Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Der Hof tönt wider von dem fröhlichen Gelächter vieler Kinderkehlen.

Auf einen herzerfrischenden Winter, in dem die Schneebälle von Kopf zu Kopf geflogen waren, folgt ein weicher, warmer Frühling, und Portier Staegemanns Kastanienbaum fängt schüchtern zu knospen an.

Walter Senz kommandiert das Jungenregiment. Die Kinder vom zweiten Hofe tun mit und stehen gleich uns in Reih' und Glied. Unter klingendem Spiel – der Trommler voran – macht die ganze Kompanie vor der Parterrewohnung des Generals von Enckefort halt. Der General steht am Erkerfenster, fährt mit der Hand durch den eisgrauen Vollbart und erwidert militärisch unseren Gruß. Er trägt den Bart mit ausrasiertem Kinn wie der alte Kaiser Wilhelm.

Heinrich Felbel dient auch in unserer Kompanie, aber er darf sich nicht mucksen. Denn sein Vater ist Sozialdemokrat, und dies Wort klingt in unseren Ohren wie Raubmörder und Zuchthäusler.

In unserem Hause sind alle Parteien vertreten. »Mein Vater wählt konservativ,« sagte Walter Senz.

»Und mein Vater,« antwortete ich, »stimmt für Justizrat August Munkel« (der den dritten liberalen Wahlkreis, zu dem unser Haus gehört, vertritt).

Willi Schneemelchers Erzeuger, der die große Buchbinderei besitzt und für die alte Buchhandlung von Gsellius alle Einbände liefert, gehört zu den Christlich-Sozialen.

Buchbinder Schneemelcher hat sich mit Haut und Haaren dem Hof- und Domprediger Stöcker verschrieben, der seiner Meinung nach, ein zweiter Martin Luther, dem evangelischen Geist neues Blut zuführen will.

Die Jungen im Hofe treiben hohe Politik und kämpfen mit roten Köpfen für die Überzeugungen ihrer Väter, die sie sich zu eigen gemacht haben. – Wenn der Abend dunkelt und Portier Staegemann mit mürrischer Strenge die Armeleutekinder auf den zweiten Hof verwiesen und unserem Spiel ein Ende gemacht hat, sitzen Walter Senz und ich eng aneinandergeschmiegt auf dem steinernen Fenstersims der Portiersloge. Das kleine Tüllgardinchen ist vorgezogen und deckt die Lampe, bei deren gelbem Schein Mamsell Staegemann hurtig die Nadel führt.

Walter Senz und ich sprechen mit einem Gefühl der Beklemmung, das durch die Dunkelheit genährt wird, von des Reiches Pracht und Herrlichkeit und den Gefahren, die ihm drohen. Wir beiden Jungen haben uns darin geeinigt, daß Otto von Bismarck ein Hundsfott ist, der den alten Kaiser Wilhelm stürzen und sich selber die Kaiserkrone aufs Haupt setzen will. Wir beide wissen es genau und können nicht begreifen, daß die anderen das Unheil nicht zu sehen vermögen.

»Er ist ein Hausmeier,« sage ich, und Walter Senz nickt bekräftigend. – Wir kennen unsere deutsche Geschichte.

Der Magen knurrt uns. Wir sagen uns gute Nacht.

»Höre einmal,« meint er beim Abschied, »deine Schwester Helene ißt heut' bei uns zu Abend. Wenn du darfst, komm doch auch noch ein bißchen herunter.«

»Wenn ich darf, gern,« antworte ich.

Ich eile die Treppen hinauf und höre bereits, wie mein Vater nach mir ruft.

Der Cornelius Nepos wird aus der Mappe geholt, und mit lauter Stimme übersetze ich dem Vater die Stelle aus dem Miltiades, die ich für den kommenden Tag präpariert habe. Hin und wieder fehlt mir eine Vokabel, und der Vater sieht mich streng und ernst an. Die an mich gerichteten grammatikalischen Fragen beantworte ich falsch, und immer finsterer wird die Miene des Vaters. Meine Gedanken sind bei Otto von Bismarck, der sich die Kaiserkrone aufs Haupt setzt. Und plötzlich fühle ich einen stechenden Schmerz auf meiner rechten Backe. Des Vaters Ohrfeigen sitzen wie angegossen.

