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14

Eine Zeitlang hieß es, daß gegen Herrn Senz eine Untersuchung eingeleitet worden sei. Aber die Sache verlief schließlich im Sande. Jedenfalls herrschte während einiger Zeit im zweiten Stocke eine gedrückte Stimmung, die bei meinem Freunde Walter fast in Schwermut ausartete. Er wurde erst ruhiger, als er sich zu dem Entschlusse durchgerungen hatte, der seine früheren Lebenspläne über den Haufen warf.

»Ich kann nicht Offizier werden,« sagte er. »Damit ist es ein für allemal zu Ende. Und ich kann auch nicht Medizin studieren, denn das dauert mir ebenfalls zu lange. Mit Ablauf des Quartals verlasse ich die Schule und werde Kaufmann. Geld muß ich verdienen und selbständig werden.«

»Aber, Walter,« entgegnete ich, »das ist doch alles Unsinn. Wie willst du Kaufmann werden, der du diesen Beruf im Grunde deiner Seele hassest.«

Er blickte mich wie von Fieberfrost geschüttelt an.

»Ich werde Kaufmann, – es ist eine beschlossene Sache. Ich kann die Zustände in unserem Haus nicht länger mit ansehen. Mein Vater ist ein Spieler, und meine arme Mutter geht daran zugrunde.«

Er brach jäh ab.

Nach einer Weile hub er von neuem an: »Wenn das Unglück über uns hereinbricht – und eines Tages wird es so weit sein – dann muß einer da sein, der für Mutter und Schwestern sorgt. Erinnerst du dich,« fuhr er fort, »daß ich dir einmal gestanden habe, wie sehr ich dich noch um die Strenge deines Vaters beneide? Wenn ich nachts in meinem Bett liege und nicht schlafen kann, dann stelle ich mir zuweilen vor, es gäbe nichts Schöneres, als wenn ein Mann alt und weiß wird – gerade so wie dein Vater – und um ihn sind seine Kinder und die Kinder seiner Kinder, die ihm voll Ehrfurcht die Hände küssen. Nie,« schloß er, »vergesse ich das Wort meines Lehrers: Ein gutes Leben bereitet ein schönes Sterben. – Dein Vater trägt den Kopf hoch und hat ein gutes Recht, von euch viel zu verlangen, denn er hat von sich selber immer viel gefordert.«

Ich war stolz darauf, diesen Jungen so über meinen Vater reden zu hören, dessen sittliche Lebensführung des Freundes Worte mir ganz zum Bewußtsein brachten.

Grete Senz wollte aus dem Hause und zum Theater gehen, und meine Schwester Helene bestärkte sie darin – von dem gleichen Wunsche wie sie erfüllt. Sie lernten beide heimlich den großen Monolog aus der »Jungfrau von Orleans« und gingen eines Tages zum Hofschauspieler Berndal, um sich prüfen zu lassen.

Berndal empfing die beiden schönen Mädchen mit gütiger Miene und hörte sie freundlich an.

»Ach, meine lieben jungen Fräuleins,« entgegnete er, »ersparen Sie es mir, daß ich Sie höre. Sie haben sicher beide Talent; wenn man so jung ist, hat man immer Talent. Aber glauben Sie es mir, es ist ein glänzendes Elend, in das Sie Hals über Kopf mit verwegenem Jugendsinn hineinspringen wollen. Passen Sie einmal auf: alle jungen Schauspielerinnen haben den Wunsch, in Berlin oder in Wien Komödie zu spielen. Schlimmstenfalls sind sie auch noch mit München oder Hamburg zufrieden. Nun rechnen Sie sich einmal aus, wieviel erste Bühnen es in diesen Städten gibt, und wie wenige Künstlerinnen ihr Ziel erreichen. Auf dem Wege gibt es nur Sorgen und Enttäuschungen, und die meisten enden auf irgend einer traurigen Provinzschmiere und büßen nicht nur« – er hielt einen Moment inne und betrachtete mit Wohlbehagen die beiden Frühlingsgestalten – »büßen nicht nur,« nahm er das Wort wieder auf, »des Körpers Schönheit, sondern auch des Herzens Reinheit ein. – Glauben Sie einem alten Manne, es ist so. Und verzichten Sie darauf, sich von mir prüfen zu lassen. Und wenn Sie eines Tages Hochzeit machen werden, werden Sie sich mit Dankbarkeit der Worte des alten Berndal erinnern.«

Die beiden Mädchen machten einen tiefen Knicks und verließen nachdenklich die Wohnung des berühmten Schauspielers, der auch als Mensch ein hohes Ansehen genoß. Mitten auf der Straße blieb Grete Senz stehen: »Zum mindesten steht fest,« sagte sie, »daß wir beide Talent haben. Das hat er uns an der Nasenspitze angesehen.«

Meine Schwester Helene lachte laut auf, so daß die Leute auf der Straße sich nach ihr umblickten.

