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10

Gegen Weihnachten herrschte im ganzen Hause Aufregung und freudige Unruhe.

Auf beiden Höfen wurden bunte Ketten geklebt, Nüsse vergoldet und versilbert.

Vierzehn Tage vor dem heiligen Fest stand auf dem Senzschen Balkon bereits die Silbertanne stolz und mächtig.

»Sie ist so groß,« hatte Walter zu mir gesagt, »daß sie bis zur Decke des Speisesaales reicht.«

Bei uns wurde der Weihnachtsbaum auf Weisung unserer Schwester Anna frühestens einen Tag vor dem Christabend gekauft – die Auswahl war freilich dann nicht mehr allzu groß – aber die Schwester hatte unbedingt recht: man kaufte solchermaßen um die Hälfte billiger. Denn die Händler drängte es ebenfalls nach Hause, und zudem kannten sie ihre Pappenheimer. Wer sich so spät entschloß, zahlte ohnehin nicht den vollen Preis.

Auch unseres Baumes Lichter brannten hell, und strahlender Glanz ging von ihnen aus. Was verschlug es uns, wenn des Baumes Gehänge nicht gerade zum Plündern reizte und mehr für das Auge als für den Magen berechnet war. Wir hatten es uns abgewöhnt, zwischen unserer Sorgenwirtschaft und dem Senzschen Hause Vergleiche zu ziehen.

In diesem Jahre erhielt das Fest für uns einen besonderern Reiz, denn der Vater hatte in einer plötzlich erwachten Sehnsucht, oder soll ich lieber sagen – von Todesgedanken erfüllt – – die alten Tanten aus Pleß zum Besuche eingeladen.

Und die Tanten waren gekommen. – Tante Minna Stroheim und Tante Jettchen Wohl. Wenn ich schon mit meinem Onkel Isaak die Vorstellung von Methusalem verknüpfte, so fällt es mir schwer, einen Begriff von der Antiquität der Tanten zu geben. Sie hatten mit ihren tausendfaltigen, runzeligen Gesichtern etwas so Vorzeitliches und Steinaltes an sich, daß man meinen konnte, sie hätten sich aus einer fremden Welt zu uns verirrt. Sie trugen altmodische schwarzseidene Kleider, die sie seit Generationen besaßen – und breite, schwarzseidene Bänder hingen von ihren Hüten herab, die aus einem früheren Jahrhundert stammten und einer Art von Kübeln glichen.

Tante Minna Stroheim liebten wir abgöttisch. Sie war klein, rund und behäbig und ähnelte im Gesichtsausdruck meinem Vater. Weit über Pleß hinaus genoß sie eine Berühmtheit wegen ihrer Kunst, Kuchen zu backen. Ich behaupte, man hat heute vom Kuchenbacken keine rechte Ahnung mehr. Die Menschen bilden sich ein, daß nichts weiter dazu gehöre, als Butter, Mehl, Eier, Mandeln und Rosinen. Quarkspitzen! Man muß das richtige Gefühl in den Fingern haben! Die Tante Minna Stroheim hatte es. Wenn man beim Fürsten von Pleß den hohen Gästen einen besonders delikaten Leckerbissen vorsetzen wollte, so schickte man in die Konditorei der Tanten. Denn ich habe beinahe zu berichten vergessen, daß sie eine Konditorei besaßen. – Also meine Tante Minna Stroheim war die Seele des Geschäfts, sie brachte wahre Kunstwerke zustande, als da sind: Kraut- und Käsekuchen, Mohn- und Nußstriezel, gefüllte Schnecken und Pflaumenmuskräpfchen.

Die Tante Henriette Wohl war die ältere, stattlichere und fettere. Sie führte das große Wort; denn eigentlich gehörte die Konditorei ihr – sie hatte sie von ihrem seligen Mann geerbt. Was aber hätte ihr die Erbschaft gefrommt ohne den künstlerischen Beistand dieser Schwester!

Tante Minna war die Aufopferung in Person – sie gab den letzten Groschen hin, wenn Not am Manne war.

Tante Wohl war im Vergleich zu ihr engherzig – sie dachte nur ans Sparen und schalt die Schwester wegen ihres Leichtsinns.

Die Tanten traten also in dem geschilderten Aufzug in Berlin an und versetzten meine Mutter trotz aller Hochachtung, die sie den Schwägerinnen entgegenbrachte, in einen gelinden Schreck.

Der Vater begriff die Mutter nicht. Er war so gerührt und beglückt durch die Anwesenheit der Schwestern, daß er ordentlich verjüngt schien. Tante Minna mußte seinen rechten und Tante Jettchen seinen linken Arm nehmen, und so zog er – dem das Gehen sauer fiel – mit ihnen durch die Straßen, um ihnen Berlins Sehenswürdigkeiten zu zeigen und zu erklären. Was kümmerte es ihn, daß die Berliner dem seltsamen Trio nachschauten, sich vor Lachen in die Seiten kniffen und hinter ihnen schlechte Witze rissen!

Die Tanten wollten gar nicht so viel sehen und hören. Aber darin war der Vater unerbittlich.

»Nach Berlin werdet ihr ein zweites Mal nicht kommen, und bis an euer Lebensende müßt ihr von den Eindrücken zehren,« sagte er.

So fügten sich die alten Damen mit einem stillen Seufzer. Der Vater vermochte kaum eine Viertelstunde sich von ihnen zu trennen und war schon eifersüchtig, wenn sie anstandshalber auch bei dem Onkel Isaak einen Abend zubringen wollten.

