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2

Noch heute sehe ich die große Bahnhofshalle, in die unser Zug einfährt. Die Schaffner rufen mit lauter Stimme: »Breslau! Zehn Minuten Aufenthalt!«

Die Kupeetüren werden aufgerissen, und ein kleiner untersetzter Mann mit breitem Rücken, bartlosem Gesicht, funkelnden, kleinen, listigen und abenteuerlichen Augen steht vor uns, küßt meinen Vater auf beide Backen, küßt ebenso die Mutter und uns Geschwister. Und hinter ihm hat ein Bahnkellner Posto gefaßt, der eine große braune, breitbauchige Kaffeekanne, einen mächtigen Teller mit bestrichenen Semmeln und Kuchenschnitten in das Kupee reicht.

Der kleine Mann mit der braunen Mütze auf dem Kopfe ist Onkel Jakob, der Amerikafahrer. Er hat ein Gesicht, auf dem Verschlagenheit und Gutmütigkeit in seltsamem Gemisch zu lesen sind. Ein Abenteurer, den für uns Kinder der Reiz des Geheimnisses umwebt. Was waren über Onkel Jakob für Geschichten im Kurs! – Der Vater nannte ihn einen Schürzenjäger und Glücksspieler und liebte ihn trotzdem zärtlich, vielleicht weil er gerade im Gegensatz zu ihm immer ein wildes, buntes Leben geführt, sich in der weiten Welt herumgetrieben und alle Schicksale, die ein Mensch nur haben konnte, durchlebt hatte.

Wir Kinder horchten mit gespitzten Ohren, wenn der Vater aus Onkel Jakobs wildem Leben erzählte.

Der Onkel hatte vor vielen Jahren die Reise über den großen Teich angetreten, war da unten Diamanthändler gewesen, hatte im südamerikanischen Aufstande ein eigenes Korps ausgerüstet und geführt, war in Gefangenschaft geraten und zum Tode verurteilt worden. Aber da er keinen Geschmack daran fand, sich köpfen zu lassen, hatte er sich mit einem kühnen Gewaltstreich befreit. Und arm wie eine Kirchenmaus – denn seine Besieger hatten sein ganzes Vermögen konfisziert – ließ er es sich nicht verdrießen, wieder von vorn anzufangen. Und abermals war ihm das Glück hold. Als ein Mann, der nach Millionen zählte, trat er die Heimreise an. Noch heute erzählen die Leute in Breslau, wie er im Sechsgespann in die Stadt einfuhr, und die Menschen die Mäuler aufrissen und hinter ihm hergafften.

In diesen Tagen seiner großen Fortune hatte der Onkel halb Breslau aufgekauft, samt der Liebighöhe, die ebenfalls damals sein Eigentum wurde. Der Vater hatte zehn Geschwister, und für alle war der Onkel damals eingetreten. Der Mann ließ sich nicht lumpen. Jedem richtete er den Hausstand ein und teilte wie ein Grandseigneur seine Gaben aus.

Du lieber Gott, der Onkel hat sich nicht lange seines Glanzes freuen dürfen. Er war eine Spielernatur, und in den Klubs von Breslau nahm man ihm allgemach sein Riesenvermögen ab. Der Vater erzählt, daß er in einer Nacht eine runde Viertelmillion verspielt hat. Von der Liebighöhe, die ein Symbol seines Aufstieges war, mußte er herunter, und ein Grundstück nach dem andern ging in die Hände der Gläubiger über. Ihm blieb gerade so viel, um ein kärgliches Dasein zu fristen. Für einen Mann mit bescheidenen Ansprüchen genug, – für ihn, der ein Viveur großen Stils war und nur im hohen Spiel Vergnügen fand, war es eine kümmerliche Existenz. Jetzt lebte er in einem verräucherten alten Hause in der Nikolaistraße, einem verschuldeten Besitz, den er sich mit Mühe und Not gerettet hatte, grübelte über seinem Schicksal und marterte sich das Gehirn, wie er wohl die verfahrene Karre aus dem Drecke ziehen könnte. Ich sehe sein Gesicht, in welches das Leben tiefe Furchen gegraben hatte, – ich sehe den verschmitzten Zug um seine Mundwinkel und den zähen Ausdruck aus seinem Antlitz, als könnte er mit seiner Willenskraft das Schicksal niederzwingen.