»Weißt du,« sagte sie, »er hat es ja gewiß gut mit uns gemeint. Aber wenn alle Mädel seinem Rate folgen würden, dann könnte man nicht mehr ›Romeo und Julia‹ spielen, und die Theater müßten überhaupt geschlossen werden.«

Grete Senz wurde wütend.

»Das hättest du ihm statt mir ins Gesicht sagen sollen,« antwortete sie ärgerlich. »Dir fallen auch die besten Dinge immer zu spät ein.«

»Ich will dir mal etwas sagen,« entgegnete meine Schwester, »aber du darfst es vorläufig nicht weiter erzählen. Ich glaube, ich werde mich verloben.«

»Nicht möglich!« erwiderte Grete Senz. »Davon hast du ja bisher nie ein Sterbenswörtchen gesagt. – Mit wem denn eigentlich?«

»Komm mit – ich werde ihn dir zeigen.«

Grete Senz platzte vor Neugierde.

Sie bogen in die Alte Jakobstraße ein, und vor einem kleinen Laden blieb meine Schwester stehen.

»Blick da hinein,« sagte sie tief ernst.

Dicht beim Fenster saß – auf einem Schemel hockend – ein junger Mensch mit einem großen Buckel und einem mächtigen Wasserkopf.

»Was soll denn das?« fragte Grete Senz.

»Das ist er,« antwortete meine Schwester, ohne sich im mindesten durch die verwunderte Miene der Freundin beirren zu lassen.

»Du bist verrückt geworden,« schrie Grete Senz und wollte sie weiterziehen.

Aber meine Schwester ließ sie nicht los und zerrte die Widerstrebende in den Laden.

Da saß der Uhrmacher – im Auge ein großes Glas, mit dem er ein Räderwerk beäugte.

Als die beiden Mädchen eintraten, sprang er hastig vom Schemel, und sein blasses Gesicht rötete sich.

Meine Schwester gab ihm treuherzig die Hand und sagte erklärend: »Das ist meine Freundin Grete Senz, von der ich Ihnen erzählt habe.«

Er nickte ernsthaft und holte aus einem Kasten Konfekt und Schokolade hervor.

Grete Senz lehnte dankend ab und drängte meine Schwester zum Gehen.

Draußen bekam sie einen Wutanfall und schimpfte, was das Zeug halten wollte.

»Bist du denn ganz von Gott verlassen?« sagte sie. »Willst dich einem Buckligen in die Arme werfen! Wenn es nicht zum Weinen wäre, könnte man sich totlachen!«

Meine Schwester war tief gekränkt.

»Wegen seines Buckels habe ich ihn doppelt lieb,« sagte sie halsstarrig. »Wenn du wüßtest, was der arme Mensch in seiner Jugend gelitten hat, wie er all die Kinderjahre, in denen wir fröhlich und ausgelassen waren, förmlich Spießruten gelaufen ist – – – mir hat er das alles erzählt, und ich hätte vor Mitleid heulen mögen. Gerade weil er so unglücklich ist, muß man besonders gut gegen ihn sein.«

»Überlasse das andern,« erwiderte trocken Grete Senz. »Mir scheint, daß sein altes Konfekt der Köder gewesen ist, mit dem er dich ins Netz gelockt hat. Ich kaufe dir ein halbes Pfund Lindtsche Schokolade. Mit der kannst du dich trösten, und dann hat der Schwindel ein Ende.«

»Für so oberflächlich hältst du mich,« erwiderte empört meine Schwester. »Nun, du wirst heute noch etwas erleben.«

Sprach's und mit einem heroischen Entschlusse ging sie stracks zu meinen Eltern, um ihnen die Wahl ihres Herzens kund zu tun.

Mein Vater rief seine älteren Töchter und uns Jungen ins Zimmer und sagte mit einem sarkastischen Ton: »Ich habe euch eine feierliche Mitteilung zu machen: Dies Küken hat sich soeben mit Uhrmacher Scholz verlobt.«

Alle kannten Uhrmacher Scholz, denn er kam jeden Monat einmal ins Haus, um die Uhren zu kontrollieren.

Nun entstand ein homerisches Gelächter. Denn wir meinten, der Vater machte einen Witz, obwohl es eigentlich nicht seine Art war, mit solchen Dingen zu spaßen.

