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19

Im Hause wuchsen die Bräute wie Pilze aus dem Boden heraus. Mit meiner Schwester Anna fing die Geschichte zum Leidwesen meines Vaters an. Sie war mittlerweile ein spätes Mädchen geworden und der Heiratstik hatte sie gepackt. Der Mann, den sie uns ins Haus brachte, gefiel meinem Vater nicht. Mir ist es heute noch, als ob ich die Stimme des Vaters und seine Worte hörte: »Lieber einen grauen Zopf kriegen, als sich ins Unglück stürzen … Muß denn um jeden Preis geheiratet werden?«

Lieber, guter Vater, Verzeihung! Aber ich glaube, du hast dem Probleme nicht auf den Grund geguckt. Wenn ein Mädchen in die Jahre kommt, will es wissen, wozu es lebt.

Mein Vater war im Falle meiner Schwester anderer Ansicht und grämte sich. Er hatte vor dem Charakter und der Tüchtigkeit dieser Tochter eine hohe Achtung und wünschte ihr keine Sorgenehe.

Meine Schwester litt unter seinem Widerstande. Sie hatte sich all die Jahre für das Haus gewissermaßen geopfert, und die Sehnsucht nach einem eigenen Herde war in ihr übermächtig geworden, so daß sie alle Vernunftgründe, die mein Vater gegen ihre Heirat geltend machte – man könnte sagen mit klarem Bewußtsein – ausschaltete.

Wie kann man mit offenen Augen in sein Unglück rennen! – warnte mein Vater. Es half ihm nichts.

Verlobung wurde gefeiert, und eine rasche Heirat folgte.

Einen Tag vor der Verheiratung trat meine Schwester zum Frühstückstisch der Eltern. Das ernste, tapfere Mädchen, dessen Dasein nur Arbeit und Pflichttreue gewesen war, sah Vater und Mutter mit großen, bittenden Augen erst eine Weile stumm an.

Dann sagte sie: »Ich will mit euch nicht über das sprechen, was nun kommen wird. Ich will euch von ganzem Herzen danken für das, was ihr an mir getan habt.«

Und leiser fügte sie hinzu: »Ihr habt aus mir einen anständigen Menschen gemacht, liebe Eltern, ich danke euch.«

Mein Vater küßte sie auf die Stirn, und meine Mutter umarmte sie schluchzend …

Die Hochzeitstafel wurde in Hufeisenform aufgestellt und mit Blumen geschmückt. Unser Speisesaal erhielt ein festliches Aussehen.

Eine Stunde vor dem Mahle winkte mir mein Vater.

»Höre mal,« sagte er, »der Kopf tut mir weh, du könntest so etwas wie eine kleine Rede für mich zu Papier bringen.«

Ich blickte ihn erstaunt an, ging in mein Zimmer und dachte mir ein paar Sätze aus, die ich niederschrieb. Dem Vater steckte ich das Papier heimlich zu. Ich begriff ihn nicht.

Nun kam der Augenblick, in dem der Vater an das Glas klopfte. Ich horchte und atmete erleichtert auf, als ich merkte, daß der Text seiner Rede grundverschieden von meinen Aufzeichnungen war.

Der Vater schilderte den Lebensgang meiner Schwester, die sich heute mit Stolz sagen dürfte, daß sie für uns jüngere Geschwister immer vorbildlich gewesen sei. Er wüßte keine Stunde des Lebens, in der sie ihm oder der Mutter einen tieferen Kummer bereitet hätte. (Bei dieser Stelle, die mir ein wenig peinlich war, blickte ich demonstrativ auf meinen Teller. Anspielungen sind mir stets fatal gewesen.) »Wenn sie bei anderen Ernst und Pflichttreue als Grundbedingungen eines tüchtigen Daseins voraussetzte,« – fuhr der Vater fort, »so hat sie doch zuerst an sich selber den strengsten Maßstab gelegt und ist dem Hause die treueste Stütze gewesen.«

Er sah sie mit dem Ausdruck inniger Liebe an und mußte innehalten, denn eine tiefe Rührung kam über ihn.

Die ernsten Augen meiner Schwester leuchteten in Dankbarkeit auf.

