Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XXVIII

Ich bin beklommen um und um! Während ich die Blätter meines Lebens schreibe, nagen die Stürme unaufhörlich am Dach, Schindel um Schindel fliegt. Mein Flickwerk hielt nicht stand; ich arbeitete heute wieder von früh bis spät auf dem Dach. Im Schweiß der Arbeit überfiel mich ein eisiger Ost; ich zog mir eine scharfe Erkältung zu und fühle, daß ich nicht mehr der starke Jost Wildi bin von einst. Dazu kommt eine erschreckende Entdeckung. Als ich auf den Abend den Ofen heizen wollte, bemerkte ich, daß mein Holzvorrat knapp geworden ist. Er war im Herbst nicht kleiner als andere Jahre; aber hingerissen von den Wandelbildern der Erinnerung, ließ ich mich oft von der Mitternacht, oft vom Morgen über den Blättern meiner Beichte treffen und habe bei der einsamen Schreiberei unvermerkt mehr Holz zur Feuerung verbraucht als in anderen Wintern. Wenn jetzt eine strenge Kälte einträte, käme ich in große Verlegenheit. Sparen könnte ich am Holze wegen des Stichs in der Brust nicht, und nach einiger Zeit müßte ich den Ofen mit dem entbehrlichen Mobiliar des Observatoriums zu heizen beginnen. Schöne Aussicht das! Der Sturm frißt das Dach, der Wetterwart verbrennt die Geräte und Hüttenwände und steckt endlich die rote Flagge der Not auf den Gipfel!

Ich sperre mich gegen diesen Gedanken. Und könnte man mir wirklich Hilfe bringen? Gewiß würde mein treuer Hans übermenschliche Kräfte aufbieten; aber die Möglichkeit besteht, daß ich in einem halbzerstörten Haus einsam und langsam zu Grunde gehen muß. Darum bin ich beklommen um und um. Am stärksten erschüttert es mich aber, daß ich jetzt das Geständnis meiner armen Big in die Blätter meines Lebens tragen soll!

Die Hälfte ihrer Schuld ist mein.


Als es sich um die Wahl der Stadt handelte, in der mein glückseliges Weib und ich das erste, süße Lächeln unseres eigenen Kindes erwarten wollten, hätten wir uns nicht für Trieft entscheiden sollen. Wohl lebte dort die treue, liebevolle Gherita, und vergaß über der Freude, ihrer ehemaligen Herrin wieder Dienste leisten zu können, beinahe die Sorge um das eigene Heim, um Mann und Kind. Wohl lag die kleine Villa, die wir uns gemietet hatten, wie ein reizendes Vogelnest am windgeschützten, südlich immergrünen Hang, aber aus dem Hintergrunde des lichtblauen Golfes, der an unserem Garten spülte, blickte der malerische, schwere Felsentraum von Duino in unsere Fenster, und als die ehemaligen Passagiere und ihre Damen kamen, um uns zu begrüßen, sprachen sie von dem Ausflug nach den Schlössern und von dem vergnügten Tanz auf dem heimkehrenden Boot, bei dem Big in der Fülle ihrer heißblütigen Schönheit erstrahlt sei. Ich sah, wie die fröhlich plaudernde Erinnerung mein hoffendes Weib aus ihrem Mutterfrieden schreckte. Die wandernden Stunden saß sie nun am Fenster und schaute auf das Meer, unter dessen Glänzen und Lächeln die schweren Geschicke Charlottens, der Belgierin, und der sospir' del mar' durch die Fluten beben. Vor dem Bilde des Golfes ließ Big das schöne Haupt sinken, und von ihrem Antlitz floh, wie das leise Erlöschen eines Sonnenstrahls, die Verklärung der Mutterlust. Ich trat mit hellem Gruß zu ihr; sie aber fuhr aus tiefer Versonnenheit empor, und die traurige Zärtlichkeit ihrer Stimme erinnerte mich an meine selige Mutter, wenn sie bat: »Jost, mein Junge, so sprich doch wieder einmal ein rheinländisches Wort!«

In jenen Tagen der großen Betrübnis wohl schrieb sie, unter dem Eindruck der Erinnerungen von Miramare und Duino, das Bekenntnis nieder, wie sie an Duglore, meiner ehemaligen Verlobten, gesündigt habe. Da stehen die Worte: »Wie Charlotte, die Belgierin, ihren Gemahl auf einen Kaiserthron habe ich dich, unsäglich geliebter Mann, auf die Sonnenhöhen des Lebens führen wollen, nun aber, da mich in Erwartung unseres Kindes das Geheimnis böser Tat wie eine Flamme brennt, will ich nicht jener schrecklichen Jugunde von Duino gleichen. Ich fürchte, daß mich die Geburt unseres Kindes dahinrafft. Dann magst du um meine Schuld wissen. Selbst der Gedanke, daß du einen Fluch auf mein Grab werfen wirst, ist mir nicht so entsetzlich, wie wenn ich mit verschwiegener Sünde von der Erde scheiden müßte.«

Ich habe das Bekenntnis Bigs, ehe sie aus dem Leben flüchtete, mit aufweinender Seele gelesen. Sie selber bat mich in ihrer schweren Stunde, den Brief zu erbrechen, der es enthielt.