Uns Kinder verwöhnten und verhätschelten sie über die Maßen. Tante Minna hatte hinter Tante Jettes Rücken einen ganzen Sack mit Süßigkeiten aus der Plesser Konditorei mitgebracht, und es ist mir noch heute verwunderlich, daß wir diese Unmengen von Konfekt und Schokolade zu vertilgen vermochten, ohne an unserer Gesundheit ernstlich Schaden zu nehmen.

Waren uns die Tanten zuerst wie Vogelscheuchen erschienen, vor denen wir ängstlich zurückwichen, so wandelte sich dieses Empfinden bald in zärtliche Liebe um.

Die Tanten behandelten uns wie kostbares Porzellan, wagten uns kaum zu küssen und taten, als ob wir kleine Prinzen wären. Sie fanden alles bildschön an uns und waren im Grunde ihrer guten alten Herzen fest davon überzeugt, daß wir eine höhere und edlere Art von Menschen waren. Sie konnten es nicht begreifen, wenn der Vater ein strenges Wort an uns richtete. Und einmal hörte ich, wie Tante Minna zu ihm sagte: »Benjaminchen,« sie redete ihn nie anders an als Benjaminchen, »wir verstehen dich nicht. Gott solltest du auf Knien danken, daß er dir solche Jungen geschenkt hat – und du gehst mit den armen Würmern um, als wenn du sie von der Straße aufgelesen hättest.«

Walter Senz hatte sich anfangs eine alberne Bemerkung über die Tanten erlaubt. Er sagte, sie wären vertrocknete Mumien aus der Steinzeit. Aber da war er bei mir schön angelaufen, denn in puncto Tanten verstand ich keinen Spaß. Erstens – erwiderte ich – hätte es in der Steinzeit keine Mumien gegeben, was ein so gescheiter Junge wie er eigentlich wissen müßte – und zweitens verbäte ich mir bei unserer Freundschaft allen Ernstes jedes beleidigende, gegen die Tanten gerichtete Wort.

Walter Senz verstand mich und respektierte meinen Willen. Die Weihnachtsstimmung ließ keinen Hader aufkommen, ganz davon abgesehen, daß unsere Freundschaft von Tag zu Tag inniger und zärtlicher wurde.

Walter Senz, Luzie Herterich und ich hockten im dunklen Keller zusammen, der durch die überheizte Waschküche halbwegs erwärmt wurde, und ich erzählte den beiden, die sich eng aneinander schmiegten, Räuber- und Mördergeschichten, daß sie eine Gänsehaut überlief. Luzie Herterich meinte, ich müßte das alles zu Papier bringen, es sei hundertmal besser und schöner, als der ganze Quatsch von Hugo Rubinstein, und Walter Senz stimmte ihr bei. Ich aber widersprach und bat sie, um Gottes willen so etwas nicht laut zu sagen, weil ich sonst bei dem Dichter und den Freundinnen verspielt hätte.

Luzie Herterich brach das Thema plötzlich ab.

»Du wirst natürlich auch Dichter,« sagte sie zu mir, »das ist eine ausgemachte Sache. Aber was willst du eigentlich werden, Walter?«

Im Keller herrschte ein so nächtliches Dunkel, daß keines die Miene des anderen zu erkennen vermochte.

»Am liebsten würde ich Offizier,« antwortete er leise, »nicht wegen des bunten Rockes, den ich gewiß auch gern habe, sondern aus einem ganz anderen Grunde.«

»Sag es uns,« drängte Luzie Herterich.

Walter Senz sträubte sich erst eine geraume Weile, dann fuhr er schwer atmend fort: »Für mich ist es der schönste Gedanke, auf dem Schlachtfeld – von einer Kugel ins Herz getroffen – mit einem letzten Vaterunser den Geist aufzugeben. Denn du mußt wissen,« wandte er sich tiefernst an mich, »ich bin im Gegensatz zu dir ein gläubiger Mensch, ich glaube an Gott und meinen Erlöser Jesum Christum.«

Er schwieg – und lautlos verharrten wir eine Spanne Zeit.

»Warum willst du so jung sterben,« unterbrach Luzie Herterich bekümmert das Schweigen.

»Ich fühle, daß ich im Leben kein Glück haben werde und jung sterben muß,« entgegnete er schlicht.

»Wieso fühlst du das?« forschte sie weiter.

»Ach, Luz, frage mich nicht. Es gibt in meinem Leben so viel Jammer, über den ich nicht reden kann und darf.«

Aus dem dritten Stock tönte bis in unser Versteck die strenge Stimme meiner Schwester: »Felix, auf der Stelle heraufkommen!«

Wir drei lachten hell auf.

Rufe dir nur die Kehle heiser – dachte ich – gearbeitet wird heute doch kein Strich mehr.

»Weißt du was,« sagte Luzie Herterich zu mir, »du könntest mir einen Gefallen tun und meinen Schulaufsatz machen. Ich werde nicht fertig damit, und dir ist es eine Kleinigkeit. Walter und ich könnten dann noch ein Stückchen spazieren gehen,« schloß sie perfid.

»Ach tu's,« bat Walter.

»Wie heißt denn das Thema?«

»Worin bestehen die Freuden des Landaufenthaltes? Es ist mir ganz egal, was du schreibst, nur müssen es mindestens drei Seiten sein.«

»In Gottes Namen.«

Die beiden flitzten im Nu an mir vorbei – und ich armer Teufel grübelte im düstern Keller in übelster Laune über die Freuden des Landaufenthaltes.


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