Und wie mein Vater sich mit der Rechten schwer auf den Tisch stützte und nach Worten suchte, um seiner Bewegung Herr zu werden, empfand jedes von uns den schlichten Adel und die Reinheit seines Wesens.

Und doch atmeten wir befreit auf, als er seine Rede in einem Hoch auf das Paar ausklingen ließ.

Ich wenigstens war heilsfroh. Denn so oft ich gerührte Gesichter bei meinen Verwandten sehe, wird mir unbehaglich zumute. Ich bin nämlich im allgemeinen der Ansicht, man soll die Rührung wie eine bittere Pille herzhaft herunterschlucken, weil man dem Gefühle, schon durch die Offenbarung, sein feinstes Teil nimmt.

Der Vater rief mir über den Tisch zu: »Ich wollte dich auf die Probe stellen – und du hast deine Sache gut gemacht.«

Ich trank ihm lachend zu, obwohl ich mit der Rolle eines Versuchskaninchens nicht ganz einverstanden war. Aber die gute Laune und heitere Stimmung des Vaters machte mich glücklich. Wie lange war es denn her, daß wir voll Angst und Sorgen an seinem Lager gestanden hatten!

Bei Tische wurden zwei Carmina gesungen, die auf weißem und rotem Papier gedruckt waren. Das eine rührte von meinem Vater her und ging nach der Melodie: »O Tannebaum, wie grün sind deine Blätter.«

Das andere hatte Rosa Himmel gedichtet, die bei allen festlichen Anlässen als Hauspoetin in die Erscheinung trat.

Auf einmal klopfte mein Vater an sein Glas und erbat silentium – für mich.

Ich bekam einen roten Kopf, denn darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Gleichwohl ließ ich das Herz nicht in die Hosentasche fallen, nahm einen kräftigen Anlauf und begann: Ich hätte von den jüngeren Geschwistern den ehrenvollen Auftrag, in dieser feierlichen Stunde unseren Dank zum Ausdruck zu bringen. Wohl hätte die Schwester – die Wahrheit dürfte nicht unterschlagen werden – ein strenges Regiment geführt. Und manches liebe Mal seien wir rabiat geworden, wenn ihr unerbittlicher Ruf in den Hof drang und uns vom Spiele riß. Aber dessen wollte ich heute nur leichthin gedenken, denn wir liebten diese Schwester mit ihrem großen Ernste, ihrem tapferen Sinn und ihrer Strenge, die uns wohlgetan, auch wenn sie uns zuweilen Schmerzen bereitete. Und dennoch sei die Schwester auch uns zu Dank verpflichtet, denn an unserem Beispiel habe sie gelernt, wie schwer es sei, Kinder zu erziehen. Das würde ihrem Nachwuchs wiederum zugute kommen, sofern Gott – was ich von Herzen wünschte – ihr solchen bescherte …

Mit der letzten Wendung hatte ich Glück. Sie löste allgemeine Heiterkeit aus, während der Erfolg vorher ein wenig zweifelhaft gewesen war.

Meine Schwester umarmte mich.

»Du bist ein grauseliger Junge,« sagte sie, »aber du hast Charakter, und du erinnerst dich, daß uns der Vater aus seinem Fontane vorgelesen hat: Schließlich und endlich kommt alles darauf an, daß einer Charakter hat.«

»Bravo!« sagte ich, »dir fällt doch immer ein gescheites Wort ein.«

Sie hob drohend den Finger. Dann legte sie ihren Mund an mein Ohr und flüsterte mir zu: »Was meinst du – wie oft habe ich mir gewünscht, weniger gescheit zu sein. Und dann habe ich zuletzt immer gemerkt, daß ich jedesmal eine Dummheit beging, wenn ich recht gescheit sein wollte … Merk dir das, mein Sohn!«

Ich hatte auf der Zunge, ihr schlagfertig zu erwidern: »Merk dir, liebe Schwester, ob du nicht just in dieser Stunde die größte Eselei deines Lebens begangen hast –«

Aber ich unterdrückte den Satz (obwohl es mir nicht leicht fiel), denn er erschien mir nicht gerade sehr hochzeitsgemäß. Zudem hatte ich trotz meiner Jugend bereits die Erfahrung gemacht, daß das Prophezeien eine recht undankbare Sache ist. Also nickte ich ernsthaft und dachte mir mein Teil.


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