Meine Schwester Helene stand schamübergossen da. Sie fing laut zu weinen an und erklärte unter Tränen, eher ins Wasser zu gehen, als von ihrem buckligen Liebhaber zu lassen. Dann nahm meine Schwester Anna sie am Arm und ging mit ihr in das gebildete Zimmer, das sie hinter sich schloß.

Was die beiden unter vier Augen miteinander geredet haben, weiß ich nicht.

Jedenfalls vermied es von nun ab meine Schwester Helene, Uhrmacher Scholz zu begegnen. Und da mein Vater ihn auch nicht mehr zum Regulieren holen ließ, so hatte der kleine Bucklige nicht nur die vermeintliche Braut, sondern auch einen Kunden eingebüßt.

Ernstere Ereignisse bereiteten sich im Hause vor. Daß Hugo Rubinstein die Versetzung nach der Oberprima zum zweitenmal mißglückt war, erwähne ich nur nebenbei, obwohl sich infolge dieses Malheurs sein Leben von Grund aus änderte. Er wurde nämlich in ein Bankgeschäft gesteckt und mußte nun täglich auf die Börse gehen, um dem Prokuristen seines Hauses Weisungen zu bringen und Orders von ihm zu empfangen. Sobald er mit seiner schwarzen Lockenmähne auf der Börse erschien, wurden blutige Witze über ihn gerissen. Er biß die Zähne zusammen und trug wie ein Märtyrer sein Schicksal. Am späten Abend saß er noch beim Schein der Petroleumlampe und dichtete Lieder an Else Senz, oder schrieb traurige kleine Novellen, die vom Leide der Menschheit handelten.

In die Senzsche Familie kam er nicht mehr, denn ein anderer Gast hatte sich hier eingefunden und ihm den Rang streitig gemacht.

Dieser junge Mann war Polizeileutnant Dorn. Er hatte einen militärisch aufgezwirbelten blonden Schnurrbart und über der rechten Backe einen mächtigen Renommierschmieß. Wenn er lachte, zeigte er seine weißen, regelmäßig gewachsenen Zähne, und zugleich vertiefte sich dann sein Grübchen im Kinn. Sein Lachen hatte etwas Gewinnendes. Er machte überhaupt mit seiner schlanken Gestalt und seinem eleganten Aussehen eine gute Figur. Wenn er die gelbledernen Handschuhe auszog, und sein Säbel klirrte, konnte man Respekt vor ihm bekommen.

Grete Senz erzählte im Vertrauen meiner Schwester, daß er eine prachtvolle Tenorstimme hätte und die schönsten Lieder sänge.

Ich ließ mich dadurch nicht bluffen. Mich dünkte es, als ob er wässerige Augen hätte, die nicht gerade und fest zu blicken vermochten. Ich machte Walter Senz darauf aufmerksam, und der teilte meine Ansicht.

Ich hätte schwören mögen, die Stimme dieses Menschen schon einmal gehört zu haben. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. An jenem Schreckensabend, als im Spielzimmer der Streit ausgebrochen war, und draußen gellend die Glocke ertönte, hatte Polizeileutnant Dorn zum erstenmal die Schwelle des Senzschen Hauses betreten.

Jeden Abend, den Gott werden ließ, saß er nun am Flügel und sang – sich selber begleitend – Lieder von Schumann oder Balladen von Loewe.

An seiner rechten Seite stand Else Senz, die ein wenig zum Völligen neigte – an seiner linken die schlanke Margarete – und wie verzückt lauschten ihm die schönen Mädchen.

Bis in des armen Hugo Rubinsteins Arbeitszimmer drang Polizeileutnant Dorns Stimme. Hugo riß die Fensterflügel auf und starrte trostlos ins Dunkel.

Das fröhliche Lachen der Mädchen traf an sein Ohr. Da schloß er das Fenster, ging wieder an seinen Tisch und schrieb auf die erste Seite seines kleinen Gedichtbandes: Lieder eines kranken Zeisigs – Gedichtet für Else Senz.

Beim Abendbrot erzählte Polizeileutnant Dorn, wie aufreibend der Dienst sei. Dafür repräsentierte man aber gewissermaßen den Staat und erlebte Dinge, über die man Bücher schreiben könnte. Er hätte notabene auch die Absicht, später einmal seine Memoiren herauszugeben. »Wissen Sie, junger Freund,« wandte er sich an Walter Senz, »in den nächsten Tagen veranstalten wir eine Razzia und stöbern das Gesindel in den Verbrecherkneipen auf. Ich möchte Sie da einmal mitnehmen – die Augen würden Sie aufreißen –.« Und gutmütig lachend fügte er hinzu: »Es kommen im Leben Dinge vor, die noch etwas phantastischer sind, als alle Indianergeschichten.«

Walter antwortete etwas spitz, er könne das nicht beurteilen, da er seine Zeit niemals mit derartiger Lektüre vergeudet habe.