Onkel Jakob war es, der die dampfende Kaffeekanne und den mit Buttersemmeln und Kuchenschnitten angehäuften Teller uns ins Kupee reichen ließ, uns tätschelnd in die Backen kniff und zwischen allem ein knurrendes, leises Lachen ausstieß.

»Nun, Benjamin,« sagte er zu meinem Vater, »was machst du für Dummheiten! Was ist dir in die Glieder gefahren, daß du den warmen Ofen verläßt und ausgerechnet nach Berlin willst!« Und ohne meines Vaters Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Man kennt sich doch mit seinem eigenen Fleisch und Blut nicht aus. Ich hielt dich immer für einen Sicherheitskommissarius, und nun machst du solche Streiche. – Benjamin, Benjamin!«

Und wieder lachte er leise in sich hinein.

Mein Vater mußte den Onkel wohl kennen, denn er versuchte mit keiner Silbe ihn zu widerlegen.

Der Onkel war gemeiniglich ein wortkarger Mann, und nach dieser langen Rede, die er wohl sorgsam vorbereitet hatte, sprach er nichts weiter. Nur aus den großen Taschen seines Mantels zog er für jedes von uns Präsente hervor, küßte uns Kinder auf die Stirn, blickte meinen Vater ein Weilchen schweigend, mit einem verhaltenen, gutmütigen und spöttischen Lächeln an und drückte ihm zum Abschiede wortlos die Hand. Denn die zehn Minuten waren verstrichen. Der kreischende Pfiff der Lokomotive ertönte, und unser Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Der Abend war heraufgedunkelt, und uns Kindern wurden die Lider schwer. Eine flüchtige Spanne Zeit sahen wir noch in die großen Schneeflocken, die aus grauem, verhängtem Himmel kamen, ehe uns vor Müdigkeit die Augen zufielen. Wir hatten ein Kupee für uns – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester Helene, mein Bruder Karl und ich. Meine älteren Schwestern waren mit meinem Bruder Richard bereits vorangereist, um die neue Wohnung zu richten. Verworrene Worte drangen an mein Ohr, bevor mich der Schlaf gänzlich überwältigte.

Ich hörte, wie der Vater der Mutter vorrechnete, daß die Ersparnisse ein halbes Jahr reichen könnten, wenn man mit dem Pfennig haushielte. Inzwischen würden der Bruder und die ältesten Schwestern Musikschüler finden, und wenn die dritte Schwester, die ein Geschäftsgenie war, mit ihrem Unternehmen Glück hatte, so konnte man der Zukunft getrost entgegensehen. Denn mittlerweile mußte sich ja die Praxis finden, auf die das Haus gestellt war.

Die Mutter glaubte ihm nicht recht. Sie machte sich Sorgen. Man hätte eine viel zu große Wohnung gemietet, entgegnete sie, und sich unnötige Lasten aufgebürdet. Elf Zimmer und tausend Taler Miete – wohin sollte das führen! Es sei ein Leichtsinn gewesen, den Kindern freie Hand zu lassen, den Haushalt so groß zu beginnen, anstatt bescheiden anzufangen und erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge anlassen würden. »Aber so seid ihr Brüder insgesamt. Hoch hinaus wollt ihr und bedenkt nicht das Ende. Sieh dir nur Jakob an, wie weit es mit dem gekommen ist – was für ein verwüstetes Gesicht er hat, und wie unstet seine Augen flackern.«

Der Vater, der für gewöhnlich von niemandem Lehren annahm und auch die Mutter nach der Richtung hin kurzhielt, lächelte fein.

Aber die Mutter fuhr gereizt fort: »Nie hätte ich gedacht, daß du alles auf eine Karte setzen könntest und dich mit grauen Haaren in solch ein Abenteuer stürzen würdest.«

»Pst,« sagte mein Vater und machte eine abwehrende Handbewegung.

Er holte aus der Tasche seines Pelzes des Ovid Metamorphosen hervor, schlug den Band aus und sprach: »Hier auf Seite eins, Zeile eins, steht zu lesen: In nova fert animus. Zu deutsch: In neue Unternehmungen trägt mich mein Geist.« –

Dann klappte er das Buch zu und rezitierte die ersten fünfzig Verse des Ovid auswendig. Meine Mutter hörte ruhig und geduldig zu. Denn wenn ihr mein Vater aus den Lateinern und Griechen vorlas, mußte sie still sein. Sie wußte, daß er für seine geliebten Dichter Aufmerksamkeit und Ehrfurcht verlangte.