Die schwere Stunde dauerte einen Tag und eine Nacht. Die lange, bange Nacht war schon ihrer Mitte nahe. Ich litt mit Big. Zwei heiße Tränen rannen ihr über die brennenden Wangen. »Jost, mich verläßt die Kraft, hilf mir!« ächzte die Erbarmungswürdige. »Erschrick nicht über meine Bitte. Gedenke Neuyorks! Ich sah ein kleines Buch in deinem Koffer, das Kirchengesangbuch Duglore Imoberstegs, ihr Amulett für dich! Du wolltest dich davon nicht trennen. Ich aber fürchte das kleine Buch voll Staub und Erde, das dich begleitet. Jost, das geheimnisvolle Amulett läßt mich die schmerzlichste Pflicht des Weibes nicht erfüllen. Es lähmt mich. Um meiner Liebe und Pein willen, Jost, schaffe es aus dem Hause – und ich will dir unser Kind gebären.«

Ich bat Gherita, daß sie das Buch in ihr Heim hinübertrage. Wie merkwürdig war die dringende Bitte Bigs! In furchtbaren Ahnungen begann es mir zu dämmern, daß das unschuldige Buch, das ihre Kraft lähmte, nur das äußere Zeichen einer Schuld sei, die tief in ihrem Gemüte lebte, und Schleier fielen von meiner Seele.

Einen Augenblick schöpfte die Verzweifelnde Atem. »Was bist du so blaß, was blickst du so gräßlich, Jost?« stieß sie aber plötzlich hervor. Wimmernd und mit zuckenden Fingern raufte sie sich das prachtvolle Haar, das in seiner lichtbraunen Fülle wie ein Mantel auf den Pfühl herniederfloß. Sie bäumte sich jäh empor. Durch die wirren Haarsträhnen blitzten die blauen Augen entsetzt, wie wenn sie ein Gespenst sehen würden; die süßen Züge verzerrten sich schrecklich, die Arme verrenkten sich in Krämpfen. »Was muß ich dulden, Jost! Es ist nicht das kleine Buch, das mich quält,« kreischte sie, »ich weiß aber, warum ich leide. Ich kann das Kind wegen Duglore Imobersteg nicht zur Welt bringen!« Ihr Mund suchte Luft: »Jost, du ärmster Jost,« gellte ihr Schrei, »ich habe mich vor Duglore Imobersteg am Muttergeheimnis vergangen!« –

Mir war, die Erde bebe und spalte sich, giftige Flammen und Dämpfe aus der Hölle schlügen daraus hervor. Big aber glitt kraftlos in die Kissen zurück, stöhnte und schluchzte und weinte so bitterlich wie damals, als wir uns im Krankenhaus von Hamburg verlobt hatten. Es war aber das Weinen der inneren Befreiung! Als ich in wortloser zitternder Vernichtung an ihr Lager sank, reichte sie mir die zuckende, mit kaltem Schweiß bedeckte Hand. »Jost,« unterbrach sie ihre heißströmenden Tränen, »ich habe einen Brief an dich geschrieben. Da ist das Schlüsselchen zu meiner kleinen Schatulle im Nebengemach! Geh, lies, was in dem Schreiben steht, aber lies es nicht vor meinen Augen! Geh, Jost! Vergib, wenn du vergeben kannst! Lies!« Das Wort entschlief auf den glühenden Lippen der Erschöpften und zum Tod Gekreuzigten! Schmerzen aber jagten sie wieder empor. »Geh!« bat sie, »lies!«

Ich wankte ins Nebengemach, ich öffnete mit bebenden Fingern das Elfenbeinschächtelchen, eine altmexikanische Schnitzarbeit. Da lagen die mit ihrer lieben Handschrift bedeckten Blätter, doch deuteten die zackigen Buchstaben auf die Angst und die Erregung, in der sie hingeworfen worden waren. Sie wollten vor meinen Augen verschwimmen; mit der letzten Fassung, die mir geblieben war, aber las ich das Geständnis meines Weibes.

»Du mein unsäglich geliebter Mann,« schrieb Big, »ich war schon von Helgoland an im Banne deiner dunkeln Augen, deiner stolzen Jugend, deiner frischen Kraft. Mein Herz jauchzte, als ich dich beim Ballon Sommerfelds wieder sah. Weinend gedenke ich der wundersamen Fahrt und der ersten schönen Abende mit dir, in denen es nur die eine Enttäuschung gab, daß du bereits eine Liebe in deiner Heimat besaßest. Ich fühlte es damals wohl, daß ich von dir gehen sollte, ich fand aber die Kraft nicht, wie mit magnetischer Gewalt riß es mich wieder zu dir.

Um mein Verbrechen zu begreifen, gedenke der uns nachschluchzenden Tage der Vierlande! Unserer wilden Küsse! Gedenke, wie schroff wir in den Anlagen vor dem Justizgebäude Hamburgs scheiden mußten. Du mein unsäglich geliebter Mann! Ich wankte und taumelte sinnlos von dir! Ich hatte nur einen Gedanken: Nun ist mir mein Jost auf ewig verloren! Was kümmerte es mich, daß mich die Vorsteher des Erziehungspensionats, Römer und Jenssen, die mir wegen der Zusammenkünfte mit dir schon vorher manche Verwarnung erteilt hatten, die Tür wiesen? Ich lebte, ohne jemand mit einem Gedanken verraten zu dürfen, was meine Seele wie Feuer verzehrte, im Hotel. Ich sollte und wollte nach Mexiko fahren, aber ich konnte mich von dem Boden nicht trennen, auf dem du gingst, und nicht von der Luft, in der du atmetest. Rasendes Heimweh nach dir peitschte mich vom Morgen bis zum Abend einsam durch die Stadt. O, nur einen Zipfel deines Kleides sehen, in der Straße nur die Spur deines Fußes. Vergeblich! Ich fragte einen Schutzmann um Rat, wie ich deinen Aufenthalt entdecken könnte. Nach einigen Tagen brachte er mir vom Einwohneramt die Angabe deines Wohnortes, es bot sich mir die Gelegenheit, von einem Burschen der Gärtnerei, in der du mit Duglore Imobersteg Quartier genommen hattest, einem durchtriebenen Gesellen, der jeden Morgen mit einem Wägelchen voll Blumen in die Stadt fuhr, manches über dich und deine damalige Verlobte zu erfahren. Jost, mein Jost, den ich liebte wie einen jungen Gott, ärmlicher Dampfschiffheizer! Der Mann, der hohen Sinnes gesprochen hatte: ›Ich ginge am liebsten mit dir!‹ hinabgesunken in den verachtetsten Beruf einer Hafenstadt. Endlich, endlich sah ich dich einmal; du führtest deine Verlobte aus den Bergen und wagtest mich ihretwegen kaum zu grüßen.

