Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Kapitel.
Von Möglichkeit und Wirklichkeit

1. Der Ursache und der Wirkung entsprechen Möglichkeit (potentia) und Wirklichkeit (actus). Ja, es sind sogar ein und dieselbe Sache, nur daß sie in verschiedener Betrachtung mit verschiedenen Namen bezeichnet werden. Wenn nämlich in einem beliebigen aktiven Körper alle Accidenzien vorhanden sind, die beim Zusammentreffen mit einem anderen Körper Wirkungen in ihm hervorzurufen hinreichend sind, dann sagen wir, daß der aktive Körper die Möglichkeit oder Potenz zu jener Wirkung besitzt, wofern er nur an den passiven Körper herangebracht wird. Wie aber im vorigen Kapitel gezeigt worden ist, bilden jene Accidenzien die bewirkende Ursache, demnach sind es dieselben Accidenzien, die die bewirkende Ursache und auch die Potenz in dem aktiven Körper ausmachen. Möglichkeit oder Potenz und bewirkende Ursache sind der Sache nach dasselbe, nur verschieden in der Betrachtung. Von Ursache spricht man nämlich mit Bezug auf die Wirkung, sofern sie schon eingetreten ist, von Möglichkeit aber, wofern dieselbe erst eintreten wird. Ursache bezieht sich aufs Vergangene, Möglichkeit auf das Zukünftige. Die Potenz des aktiven Körpers selbst wird auch aktive Potenz genannt.

Sind in einem passiven Körper alle Accidenzien vorhanden, die von seiner Seite erforderlich sind, damit in ihm eine bestimmte Wirkung von einem aktiven Körper hervorgerufen werde, so sagen wir, daß er die Möglichkeit oder Potenz besitzt, jene Wirkung entstehen zu lassen, wenn er mit einem entsprechenden aktiven Körper zusammenkommt. Nun bilden nach der Definition im vorigen Kapitel jene Accidenzien die materielle oder stoffliche Ursache. Also ist die Möglichkeit oder Potenz in dem passiven Körper, die gewöhnlich auch passive Potenz genannt wird, und die materielle Ursache dasselbe. Wiederum wird in der Ursache das Vergangene, in der Potenz das Zukünftige berücksichtigt. Daher ist die Potenz des aktiven und passiven Körpers zusammengenommen, die vollständige oder volle Potenz genannt werden möge, dasselbe wie die vollständige Ursache, denn beide bestehen in der Summe aller Accidenzien, die in den beiden Körpern erforderlich sind, um die Wirkung hervorzurufen. Das Accidenz, welches erzeugt wird, wird in Hinsicht auf die Ursache Wirkung, in Hinsicht auf die Potenz Wirklichkeit oder Aktus genannt.

2. Wie in demselben Augenblick, da die Ursache vollständig ist, auch die Wirkung hervorgerufen wird, so tritt ebenfalls in demselben Augenblick, in dem die Potenz vollständig wird, die Aktualisierung ein. Und wie keine Wirkung entstehen kann, die nicht von einer zureichenden und notwendigen Ursache hervorgerufen ist, so auch keine Wirklichkeit (oder Aktus), die nicht von einer zureichenden Potenz, d. h. einer solchen, welche sie unbedingt hervorrufen mußte, stammt.

3. Gleichwie nach unserer Darlegung die bewirkende und materielle Ursache nur Teile der vollständigen Ursache sind und nur in ihrer Verbindung miteinander eine Wirkung hervorrufen, so sind auch die aktive und passive Potenz nur Teile der vollständigen und ganzen Potenz, und nur ihre Vereinigung erzeugt eine Aktualisierung. Und deshalb sind Potenzen, wie das im ersten Abschnitt ausgeführt ist, immer nur bedingt; der aktive Körper besitzt eine Potenz, sofern er mit einem passiven Körper zusammentrifft und entsprechend der passive. An sich besitzt keiner von beiden Potenzen; daher können die Accidenzien, die sich in ihnen befinden, nicht im eigentlichen Sinne Potenz genannt werden; auch keine Wirkung kann mit Hinsicht auf die Potenz in dem aktiven oder passiven Körper allein als möglich bezeichnet werden.

4. Eine Wirkung oder Aktualisierung ist unmöglich, wenn keine vollständige Potenz da ist. Denn da in der vollständigen Potenz all das zusammentrifft, was erforderlich ist, um eine Wirkung oder den Aktus hervorzurufen, so wird immer, wenn die Potenz nicht vollständig ist, eins von den Dingen fehlen, ohne die eine Aktualisierung nicht eintritt. Die Wirkung erfolgt also nicht, sie ist unmöglich; jede Wirkung dagegen, die nicht unmöglich ist, ist möglich. Deshalb wird jedes mögliche Geschehen früher oder später einmal eintreten. Denn gesetzt, es erfolge niemals, so trifft auch niemals all das zusammen, was zu seiner Erzeugung erforderlich ist; d. h. es wäre unmöglich nach Definition, was indessen der Voraussetzung widerspricht.