»Mach, daß du in dein Zimmer kommst, und übersetze das Kapitel schriftlich. Eher gibt es für dich kein Abendbrot!«

Ich möchte aufheulen und ein trotziges Wort erwidern, aber ich wage es nicht – ich fühle mich schuldig. Ich komme in mein Zimmer und schlage das Buch wütend auf den Tisch. – Der Teufel soll das ganze Latein holen! – – Ich horche auf. Eine fremde Stimme dringt aus dem Nebenzimmer zu mir … Aha, Rabbiner Rubinstein, der auf dem gleichen Flur wohnt. Ich äffe seine Art nach.

»Verehrteste Frau Doktor, ich störe doch nicht? … Gewiß, ich nehme gern ein Glas Tee, wenn Sie gestatten … Man fühlt sich bei Ihnen so wohl. Es ist für mich ein wahres Labsal, nach des Tages Last und Mühen mit Ihnen und dem Herrn Doktor noch ein halbes Stündchen zu plaudern … Der Tee ist ausgezeichnet … Nein, ich danke, ich trinke ihn ohne Rum. In diesem Falle bin ich wider den Geist.«

Ich lachte etwas schadenfroh in mich hinein. Ich bin im Augenblicke von wegen des Miltiades meinem Vater gram. Ich gönne ihm das Gesalbader. Ich weiß, er kann Rabbiner Rubinstein nicht ausstehen. Dieses ewige, gütige, fromme, gottergebene Lächeln ist ihm in der Seele zuwider.

Meines Vaters Abneigung hat indessen noch einen anderen triftigeren Grund. Rabbiner Rubinstein macht etwas allzu geflissentlich meiner Mutter den Hof. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört, wie mein Vater zur Mutter sagte: »Nächstens werfe ich den alten Narren zur Türe hinaus.«

Meine Mutter schert sich den Teufel um Rabbiner Rubinstein. Aber seine offensichtliche Bewunderung tut ihrem einfachen Herzen gut. Stärker jedoch als dieses Gefühl ist ihr Mitleid für den Mann. Rabbiner Rubinsteins Frau ist seit Jahr und Tag im Irrenhause. Er ist ein Einsamer, der Anschluß sucht, und der ihrer Meinung nach ein Recht auf Güte hat.

Gegen diese Beweisführung ist mein Vater wehrlos.

Nur den Tee trinkt er bei uns, denn sein religiöses Bekenntnis verbietet ihm, auch nur ein Butterbrot bei uns zu nehmen.

»Wie ich Sie beneide um den Frieden und die Wohligkeit Ihres Hauses, Herr Doktor,« beteuert er bei jeder Gelegenheit.

Meinem Vater wird ganz blümerant bei diesen Reden.

Ihm widerstrebt es durchaus, seinerseits den Tröster zu machen. Eher räumt er das Feld und geht in sein Studierzimmer, wo er entweder für sich arbeitet oder noch eine verzwickte Schachaufgabe löst. Kehrt er dann zurück, so sieht Rabbiner Rubinstein an der ernsten Miene des Hausherrn, daß es nun unbedingt Zeit zum Abschiednehmen ist. Er sträubt sich zuerst ein wenig, räuspert sich, rückt auf seinem Stuhle hin und her, – aber meines Vaters abweisendes Gesicht klärt sich nicht um ein Iota auf, und so erhebt sich der geistliche Herr mit einem raschen Entschluß.

»Hören Sie, Herr Doktor,« sagt er, während er gleichzeitig nach seinem Stocke sucht, »was ist das mit der Familie Senz? Mein Sohn Hugo steckt beständig bei den Leuten, über die man allerhand Dinge munkelt.«

Mein Vater lacht bärbeißig auf.

»Er wird an seinem Seelenheil keinen Schaden nehmen,« antwortet er kurz. »Meine Kinder verkehren auch dort unten, und ich kümmere mich nicht um fremder Menschen Angelegenheiten.«

»Hm, hm,« macht Rabbiner Rubinstein, »dann kann ich's am Ende auch riskieren. – Gute Nacht, Herr Doktor! Gute Nacht, verehrteste Frau Doktor! Auf Wiedersehen morgen abend!«

Meines Vaters Entgegnung auf die letzten Worte blieben unverständlich.


 << zurück weiter >>