Da umkrallte mich der Wahnsinn. Tage trug ich mich mit dem Plan, mein, junges Leben wegzuwerfen und dich zum Erben meines Vermögens einzusetzen, damit du mit deiner Braut glücklich werden könntest. Mächtiger aber quoll der eigene Lebens- und Liebesdurst empor. Um mich sauste und brauste dein Wort: ›Ich ginge am liebsten mit dir!‹ Ein rasendes Mitleid mit dir erfaßte mich, es flüsterte mir vor, du gingest nur aus Pflichtgefühl mit jenem Mädchen, es sei bloß nach Hamburg gekommen, um dich für immer an niedrige Lebensverhältnisse zu fesseln, du würdest das Opfer eines Treuwortes, das du ihr in der Befangenheit deiner Jugend in den fernen Bergen gegeben hättest, im stillen aber unendlich bereutest. Ich kam auf den wahnwitzigen Gedanken, ich müßte dir, ohne daß du es ahntest, die Freiheit wiedergeben, dann würdest du jubelnd in die Arme derjenigen eilen, die bereit war, dich auf die Höhen des Glücks zu führen. So handelte ich wie eine Törin, nicht wie ein vernünftiges Wesen und wurde an der unschuldigen Duglore Imobersteg zur Verbrecherin.

Es war an einem Sonnabend. Der Gärtnerbursche hatte mir erzählt, du würdest wohl noch vierzehn Tage auf deinem Schiff von Hamburg fern bleiben. Durch Jenssen und Römer erhielt ich deinen Abschiedsbrief und dein Bild aus Rotterdam. Der Brief, der nur dankte, kein Wiedersehen wünschte, hätte mich zur Besinnung bringen sollen. Das Bild aber verwirrte mich; ich küßte es unzähligemal, und über deinem lieben Gesicht faßte ich in der Nacht den schrecklichen Entschluß. Morgen war Sonntag. Da besuchte Duglore Imobersteg, die sonst die Gärtnerei nie verließ, den Gottesdienst in der Kirche von Ottensen. Auch ich ging hin, mengte mich in die Schar der Betenden und sah, wie furchtbar deine Verlobte bei meinem Anblick erschrak und vor mir in Angst erstarrte; vom Gebet des Geistlichen hörte ich nichts als: ›Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!‹ Was ging das mich an? Ich war eine Heidin! In meinem rasenden Blut schrie deine Stimme: ›Ich ginge am liebsten mit dir!‹

Der Gottesdienst war zu Ende. Die sonntägliche Menge strömte ins Freie, und beim Verlassen der Kirche sah ich wohl, wie deine Verlobte vor mir flüchten wollte, ich war aber schon dicht in ihrer Nähe. ›Fräulein‹, bat ich, ›dürfte ich mit Ihnen ein ernstes Wort sprechen?‹ Sie hielt den Schritt an. In schweigender Qual ließen wir die Menschen sich entfernen. ›Was wollen Sie von mir?‹ fragte das Mädchen angstvoll. ›Die Freiheit Jost Wildis,‹ erwiderte ich in blasser Entschlossenheit, ›der mich mehr liebt als Sie und in der Verkettung mit Ihnen unglücklich ist.‹ Nein, das ist mein Jost nicht!' stieß die Schwankende hervor. ›Hier ist ein Brief aus Rotterdam,‹ versetzte ich. ›Sie kennen die Schrift?‹ Ein Blick nur, sie schrie: ›Abgründiger Jost! Ich kann Ihnen aber Jost doch nicht lassen, Fräulein,‹ flehte sie, ›ich fühle mich Mutter von ihm!‹ Da entfuhr mir die satanische Antwort: ›Ich wohl schon länger als Sie!‹ Augen, deren halbgebrochenen Blick ich nie vergessen werde, starrten mich an. Die Geschlagene taumelte mit einem Weheschrei von mir hinweg in den sonnenlichten Tag!«

Der Brief mit dem gräßlichen Geständnis Bigs entfiel mir. In das Gefühl innerer Vernichtung flog die Woge des Zorns, der Wut. Meine erste Regung war: Du Pantherkatze aus den amerikanischen Wäldern, die mein Duglörli zerfleischt hat, nun mußt du von den Händen deines Mannes sterben!

Ich machte einen Schritt gegen das Zimmer der Kreißenden, da hörte ich durch die Tür ihre herzzerbrechende Klage: »Kind, mein Kind, erbarme dich meiner!« und die betend erhobene Stimme Gheritas. Nein, das war nicht der Augenblick, furchtbare Abrechnung mit der Verbrecherin zu halten. Ich kam zur Besinnung. Ich hob den Brief vom Teppich und las ihn in stummem Entsetzen zu Ende.