5. Eine notwendige Wirkung nennen wir diejenige, die man unmöglich verhindern kann; daher ist alles Geschehen, das überhaupt eintritt, notwendig hervorgebracht; denn, wie soeben bewiesen, muß jedes mögliche Geschehen einmal eintreten. Der Satz: »Das Zukünftige wird künftig sein« ist gerade so notwendig wie die Behauptung: »Der Mensch ist Mensch.«

Hier mag sich aber die Frage erheben, ob auch das Zukünftige, das man zufällig zu nennen pflegt, notwendig ist. Ich antworte: alles, was geschieht, auch das Zufällige, geschieht, allgemein angesehen, aus notwendigen Ursachen, wie es im vorigen Kapitel gezeigt ist; zufällig heißt es nur mit Bezug auf Ereignisse, von denen es nicht abhängt. Der Regen, der morgen fällt, ist notwendig, nämlich durch notwendige Ursachen hervorgebracht. Wir sehen ihn aber als zufällig an und nennen ihn auch so, da wir seine Ursachen nicht kennen, obwohl sie jetzt schon existieren. Zufällig oder möglich heißt gemeinhin dasjenige, dessen notwendige Ursache man nicht durchschaut. So pflegt man auch von vergangenen Dingen zu sprechen; wenn man nicht weiß, ob etwas geschehen ist oder nicht, sagt man wohl, daß es möglicherweise nicht geschehen sei.

Alle Behauptungen über zukünftige Ereignisse (wie: »morgen wird es regnen« oder: »morgen wird die Sonne aufgehen«) sind notwendig wahr oder notwendig falsch. Aber da wir noch nicht wissen, ob sie wahr oder falsch sind, nennen wir sie möglich oder zufällig; doch ihre Wahrheit hängt nicht von unserm Wissen, sondern davon ab, daß die erforderlichen Ursachen da sind. Es gibt aber Leute, die zwar die Notwendigkeit dieses ganzen Satzes: »Morgen wird es regnen oder nicht regnen« zugestehen, aber dennoch bestreiten, daß seinen einzelnen Teilen (morgen wird es regnen, oder morgen wird es nicht regnen) Wahrheit zukomme, weil, wie sie sagen, keiner von beiden bestimmt wahr ist. Was heißt jedoch dieses »bestimmt wahr« anders als: erkenntnisgemäß, d. h. evident wahr? Daher sagen sie nur: man wisse noch nicht, ob die Behauptung wahr sei oder nicht, jedoch äußern sie sich etwas versteckter und verdunkeln mit denselben Worten, mit denen sie ihre Unkenntnis zu verbergen suchen, gleichzeitig die Evidenz der Wahrheit.

6. Im vorigen Kapitel, Abschnitt 9, wurde gezeigt, daß die bewirkende Ursache jeder Bewegung und Veränderung in einer Bewegung des oder der aktiven Körper bestehe. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde dargelegt, daß die Potenz des aktiven Körpers dasselbe wie die bewirkende Ursache sei. Daraus folgt, daß alle aktive Potenz ebenfalls eine Bewegung ist. Die Möglichkeit oder Potenz ist nicht ein von jeder Wirklichkeit verschiedenes Accidenz, sondern selber eine Wirklichkeit, nämlich eine Bewegung, die nur deshalb Potenz heißt, weil durch sie eine andere Wirklichkeit hervorgebracht werden soll.

Wenn z. B. von drei Körpern der erste den zweiten und dieser den dritten vorwärts stößt, so ist die Bewegung des zweiten Körpers mit Bezug auf die des ersten, von der sie hervorgerufen wird, ein Aktus oder eine Verwirklichung in dem zweiten Körper; mit Bezug auf den dritten ist sie aber eine aktive Potenz desselben zweiten Körpers.

7. Außer der bewirkenden und der materiellen Ursache zählen Metaphysiker noch zwei Ursachen auf, nämlich die Essenz (die manche die formale Ursache nennen) und den Zweck oder die Zweckursache. In Wahrheit sind beide bewirkende Ursachen. Denn es ist unverständlich, was es heißen soll, die Essenz oder das Wesen eines Dinges sei dessen Ursache; der Satz etwa: »vernunftbegabt sein ist die Ursache des Menschen« ist jenen dasselbe wie: »Mensch sein ist die Ursache des Menschen«, was nicht gerade viel besagt. Die Erkenntnis des Wesens eines Dinges kann allerdings die Ursache der Erkenntnis dieses Dinges selber sein; weiß ich, daß etwas vernunftbegabt ist, dann weiß ich auch daher, daß dieses Etwas ein Mensch ist. Allein in diesem Falle handelt es sich um eine bewirkende Ursache. Die Zweckursache kommt nur für diejenigen Dinge in Betracht, die Empfindung und Willen besitzen; aber auch bei ihnen ist die Zweckursache, wie später zu zeigen ist, nichts anderes als eine wirkende Ursache.


 << zurück weiter >>