komödie, in die wir ohne unser Zutun hineingestellt sind, um die uns aufgezwungene Rolle mit mehr oder weniger Glück zu spielen. Und wenn der letzte Vorhang gefallen, und der Held oder die Heldin mit dem Tode abgegangen sind, sollen die Zuschauer das Spiel nicht so tragisch nehmen. Mit einem Worte! man soll den Fall nicht aufbauschen, sintemalen er so gemein und alltäglich ist, und das gleiche Los schon in der nächsten Stunde den Nachbar treffen kann. Das einzig Vernünftige ist: ein vergnügter Leichenschmaus, bei dem die Gläser klingen – und man auf das Andenken des Toten fröhlich trinkt, weil er das irdische Teil hinter sich hat. So, Alte, und jetzt höre ich auf zu philosophieren, denn ich merke, daß es dich nicht heiterer stimmt. Koche einen guten, starken Kaffee und laß uns vespern – mir ist ganz vesperig zumute.«

Das ließ sich meine Mutter nicht zweimal sagen – und eine Viertelstunde später dampfte der Mokka in den Tassen, und mein Vater hatte seine Hand auf die der Mutter gelegt – und streichelte sie sanft.

Denn in diesen letzten Wochen seines irdischen Daseins hatte der strenge, wortkarge Mann das Bedürfnis, der besten und treuesten Lebensgefährtin auch durch äußere Liebeszeichen und gute Worte sein Gefühl kundzutun.

Meiner Mutter Bangigkeit und stille Rührung vermögen Worte nicht auszudrücken …


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