»Sehr gescheit, sehr gescheit,« erwiderte Polizeileutnant Dorn, und ohne rechten Zusammenhang fuhr er fort: »Was nutzt das alles, wenn man wie ein Pferdeknecht bezahlt wird.«

Er hätte sich seine Karriere auch anders gedacht. Offizier hatte er werden wollen, damals, als er in Bonn studierte und dem feudalen Korps angehörte. – Prosit die Mahlzeit! Über Nacht starb der Vater und hinterließ ihm einen Haufen Schulden. Ein anderer hätte vielleicht die Flinte ins Korn geworfen; aber er hätte die Konsequenzen gezogen. Und mit großem Nachdruck setzte er hinzu: darauf käme es überhaupt im Leben an, daß man Konsequenzen ziehen könne. Sein Lebensmotto hieße: Durch – so oder so – aber durch.

Er sah alle der Reihe nach an, als wollte er von den Gesichtern den Effekt seiner Rede ablesen.

In den Augen der Mädchen schimmerte es feucht, und Frau Senz meinte, dann sei er ja gewissermaßen ein Selfmademan und könnte stolz darauf sein, daß er sich durch eigene Kraft den Weg gebahnt habe.

Polizeileutnant Dorn lehnte das Lob bescheiden ab. Er habe nur seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan. Im übrigen sei nicht aller Tage Abend, und er hoffe noch, seinen Mann zu stehen.

Frau Senz glaubte aus diesen Worten einen Vorwurf herauszuhören – zum mindesten aber schien es ihr, als ob der Polizeileutnant durch sie verletzt worden sei. So beeilte sie sich denn zu entgegnen, sie zweifle ganz und gar nicht daran, daß ihm noch eine große Zukunft beschieden sei.

»Wollen's abwarten,« erwiderte er; und indem er das Glas aufnahm, sagte er bedeutungsvoll: »Zum Wohle, meine Damen!«

Walter zupfte mich leise am Ärmel.

»Komm!« flüsterte er mir zu.

Als wir in seinem Zimmer waren, meinte ich: »Das ist ein Schwätzer und Schlaumeier.«

»Ach nein,« erwiderte er, »ein Windhund ist's.«

»Durch – so oder so – aber immer durch!« zitierte ich.

»Konsequenzen muß man ziehen – Konsequenzen!« ergänzte Walter lachend. »Notabene,« fügte er hinzu, »mir scheint, daß der Mann darin recht hat.«

Er wurde plötzlich ernst, legte seine Hände auf meine Schulter und sagte: »Meine Mama und meine Schwestern sind ihm im Grunde des Herzens zu tiefem Dank verpflichtet – und ich wohl eigentlich auch. Denn er hat meinem Vater in seinen Nöten beigestanden und ihn gewissermaßen herausgepaukt … Ach, lieber Junge, das Leben ist unsagbar traurig, und ich kann es so gut verstehen, wenn einer den Revolver lädt und sich eine Kugel durch die Schläfe schießt. Wer weiß, ob ich nicht auch einmal auf diese Art ende.«

»Walter, Walter – was sprichst du für dummes Zeug. Ich weiß es, du wirst in die Höhe steigen, ein Prachtkerl werden und uns alle über die Achsel ansehen.«

Er lächelte auf eine befremdliche Weise.

»Michaeli,« sagte er langsam, »verlasse ich die Schule, und dann grabe ich ein tiefes, tiefes Loch – und weißt du, was ich da hineintue?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Alle meine Wünsche, Hoffnungen, Ideale. – Dann gibt's für mich nur noch ein Ziel: reich zu werden – steinreich. Und ich gebe dir meine Hand darauf – ich setze es durch – ich scharre das Geld zusammen … Ich werde gerade so auf die Börse gehen wie Hugo Rubinstein, nur mit dem Unterschied, daß der sein Lebtag ein armer Teufel bleibt und in Wolkenkuckucksheim Paläste bauen wird, während ich … Ach, reden wir darüber nicht – wir wollen es abwarten. Am Ende kommt alles anders, und Hugo fährt vierspännig, während ich oben auf dem Omnibus sitze.«

Unsere alte Therese steckte den Kopf in die Tür.

»Der Herr Doktor fragt nach Ihnen, kommen Sie rasch hinauf!« sagte sie hastig.

Ich verabschiedete mich nachdenklich von Walter Senz und folgte ihr auf dem Fuße.


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