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17

Mühselig schleppte mein Vater die Bürde des Lebens. Die körperlichen Qualen und die Sorgen um den Alltag lösten eine Schroffheit und Strenge in ihm aus, die ihm hinterher, ohne daß er es uns merken ließ, nicht selten leid war.

Mit mir hatte er seine Not. Aus der Schule liefen beständig Klagen ein wegen meiner Renitenz gegen die Lehrer. Ich war mit dem Professor, der den griechischen Unterricht erteilte, heftig aneinandergeraten. Es war dies ein kleiner Mann mit krummen Beinen und einer Fistelstimme. Sobald er in die Klasse trat, wurde er mit Pfeifen, Johlen und Scharren empfangen. Und dies Scharren wurde während der ganzen Stunde fortgesetzt.

Ich hatte mir seinen besonderen Haß infolge eines komischen Vorfalles zugezogen. Eines Tages ließ er nämlich während des Unterrichts den Homer fallen. Ich beeilte mich, das Buch aufzuheben, und entdeckte zu meinem Erstaunen, daß über jeder Druckzeile mit zierlichen Lettern der deutsche Text geschrieben stand. Unwillkürlich fiel mein Auge auf eine Randbemerkung, die die Worte enthielt: An dieser Stelle pflege ich jedesmal einen Witz zu machen.

Ich konnte mir meine Heiterkeit nicht verkneifen und brach in ein lautes Lachen aus. Von dem Tage an hatte ich bei ihm verspielt. Er sah in mir einen Erzverbrecher und den Anstifter des gegen ihn gerichteten Unfugs.

Der Mann hatte die merkwürdige Gewohnheit, hinter jedem zweiten Worte »zunächst« einzufügen.

Einmal trat er hochroten Kopfes in unsere Klasse. Seine kleinen Augen funkelten und sprühten, und die Backenknochen traten aus dem glattrasierten Gesicht noch schärfer als gewöhnlich hervor. Er glaubte plötzlich das Mittel entdeckt zu haben, um sich gegen uns zu schützen. Und indem er dicht auf mich zutrat, sagte er: »Sie setzen sich zunächst auf die vorderste Bank, und hören dann diese verdammten Geräusche nicht auf, so weiß ich ›zunächst‹, wer der Attentäter ist.«

Obwohl ich seine Logik nicht recht begriff, folgte ich doch seiner Weisung.

Nun muß ich hier einschalten, daß ich längst nicht mehr zu den Lärmmachern gehörte. Ich hatte die Schule satt. Mich drängte es, in die Freiheit zu kommen. Zudem wußte ich, daß mein Vater für solche Jungenstreiche wenig Verständnis hatte. So verspürte ich nicht die mindeste Lust, mein Fortkommen aufs Spiel zu setzen.

An dem Tage ließ ich es mir ganz gewiß nicht einfallen, Radau zu machen.

Der Unterricht begann. Es dauerte auch gar nicht lange, so fingen hinter mir ein paar Füße zu scharren an.

Wie von einer Feder geschnellt, sprang der kleine Mann vom Katheder. Auf seiner Miene lag ein Ausdruck seliger Schadenfreude. Und indem sich seine Stimme überschlug, rief er mir zu: »Zunächst fünf Stunden Karzer für Ihr bübisches Benehmen!«

Ich stand ganz ruhig auf und erwiderte: »Verzeihen Sie, aber zunächst bin ich es nicht gewesen.«

Er: »Zunächst halten Sie den Mund!«

Und ich: »Zunächst stelle ich noch einmal fest, daß ich es nicht gewesen bin!«

»Hinaus!« rief er mit Stentorstimme.

»Gut. Ich gehe.«

Nun patrouillierte ich auf dem Korridor hin und her. Aber bald wurde es mir ungemütlich, denn ich begann zu frieren und kurzerhand entschloß ich mich, mir meinen Mantel zu holen.

Ich öffnete also die Klassentüre und schnitt jeden Einwand mit den Worten ab: »Zunächst hole ich mir meinen Überzieher, ich habe keine Lust, mich zu erkälten.«

Meine lieben Mitschüler wieherten vor Freude. Ich aber verließ augenblicklich wieder das Schulzimmer.

Draußen marschierte ich in etwas unbehaglicher Stimmung von neuem auf und nieder.

Und plötzlich steht mein Direktor vor mir.

»Was treiben Sie denn hier?« herrscht er mich an.

»Der Herr Professor Bernhardt haben beliebt, mich hinauszuwerfen.«

In mir hatte sich mittlerweile so viel Ärger angesammelt, daß mir schon alles gleichgültig war.

»So!« sagte der Direktor. »Und weshalb hat er Sie hinausgeworfen?«

Ich erzählte den Hergang.

Er blickte mich prüfend an.

»Hätten Sie mir gegenüber sich auch solche Antworten erlaubt?« fragte er.