»Du fragst mich,« schrieb Big, »wie ich des grausamen Betruges an der unschuldigen Duglore Imobersteg fähig war? Ich handelte in einer Überspannung der Sinne, die weder das Mitleid mit der Unglücklichen noch die Erkenntnis der Verwerflichkeit meiner Tat aufkommen ließ, mit der Sicherheit einer Traumwandelnden, die unbefangen über einen Dachfirst schreitet, und in der herztiefen Überzeugung, ich kämpfe ja nur für dein Glück, innigst geliebter Mann.

Es überraschte mich nicht, daß der ganze äußere Erfolg mit meiner Missetat war und mir die Wahl zwischen der Flucht nach Mexiko oder dem Sprung ins Wasser erspart blieb. Der Gärtnerbursche meldete mir die Abreise Duglore Imoberstegs in die Heimat und daß du, ohne sie wiedergesehen zu haben, am Nervenfieber im Krankenhaus liegest. Ich konnte mich dir unverfänglich wieder nähern. Die zwei Briefe, die du aus den Bergen empfingest, verrieten nichts, der Weg stand unserer Liebe offen, und in meiner Verblendung empfand ich an deinem Lager sogar ein dankendes Gefühl gegen das Geschick, das meiner furchtbaren Tat günstig gewesen war.

Langsam nur kam das Erwachen aus den glühenden Wahnsinnsträumen, die mich Recht und Unrecht nicht unterscheiden ließen und mir vorspiegelten, ich hätte Großes und Edles an dir getan. Im Krankenhaus dämmerte es leise über der Wahrnehmung heran, daß du doch viel stärker an Duglore Imobersteg hingest, als ich mir je eingebildet hatte. Darum das brennende Weh, die Tränen bei unserer Verlobung! Du hast die Möglichkeit, an der Seite Josts leben zu können, mit einem Opfer erkauft, das größer ist als das Glück, jammerte es in meiner Seele. Ich erstickte ihr Aufweinen. Im Bahnhof von Hamburg aber – du erinnerst dich an den trüben Abend – mußte ich plötzlich an das Mädchen denken, das schmerzzerrissen den Weg in die Heimat gesucht hatte. Ich sah die zum Brechen schreckhaften Augen, das entgeisterte Gesicht Duglore Imoberstegs wie eine Wirklichkeit; zarte Gefühle, die Weib mit Weib verbinden, brennendes Mitleid mit der Unglücklichen, trostloses Weh über mich selbst schwälten durch die Stunde. Mir war, ich sollte dich verlassen, Jost! Doch war diese Stunde nur der Anfang meiner Schulderkenntnis. Am furchtbarsten kam es über mich, als mir in unserer Ehe die süßeste Hoffnung eines Weibes versagt schien. ›Ein Kind!‹ schrie eine Stimme anklagend in mir, ›ein Kind! Wie kannst du ein Kind erwarten? Du hast dich ja vor Duglore Imobersteg am Urheiligsten der Natur vergangen, am Werde- und Muttergeheimnis. Zur Unfruchtbarkeit verflucht ist der Schoß des Weibes, das geheiligtes Drängen einer Knospe verbrecherisch geheuchelt hat!‹ In mir erwachte, obgleich ich als eine Heidin erzogen war, das furchtbarste Wunder der menschlichen Seele, das Gewissen, und überfiel mich mit jener lähmenden Angst, die mich kein Kind von dir, geliebter Mann, empfangen ließ.«

Das Bekenntnis Bigs lief weiter, weiter: »Du erinnerst dich an das kleine Buch Duglore Imoberstegs, das ich in Neuyork in deinem Besitz entdeckte. Ich begriff, daß du dich nicht von dem unschuldigen Liebeszeichen deiner Jugend trennen wolltest, ich habe aber vor dem Büchlein, so oft ich es sah oder nur daran dachte, eine gräßliche Furcht empfunden. Es erschien wie die sichtbare Anklage Duglore Imoberstegs gegen mich. Wohl gab es ja Stunden, selige Nächte, lieber Jost, in denen mein geheim nagendes Weh an deiner Brust einschlief, und auf unserem Wanderzug durch die Welt kamen stets wieder Tage, Wochen linden Vergessens und erstohlenen Glücks, urplötzlich aber war das Schicksal wieder mit einem seiner grausamen Winke da. Ich öffnete meinen Goethe. Da stand: ›Alle Schuld rächt sich auf Erden,‹ ich schlug meinen Schiller auf: ›Das Leben ist der Güter höchstes nicht,‹ rief er mir zu, ›der Übel größtes aber ist die Schuld.‹ Die Dichter bestätigten nur den Jammer in meiner Seele, und das Leben hatte für mich Foltern ohne Zahl. Denke an den Tod der kleinen blassen Maud. Selbst die fremden Kinder verdarben also unter meinen Händen. Denke an den alten Herrn von Trieft mit dem vernichtenden Wort: ›Geheimnisse zermürben und töten die Seele eines Weibes!‹ Denke an Rom! Ich hatte mich stets noch mit der schwachen Hoffnung getröstet, das Wort Duglore Imoberstegs, sie fühle sich Mutter von dir, sei ein Vorwand und eine ebensolche Unwahrheit gewesen wie mein hingeschleudertes ›Ich wohl schon länger als Sie!‹ Da kam das Zeitungsblatt in meine Hände. Was half mir die kleine Beruhigung, daß sie im fernen Tal ein bescheidenes Glück gefunden hatte, gegen die schreckliche Erkenntnis, daß sie die Wahrheit gesprochen, daß ich mit der Tat meines Wahnsinns dir dein Kind und dem Kinde den Vater geraubt hatte. Schuld über Schuld!« –

