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Im Hause ging scheinbar alles seinen gewohnten Gang. Meine Schwester Lotte erteilte von früh bis abends ihre Gesang- und Klavierlektionen – Schwester Dora ließ nach wie vor in dem kleinen Eckzimmerchen schwerseidene Schürzen mit goldenen und silbernen Blumen besticken, mein Bruder Karl komponierte lustige, leichte Weisen, während ich für mein Teil vormittags die Universität besuchte und am Nachmittage bis zum Abend Unterricht gab, um mir meine Kleidung und mein Taschengeld zu verdienen. Und mittags und abends saßen wir an der langen Tafel mit den Pensionären, und oben thronten Vater und Mutter – und die Mienen der Mutter wurden immer sorgenvoller, denn Fleisch und Butter und sonstige Lebensmittel stiegen immer höher im Preise, und der Appetit der Pensionäre wurde nicht geringer. Ach, wenn der Vater ihr am Abend aus dem Homer und Ovid vorlas, stöhnte sie leise in sich hinein. Mochten der Homer und Ovid noch so große Dichter sein, wie man bei dieser Teuerung die Wirtschaft führen und sich gerade und ehrlich durchschlagen sollte – darüber fand sich bei besagten Dichtern auch nicht eine Silbe – und meine Mutter begann gegen Äneas und Odysseus einen heimlichen Groll zu nähren, weil sie den Vater von der Realität der Dinge ablenkten und ihn in ein Netz von Phantasien einsponnen, in dem ihm der Wirklichkeitssinn abhanden ging. Der Vater hatte die Dichter und sein Schachspiel; aber die Mutter – wo sollte sie mit ihren Sorgen hin!

Daß der Vater mit seinem armen, siechen Körper, der von unsagbaren Schmerzen gepeinigt wurde, bei seinen geliebten Griechen und Lateinern Vergessen suchen mußte, um seine mühselige Existenz überhaupt ertragen zu können – begriff die Mutter letzten Endes, und in ihrer treuen Liebe schalt sie sich hinterher, wenn sie von ihrem Eheherrn Verständnis für das Steigen der Eierpreise gefordert hatte. –

Liebe, gute Mutter, während ich diese Zeilen niederschreibe, bin ich mir bewußt, daß ich auch nicht einen Deut von dem zu geben vermag, was eigentlich das Wesen deiner Persönlichkeit ausmachte. Denn das war das Seltsame an dir, daß du in jenen Jugendjahren, von denen hier die Rede ist, aus einer großartigen Liebe zum Vater in den dunkelsten Winkeln des Hauses dich verbargst. Fast möchte ich sagen, wie ein armes Schneckentier verkrochst du dich, um nur, wenn es not tat, leise und vorsichtig deine Fühlhörner auszustrecken. In noch höherem Maße als uns Kindern war für dich der Vater ein hochragender Baum, in dessen Schatten du still und demütig tratest.

Diese deine Demut hat für mich, den Rückblickenden, etwas Erschütterndes. Um seinetwillen gabst du dich auf, wurdest bis zu seinem Tode eine Lauscherin, die andächtig an seinen Lippen hing, die verstummte, sobald er sprach.

So ahnte niemand in deiner Umgebung, welch einen geistigen Reichtum du in dir trugst – man nahm deine Zurückhaltung und Bescheidenheit für Begrenztheit und machte nicht einmal den Versuch, bis zu den Quellen deiner Eigenart zu dringen. Erst während der Krankheit des Vaters und nach seinem Sterben – in der Zeit also, in der du mut- und blutvoll die ganze Bürde des Hauses auf deine Schultern nahmst, offenbarte sich deine starke Seele und dein klarer Geist, der hellseherisch und tiefblickend war. Es gab da Augenblicke, in denen du über dich hinauswuchsest und zu unser aller Staunen die Grenzgebiete deines Ichs selbstherrlich erweitertest. Aber über deinem Geistigen strahlte deine Kraft und dein dir eingeborener Wille zur Liebe und Güte.

In dem Wechsel der Jahre und des Erlebens – in den Stunden, in denen ich leise und doch vernehmlich den Tod an meiner Türe pochen hörte, war mir keine Erkenntnis schmerzhafter als die, wie wenig ich dich begriffen und mit wie karger Münze ich deine Guttaten vergolten habe.

Deines Wesens Kern will ich später einmal herauszuschälen suchen – dein Bild auf den Blättern zeichnen, die diesem Buche folgen sollen, sofern mir Gott gesunde Glieder läßt.


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