»Dazu wäre ich nicht gekommen,« erwiderte ich, »da Sie niemals einen Schüler in dieser ungerechten Weise behandeln.«

»Schweigen Sie! Das soll wohl eine captatio benevolentiae sein?«

Ich spürte, wie ich um einen Schatten blasser wurde.

»So etwas nehme ich mir nicht heraus,« sagte ich trotzig.

Es entstand eine kleine Pause.

»Hören Sie,« hub er dann an, »ich bin der Ansicht, daß Sie keiner Lüge fähig sind. Aber ebenso bin ich der festen Überzeugung, Sie kennen den Missetäter. Entweder nennen Sie mir innerhalb einer Stunde seinen Namen, oder Sie sind nicht mehr Schüler der Anstalt. Nun haben Sie Zeit, sich die Sache gründlich zu überlegen.«

»Herr Direktor, ich brauche dazu keine Zeit. Auch wenn ich wüßte, wer es gewesen ist – ich würde den Betreffenden nicht nennen. Ich bin doch kein Denunziant,« setzte ich tief gekränkt hinzu.

»Überlegen Sie es sich! Ich rate Ihnen gut!«

Und ohne eine weitere Antwort abzuwarten, ging er davon.

Ich kannte den Mann und wußte, daß es ihm ernst war. Trotzdem besann ich mich keinen Augenblick und blieb bei meinem Entschluß.

Die Schulglocke läutete. Die griechische Stunde war beendet. Ich nahm meine Bücher und ging nach Hause, um Bericht zu erstatten.

Mein Vater wurde krebsrot vor Zorn.

»Das hat noch gerade gefehlt, um das Maß voll zu machen. Was willst du denn anfangen, wenn man dich von der Schule weist? Willst du Straßenfeger werden? Oder soll ich dich in ein Geschäft stecken? Keine vierundzwanzig Stunden behält man dich mit deinem störrischen Wesen.«

Ich zuckte die Achseln. Ich war verletzt, daß er so wenig Verständnis für meinen Standpunkt hatte.

»Es gibt ja noch andere Gymnasien,« entgegnete ich kurz und ging aus seinem Zimmer.

Bei der Mahlzeit schimpfte ein junger commis voyageur über Ibsen.

Da ging mir die Galle über, und ich sagte: »Reden Sie doch nicht über Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben!«

Diese Worte hörte mein Vater. Und verärgert, wie er über mich war, schrie er mir zu: »Halte gefälligst dein Maul!«

»Ich habe kein Maul,« antwortete ich empört.

Mein Vater konnte sich nicht beherrschen. Der laute Ton meiner Stimme mußte ihn auf das empfindlichste gereizt haben. Denn er knitterte plötzlich seine Serviette zusammen und schleuderte sie mir vom oberen Tafelende aus ins Gesicht. Unglücklicherweise traf ein Zipfel mein rechtes Auge, das sofort zu tränen begann.

Dieses Geschehnis hatte zur Folge, daß der Vater und ich monatelang kein Wort wechselten. Er hörte auf, mich bei den Präparationen des Tacitus und Homer zu kontrollieren. – Ich ging meine eigenen Wege.

Am folgenden Morgen begab ich mich in die Schule, in der Erwartung, mein Abgangszeugnis zu erhalten. Ich nahm indessen noch am Unterrichte teil.

Während der Homerlektüre tritt der Direktor in die Klasse. Er schlägt das Tagebuch auf, in dem meine Karzerstrafe eingetragen ist.

Die gespannten Mienen meiner Mitschüler sind auf sein strenges Antlitz gerichtet. Und nun sagt er mit einer Stimme, deren gütigen Klang ich nie vergessen werde: »Ich hoffe, daß es Ihnen gelingen wird, sich die Zufriedenheit des Herrn Professor Bernhardt zu erringen – die meinige besitzen Sie.«

Dieses unvermittelte und überraschende Lob bedeutete für mich einen hohen erzieherischen Wert. Denn ich setzte meinen ganzen Ehrgeiz darein, seine Achtung zu rechtfertigen.

Professor Bernhardt freilich blieb mir bis zu meinem Abiturientenexamen spinnefeind.

Mit meinem Vater versöhnte ich mich unter den traurigsten Umständen.

Er kam eines Tages schwer krank nach Hause und kaum, daß er im Bette lag, sah er uns mit gebrochenem Auge an, so daß wir laut aufschluchzten, das Schlimmste befürchtend. Eine geraume Zeit verstrich, ehe er seine Besinnung wieder erlangte.

Ich stand wie ein Verbrecher an seinem Lager. Nach vielen Jahren betete ich zum ersten Male wieder zu Gott. Ich flehte, Gott solle uns sein Leben erhalten. Ich konnte den Gedanken nicht fassen, daß er unausgesöhnt mit mir verscheiden würde.

Als der Vater die Augen wieder aufschlug, kniete ich an seinem Bett und küßte ihm die Hand. Er blickte mich mit unsagbarer Liebe an, und wir verstanden uns, ohne ein Wort zu wechseln.


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