Ja, das spürte auch ich. Die Wurzel alles Leides, alles Übels, von dem die Zeilen Bigs herzergreifend sprachen, war doch mein jauchzendes Wort aus den Vierlanden: »Am liebsten ginge ich mit dir!« Ich zuerst hatte Duglore in einer tollen Stunde der Liebesuntreue verraten; meinem Verrat war die verbrecherische Tat Bigs entsprungen, und was mein armes Weib schon lange geschlagen hatte, schlug nun auch mich. Die eigene Schuld stand mir gräßlich hell vor den inneren Blicken. Mir jammerte das Herz: Mein armes Duglörli, mein armes Duglörli! Unter der Größe des Erkennens verflog der wilde Zorn gegen Big, ich konnte aber doch nicht gleich vor die Leidende treten und sprechen: »Ich vergebe dir aus Herzensgrund.« Nein, das konnte ich nicht. Zu mächtig bewegte die Enthüllung ihres schrecklichen Geheimnisses meine Seele, schüttelte und rüttelte mich der Schicksalssturm bis ins innerste Mark. Ich stritt und litt und las den Brief Bigs zu Ende. Er schloß mit den erschütternden Worten: »Ich glaubte, unser Kind sei die Botschaft des Himmels, daß mir verziehen sei; aber je näher ich der Stunde seiner Geburt rücke, habe ich die Gewißheit, daß ich und das Kind über der Lüge meines Lebens sterben müssen. Die Angst, die wilde Angst! Ich bin vor lauter Furcht schon eine Sterbende. Vergib mir die vielen Verstellungen, Jost, und im Jenseits hilf mir tragen, tragen bei meiner übermenschlichen Liebe, Jost. Ich wäre ja so gern für dich gestorben, mein innig geliebter Mann!«

Durch die Fenster fiel die rosige Frühe, auf den Bäumen schlugen erwachende Vögel. Ich wollte an das Lager meines Weibes wanken und wenn nicht ein Wort der Vergebung, doch der Barmherzigkeit zu ihr sprechen. Da ein Schrei! Übernächtig und angegriffen kam mir Gherita entgegen: »Sie ist erlöst – sie lebt; das Kind aber, Herr Quifort – es war nicht mehr zu hoffen.«

Als ich Big nach dem schrecklichen Geständnis wieder sah, schlummerte die Ermattete in tiefer Friedlichkeit. Neben ihr lag ein wohlgestalteter, toter Knabe.

An ihrem Lager ermaß ich mit jammernder Seele das Weltleid der Schuld, und in unendlicher Barmherzigkeit wünschte ich Big, daß sie aus dem tiefen Schlaf dieser Stunde nicht mehr erwache. Ich wußte, daß sie die Augen nur zum Sterben aufschlagen würde. –


Die Feder entsank der bebenden Hand! Die lange Nacht lag ich in schmerzvollen Fieberträumen. Ich zog mit Big noch einmal die Straßen, die Städte und Länder unseres Zugvogellebens und unaufhörlich überdachte ich, wie ihr und mir das Leben gelacht hätte, wenn sie ohne die schwärende Wunde in der Seele hätte mein Weib werden können. In wühlender Sehnsucht ließ ich ihr Bild aus den schönsten Stunden unserer Liebe und Ehe vor mir schweben, eine Edelgestalt, die in der Größe ihrer Anlagen berufen gewesen wäre, nichts als ein sonnenhaftes, reines Glück um sich zu verbreiten. Vor das wundersame Bild meines Weibes trat aber weinend Duglörli, mein frommes unschuldiges Duglörli, das mehr als um die Hälfte seines Glücks betrogene Herz. Wozu die Nachtqual niederschreiben? Ich lag heute ernstlich krank und schleppte mich nur mühsam zu meinen Dienstverrichtungen. Warum hat es nicht sein können, meine arme Big? Warum nicht? – –

In meine Herztrostlosigkeit fiel ein fast blendender Sonnenstrahl der Freude. Gegen Abend begann der Apparat zu ticken und zu klappern. Im ersten Augenblick erschrak ich und hielt das Geräusch für eine Vorspieglung des fiebernden Blutes. Das Ticktack war aber holde Wirklichkeit, für mich, den überrascht Emporhorchenden, zauberhafte Musik des Lebens. Der Sprechfunke war da, unter dem Stift begann der Streifen zu rollen, Buchstaben und Worte zeichneten sich. Unnötig sie abzulesen, ich erlauschte sie alle mit zitternder Seele. Sie kamen von meinem treuen Hans. Nachdem die jüngsten Föhnstürme eine Menge Schnee des Gebirges hinweggeschmolzen hatten, sei es ihm möglich gewesen, die Stelle des Drahtbruches zu erforschen, und er habe nicht geruht, bis sachverständige Arbeiter von Gauenburg ins Tal gerückt seien, welche die Leitung wieder in Stand setzten. So berichtete er. Ich danke dir, lieber Hans!