Er liebte die Musik und er liebte die Dichter. Er las den Homer und den Tacitus wie deutsche Bücher und genoß mit wahrem Entzücken die Feinheiten der alten Sprachen. Jeden Abend, den Gott werden ließ, nahm er irgend einen Klassiker mit in sein Bett, und bevor die Mutter einschlief, gab er ihr etwas von dem Reichtum der Griechen und Römer. Das war seine Erholung von des Tages Last und Mühen. So hat er es gehalten – ich möchte sagen, bis zu seiner Sterbestunde.

Neben seiner Berufsarbeit und seinen künstlerischen Interessen war er ein Meister des Schachspiels. So viel steht fest: niemand hielt ihn für einen gewöhnlichen Mediziner. Aber immer wieder komme ich darauf zurück – im letzten Sinne war er Haus- und Familienvater.

 

Wir Kinder wurden plötzlich geweckt. »Berlin! Berlin! Berlin!« drang es wie ein Zauberwort an unser Ohr. Und gleich darauf umarmten und küßten wir unseren Bruder Richard und die Schwestern Lotte, Anna und Dora, die uns mit freudigen Gesichtern entgegengeeilt waren.

Das Handgepäck wurde aus dem Kupee genommen, der Gepäckschein dem Träger übergeben. Und gar nicht viel später waren die Eltern mit Kind und Kegel in zwei Droschken zweiter Klasse untergebracht, die uns in das neue Heim führen sollten.

Wie klopften unsere jungen Herzen vor Begierde. – Wie konnten wir uns mit Fragen nicht genug tun. – Und wie lugten unsere glänzenden Augen durch die vom Frost beschlagenen Scheiben, ohne etwas anderes als den Lichtschimmer der Laternen zu erspähen. Dann hielten die Wagen vor einem großen Hause, das uns wie ein Palast erschien. Und als hätten wir Flügel, eilten wir die Treppen hinauf. Im dritten Stock lag unsere Wohnung.

Im hell erleuchteten Flur erwartete uns die alte Köchin Therese, die mit uns gezogen war. Sie herzte und küßte uns. Aber wir rissen uns von ihr los und stürmten wie eine wilde Horde in den großen Speisesaal, in dem viele, viele Jahre von nun ab der Tisch für uns gedeckt sein sollte.

Da standen im Hintergrund die alten Schränke, die wie große Orgeln in die Höhe gebaut schienen. Da stand unser lieber alter Eßtisch, der von mächtigen geschnitzten Löwenfüßen getragen wurde und in der Folgezeit so viel Einlagen erhielt, daß er einer Hochzeitstafel glich. Und rings um ihn die braunen Lederstühle. Und in der Nische war der Blumentisch mit neuen Gummibäumen aufgestellt.

Das erste, was mein Bruder Karl und ich taten, war, daß wir uns auf dem mächtigen braunledernen Sofa herumbalgten, das auf der rechten Seitenwand seinen Platz gefunden hatte.

»Schnattert nicht wie die Gänse!« rief mein Vater, »und kommt essen!«

Wir verstummten sofort und folgten seinem Worte. Ein Wink des Vaters genügte, um unseren Übermut zu zügeln.

Die dampfenden Speisen wurden aufgetragen, und wir alle saßen rings um den Tisch, erregt durch die ungewohnte neue Umgebung – und ließen es uns wohl sein.

Die Mutter teilte jedem das Seine zu und schien im Gegensatz zu uns anderen ein wenig gedrückt. Diese große Wohnung bereitete ihr Sorgen.

»Ihr werdet tüchtig heran müssen, Mädels,« sagte sie zu den Schwestern.

»Es wird schon ein Stück Arbeit kosten, diese Riesenwohnung in Ordnung zu halten.«

Inmitten des Essens ertönte plötzlich die Glocke. Wir alle horchten einen Moment auf.

Meine Schwester Dora ging in den Korridor, um zu öffnen. Sie erschien bald wieder, und ihr häßliches, kluges Gesicht war von einem glücklichen Lächeln verschönt.

»Der erste Patient,« sagte sie und reckte ihre kleine Gestalt in die Höhe.

Der Vater traute seinen Ohren nicht. Aber es hatte mit der Meldung seine Richtigkeit.