Wohl eine Stunde lang haben wir uns unterhalten. Ihm und meiner Gottlobe geht es gut. Er gab mir die freudigsten Nachrichten, die ich erhalten konnte, ich fühle mich mit der Erinnerung an Hangsteiner auf das innigste versöhnt. Was ich kaum erwarten durfte, hat der Sterbende getan. Er lies Hans und Gottlobe an sein Lager treten und erklärte dem Paar sein Einverständnis mit ihrer Liebe. Noch mehr! Schon in den letzten Zügen ringend gab er Hans kurze Aufschlüsse über die Herkunft Gottlobes. Mein junger Freund weiß, daß ich Jost Wildi von Selmatt und der Vater Gottlobes bin. Eine Gewissensregung und eine berechnende Klugheit, die ihn sogar im Sterben nicht verließ, bewogen Hangsteiner zu dem Geständnis. Er wollte das Erbe seiner wirklichen Kinder wegen Gottlobes nicht verkürzen, darum sagte er Hans, er hinterlasse ihr nichts, aber sie würde einmal von mir ein größeres Erbe erhalten, als er ihr geben könnte. Das der Grund, warum er das Geheimnis löste. Es war, abgesehen von seiner Fahrt nach Hamburg zur Rettung Duglores, der lichten Tat seines Lebens, das Vernünftigste, was das enge Hirn Hangsteiners jemals bedacht und gesprochen hat. Die Hochzeit des jungen glückseligen Paares auf Mai steht fest. Hans will nun Gottlobe sanft und behutsam den Schleier ihrer Vergangenheit lüften. Ich freue mich darüber bis in den Grund meiner Seele, mit allen Fasern des Herzens reißt es mich zu meinem Kind, ich lebe in der seligen Gewißheit, daß wir uns als Vater und Tochter in zärtlicher Liebe finden werden. Viel Segen, viel Sonne und den Frieden des Herzens auf euren gemeinsamen Pfad! Ich aber will zu eurer Hochzeit im Mai zu Tale steigen und die stille, große Freude in euren Gesichtern sehen!

Gottlobe selbst hat mir ihren Gruß gedrahtet! Sie fragte innig, wie es um mich stehe, wie es mir gehe in der langen Einsamkeit. Hans und sie hätten schwer um mich gebangt. In dem stürmischen Glück, daß wir unsere Gedanken wieder austauschen konnten, erwiderte ich: »Es geht mir sehr gut!« Im Grunde hätte ich das Gegenteil sagen sollen. Aber der Kapitän zur See spricht nicht gern davon, daß sein Schiff sinke, und zum Kapitulieren ist für den Wetterwart stets noch Zeit. Ich bin nur froh, daß die Blätter meines Lebens so weit geschrieben sind. Ich will mich beeilen und sie vollenden, obgleich sie dir, lieber Hans, nachdem Hangsteiner gesprochen hat, nicht mehr viel sein können.

Trostreicher schreibe ich nach dem sonnenhaften Gruß, den mir heute das Leben entboten hat, das dunkle Kapitel zu Ende, wie meine Abigail nach dem Geständnis ihrer Schuld einsam gestorben ist, gestorben an der Schwelle ihres dreißigsten Jahres, selbst als leidverzehrte Sünderin noch ein bezauberndes Weib, das kein Mensch einer so furchtbaren Tat der Herzensversteinerung fähig gehalten hätte. Aber die Liebe und ihre Verblendung! Nein, ich möchte den Weg des Lebens nicht zum zweiten Male gehen. Ich würde stets das heiße Blut fürchten, das auch Edelnaturen unter den Menschen in einer Stunde der Verwirrung mit sich fortreißt – und sie unsäglich elend werden läßt.


Big, meine arme Big schlug die Augen nur auf, um langsam zu sterben. Ich habe gegen sie nie das leiseste Wort des Vorwurfs wegen ihrer schrecklichen Tat an Duglore erhoben. Vorwürfe gehören zum Kleinzeug des Lebens. Wenn die Menschen von den dunkeln Losgewalten der Schuld zerschmettert liegen, erschweigen Anklagen von selbst. In zitterndem Mitleid saß ich am Lager meines Weibes. Als sie die blauen Augen mit einem wimmernden Seufzer emporschlug, stammelte sie schwachen Lauts: »Du bist nicht von mir geflohen, mein Jost, geflohen bis über die Meere? Warum verstoßest du mich denn nicht?« Ihr die Stirne küssend, versetzte ich in tiefer Ergriffenheit: »Ich bin ja so schuldig wie du! Ich will dir tragen helfen, meine liebe, arme Big.« Ihre Finger bebten nach den meinen; sie küßte mir mit kraftlosen Lippen die Hand und hauchte: »Ich danke dir, Jost!« Wehes Weinen spielte um ihren Mund.

Am Ölhang von Triest blühte der Frühling in voller Pracht. Aus jeder Ritze des Gesteins jubelte das Leben, die Lerche wirbelte ihre Lieder über Felsen und Meer, und bald öffneten die Rosen ihre Knospen. Langsam und nur äußerlich gab sich die Genesung Bigs. Selbst als ich sie schon in den Garten geleiten durfte, wagte ich es nicht, an dem Schrecklichen zu rühren, das doch eine Aussprache erforderte, eine Aussprache mit der zarten Schonung, die man einer Seelenkranken und Todwunden schuldig ist. Mein stets noch leidendes Weib fröstelte im warmen Sonnenschein, das Blühen und Leuchten des südlichen Frühlings schmerzte sie, schlimmer noch: die Gebrochene erschauerte furchtsam, wenn ich ihr nahte. In wühlender Sorge fühlte ich, wie ihr der Gedanke, daß ich um ihre Schuld wüßte, eine stumme Marter bereitete, ihr die innere Möglichkeit weiterzuleben abschnitt und wie sie sich von stets dunkleren Schatten umspannen ließ. Meine verdüsterte Big suchte auf Erden nur noch eine Gelegenheit, um zu sterben!

Wie ihr etwas Befreiung und Erlösung bringen? Ich kam auf den Plan, Duglore in einem Brief um Vergebung für uns beide, Big und mich, zu bitten und war bei mir selber überzeugt, daß mir Duglore aus dem Reichtum ihres tiefen, frommen Gemütes eine Antwort geben würde, die das Seelenleid Bigs milderte und ihr und mir die Möglichkeit zu einem reineren Glück gewährte, als wir es bisher genossen hatten.

Ich ging an den schwersten Brief meines Lebens und hielt mich darin an das Wesentliche, an meine und Bigs Schuld, an ihr reuevolles Bekenntnis in dunkler Schmerzensstunde. Darüber hinaus sagte ich Duglore nur noch, daß ich und mein Weib zu jedem Opfer für Gottlobe bereit seien. Von unserem äußeren Lebensgang meldete ich ihr nichts; ich bat sie nur, sie möchte ihre Antwort postlagernd an Jost Wildi in Triest senden. »Demütig lege ich das Leben meines Weibes in deine Hände, du schwergekränkte Duglore,« schloß ich, »erbarme dich ihrer, und erhebe sie aus dem Kerker ihres unendlichen Leides!«

Seelenschmerzen verfeinern die Sinne der Menschen. Ich glaubte den Brief in tiefer Heimlichkeit vor Big geschrieben zu haben, sie aber erriet. Sie saß in schmerzvoll durchgeistigter Schönheit mit mir unter den Glycinen des Gartenrondells vor unserer kleinen Villa. Ihre schwer dahinträumenden blauen Augen ruhten auf den weißen Segeln des Golfes. Nur um das Schweigen zu brechen, plauderte ich von künftigen Fahrten durch die Welt. »Wozu reisen?« antwortete sie. »Ich bleibe am liebsten bei Gherita. Uns selber können wir ja doch nicht entfliehen.« Sie neigte das Haupt in trostlosem Weh. »Du hast einen Brief an deine frühere Verlobte geschrieben, Jost,« hauchte sie, »ich weiß es, ohne daß ich dich schreiben gesehen hätte, ich fühle alles, was du denkst, planst und tust, und weiß, daß du aus herzlichstem Erbarmen mit mir an den Brief gegangen bist.« Ihre blasse Hand streifte die meine. »Ich danke dir, mein Jost! Sende aber den Brief nicht ab. Er wird die Seele der Betrogenen nur aufs neue beunruhigen und mir wird selbst die gütigste Antwort nichts helfen.« Sie ließ das Haupt tiefer sinken und stöhnte hoffnungslos.

Ich war von ihren Worten überrascht und enttäuscht. »Was soll denn werden, meine ärmste Big,« stieß ich hervor, »irgendwie müssen wir doch wieder zu leben kommen!« Sie starrte. »Jost,« versetzte sie leise, »du hast nie in die Tiefen der Frauenseele gesehen, wenn du träumst, es würde je ein Weib dem anderen das verzeihen, was ich an Duglore Imobersteg verbrochen habe. Dir, dem Geliebten der Jugend, wird sie schon vergeben, aber mir nie; selbst wenn ihre Lippen es beteuerten, ihr Herz tut es nie – nie!« In ihren Zügen stand das Elend der Hoffnungslosigkeit.

»In der Welt, die du kennst,« versetzte ich mit eindringlichem Ernst, »gibt es die Frauen vielleicht nicht, die ihren Feindinnen verzeihen, aber meine ehemalige Verlobte in der Ferne der Berge wird die Liebeskraft dazu finden. Ich kenne Duglore. Eine Fürbitte von mir, und aus der Schlichtheit und Frömmigkeit ihrer Seele, aus der unergründlichen Fülle ihres Gemüts schenkt sie dir den Frieden.«

Big schauerte: »Verziehe mir Duglore Imobersteg, so verzeiht mir doch Gott nicht!« knirschte sie angstvoll. Ich fand aber vor dem Bild der gramvoll Versunkenen die Überredungsgabe der Verzweiflung und sprach ihr so herzlich zu, daß sie doch horchend das Haupt emporhob. »O, du gütiger Mann – du gütiger Mann,« flüsterte sie, drückte mir lind die Hände und wie ein leiser Hoffnungsstrahl kam es aus ihrem verfinsterten Gemüt: »Ja, sende den Brief an deine ehemalige Verlobte. Sage ihr, daß ich gebrochen auf den Knien vor ihr liege, daß ich gegen Gott und die Menschen fromm und gütig wie sie sein werde, wenn sie mir aus dem Grund ihres Herzens verzeiht.« Schweigend ließ Big ihr Haupt an meiner Brust ruhen, dann kam ein süßer, bittender Ton von ihren Lippen: »Jost, ich möchte mit dir so gern noch ein wenig leben!«

An meiner festen Zuversicht auf eine verzeihende Antwort Duglores richtete sich ihre Seele leise empor, sie duldete es, daß ich von schönen Tagen sprach, die wieder für uns heraufziehen sollten, und nahm meine hoffenden Worte mit bebender Zärtlichkeit hin. Als aber eine Woche vergangen war und die von uns sehnsüchtig erwartete Antwort Duglores nicht kam, begrub sie sich in eine unheimliche Niedergeschlagenheit. Teilnahmlos, eine furchtbar ernste Träumerin, saß sie in einem Winkel und schüttelte zu jedem Trost das Haupt. Ich ahnte, daß ihre Gedanken stärker als je den freiwilligen Tod suchten und empfahl die Schwermütige der strengen Wachsamkeit Gheritas. Traurig kam ich wieder mit leerer Hand aus der Stadt. Da fuhr Big wie eine Irrsinnige auf. »Sie schweigt,« rief sie, »nun siehst du, Jost, kein Weib und kein Gott verzeiht, was ich an Duglore Imobersteg verbrochen habe!«