Nun zog er sich flugs an und folgte dem Boten, der ihn draußen erwartete.

Nach einer halben Stunde kam er in bester Laune zurück. Der Hausarzt der Leute, zu denen man ihn gerufen hatte, war nicht zu erreichen gewesen, und so hatte man zu dem Doktor geschickt, der am schnellsten zu haben war, in diesem Falle also zu meinem Vater, dessen Schild schon einige Tage vorher die Schwestern fürsorglich hatten anbringen lassen.

»Das erste Handgeld,« sagte der Vater, und legte einen blanken Taler auf den Tisch. Und in prächtiger Laune fügte er hinzu: »Wenn das so weiter geht, werde ich Millionär. Hier wird ein Doktor doch anders honoriert, als in unserem elenden Neste.«

Und dabei sah er meine Mutter schmunzelnd an und hob drohend den Zeigefinger, auf dem er den großen goldenen Siegelring trug.

»Laß den Kopf nicht hängen, Alte. Ein Besuch über Land hat gerade so viel betragen, wie diese kurze Visite …«

Ach du lieber, guter Vater, wie bald sollten all' deine Hoffnungen auf jenen Gold- und Silberregen, der sich über das Haus ergießen würde, zuschanden werden! … In dem Buche deines Schicksals stand geschrieben, daß auf diesen glücklichen Abend viele bittere Jahre folgen sollten. Meiner Mutter ahnungsvolles Gemüt hatte hellseherisch in die Zukunft geschaut …

»Und nun wird schlafen gegangen,« befahl der Vater. Wir küßten den Eltern die Hände, und die alte Therese nahm meinen Bruder und mich in Obhut. Wir schliefen gemeinsam in einem großen Bett, was uns Jungen nicht unangenehm war. Denn zuweilen hatten wir das Gruseln und fühlten uns dann durch die Nähe unserer Körper sicherer und geborgener. Ich richtete mich, wie ich es gewohnt war, kerzengerade in meinem Bette auf und sprach laut das Nachtgebet, das der Vater für uns Kinder gedichtet hatte.

»Ja, möchtest du denn nicht auch beten?« fragte ich meinen Bruder, als ich geendet hatte.

»Ich habe es bereits getan,« antwortete er.

»Das ist doch nicht möglich,« gab ich zurück.

»Warum denn nicht?«

»Weil du faul dagelegen hast.«

»Ich bete von nun ab immer im Liegen,« erwiderte er.

Ich sah ihn starr an und fühlte, wie mir das Blut zu Kopfe stieg. Eine solche Gemeinheit gegen den lieben Gott hatte ich ihm nicht zugetraut. Denn seit jeher pflegten wir unser Abendgebet in aufrechter Haltung zu sprechen, mochten wir noch so müde sein. Diese Rücksicht waren wir dem lieben Gott schuldig.

Ich war von der niederträchtigen Handlungsweise meines Bruders so verblüfft, daß mir zuerst die Worte fehlten.

»Das ist eine Sünde,« stieß ich endlich hervor, »die dir Gott nicht verzeihen wird.«

Mein Bruder ließ sich trotz meiner Empörung nicht aus seinem Phlegma reißen.

»Ich bin müde,« sagte er kurz. »Laß mich schlafen.« Und etwas milder setzte er hinzu: »Gott versteht einen ebenso gut, ob man liegend oder sitzend zu ihm betet.«

Diese Logik leuchtete mir keineswegs ein.

»Ja,« sagte ich, »Gott versteht dich. Er liest in deinem Herzen und weiß, daß du dich aus purer Trägheit gegen ihn versündigst.«

Jetzt wurde mein Bruder ärgerlich.

»Scher' dich zum Teufel mit deinem altklugen Gerede. Ich will endlich meine Ruhe haben.«

Damit warf er sich zur Seite und zeigte mir in herausfordernder Weise denjenigen Teil seines Körpers, dessen Anblick meine innere Empörung noch steigerte.

Ich war zu müde, um länger mit ihm zu streiten. In tiefer Trauer über seine Gottlosigkeit schlief ich bald ein.

Meine Schwester Dora, die, wie ich bereits vorher bemerkte, über einen kostbaren Humor verfügte, trat zuvor noch an unser Bett, zog die Decke, die sich verschoben hatte, zurecht, und küßte uns auf die Stirn.


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