Als am Morgen des folgenden Tages noch keine Antwort Duglores da war, wagte ich es nicht mehr, mein todessehnsüchtiges Weib zu verlassen, und bat den Schalterbeamten mir den Brief, wenn er käme, durch einen Sonderboten in die Wohnung zu bestellen. Ohne an Duglore zu zweifeln, doch um Big in zehrender Sorge, trat ich aus dem Postgebäude. Da kam mir ein Bote Gheritas entgegen. »Frau Quifort,« erzählte er atemlos, »ist fort. Wohin weiß niemand!«

Ich schwankte zu Tode erschrocken. Ich wußte wohin, nur den Weg nicht, den sie eingeschlagen hatte. Bald und doch zu spät fand ich im Bahnhof ihre Spur. Im leichtesten Sommerkleid, nur einen Sonnenschirm zur Hand, hatte sie eine kleine Strecke den Zug über Nabresina nach Venedig genommen. Ich sah klar: Duino, das Klippenschloß, die Sage, die Felsen, die Meerflut! Das war der dunkle Weg meiner armen, umnachteten Big. Ich ließ den Telegraphen spielen. Zu spät! –

Es hat niemand den Todessprung meines Weibes von dem Felsen hinab ins blaue Meer gesehen. Als ich aber nach ein paar Stunden auf die Stätte kam, da führten mich die Fischer auf eine der Klippen. An ihrem Rand lag der zierliche Schirm und der fast spinnewebleichte Sommerhut Bigs. Ich ließ mich von den braunen Männern auf die Wasser unter den Felsen führen und spähte in die tiefklare Flut. Friedlich zogen die Quallen, die Ampeln des Meeres. Da wogte es hell zwischen ihnen heran, da hob es sich wie eine zum letzten Gruß bereite, schlanke Hand. Ein blasses Angesicht! – Big – Big! –

Im weichen Abend bettete ich die Leiche meines Weibes mit Hilfe der Fischer aus dem Meer in die Barke. Die Männer entblößten die Häupter, knieten nieder, beteten und betrachteten die Tote scheuen Blicks. »Gott im Himmel, diese Schönheit! Wie jung noch! Warum ist sie wohl aus eigenem Willen gestorben. War sie wohl eine Ehebrecherin?« So ging das Geflüster der Fischer.

Nein, das war keine Ungetreue; sie hat nur zu sehr geliebt. Das war ihre Schuld. Sie ist ihr vergeben worden!

Auf einem Fischermantel lag die Tote. In ihre lieben Züge zauberte die Abendröte einen letzten Schein des Lebens; der Friede der Leidversöhnung war darauf gebreitet, und die Wellen lichtbraunen Haares umflossen die gertenschlanke Gestalt wie mit einem Mantel der Schönheit. Ich hielt ihre kalte Hand, ich kniete und weinte: »Big, mein Märchen, Big, mein süßes Weib, Big, mein herzguter Kamerad, warum bist du von mir gegangen?«

Ein Streifen Papier auf ihrer Brust gab Antwort: »Ich mußte. Ich küsse und herze dich, unsäglich geliebter Mann!«

Der Mond schwamm in der linden Nacht; die geheimnisvolle Stimmung der Maiblüte verband Erde, Meer und Himmel wie mit einem Lied. Da haben wir mein Weib mit der Barke still nach der Stadt hineingeführt.

In schwere Schicksalsgedanken verloren, ein geschlagener Mann, saß ich in unserer kleinen Villa am Totenlager Bigs und wachte wie manchmal im »Saturn« über ihren Schlummer. Der Morgen kam. Es klingelte. Ein Sonderbote der Post! »Herr Quifort,« sagte er, »ich habe Ihnen den Brief mit der Aufschrift »Herr Jost Wildi« zu überbringen, nach dem Sie den Schalterbeamten ein paarmal dringlich gefragt haben.«

Die Antwort Duglores, die Antwort einer schlicht hochsinnigen, frommen Frau.

»Lieber Jost!« schrieb sie. »Dein Brief hat mich und meinen Mann sehr erschreckt. Die Antwort hat sich etwas verzögert, weil Hangsteiner zuerst nicht wollte, daß ich dir schreibe. Ich habe ihm aber so lange gesagt, was unsere Christenpflicht ist, bis er in diese Zeilen eingewilligt hat. Er nimmt heute selber den Brief nach Zweibrücken mit. Also, lieber Jost, ich vergebe dir deinen jugendlichen Leichtsinn; gern vergebe ich dir ihn, weil es mir doch eine große Erquickung bereitet hat, aus deinem Schreiben zu sehen, daß du unschuldiger bist, als Hangsteiner und ich glaubten. Es war in mir immer eine Stimme der Verteidigung für dich. Nun freut es mich, daß sie recht hatte. Aber eins, Jost, tue mir zuliebe. Vergiß, was in Hamburg gewesen ist, und denke, wie wir selber denken, unsere Älteste sei Hangsteiners Kind. Schone, so lange du lebst, die Ruhe unseres Hauses! Das ist die Bedingung, unter der Hangsteiner mir den Brief zu schreiben erlaubt hat. Die beiliegenden Zeilen übergib deiner Frau. Ich habe mich nach langem Kampf in das geneigt, was unerforschlicher Ratschluß Gottes war. Friede sei mit uns allen! Amen und Gruß! Duglore Hangsteiner.«

Die Zeilen an Big lauteten: »An Frau Jost Wildi! Um dessentwillen, der am Kreuze für uns gestorben ist, vergebe und verzeihe ich Ihnen. Ich vergebe und verzeihe Ihnen aus vollem Herzen und vom Grund der Seele. Wie eine Christin soll, habe ich mich selber durchforscht. Es ist kein Körnchen Groll mehr gegen Sie in mir. Ich wünsche, daß diese wahrhaftige Mitteilung Ihnen die Ruhe des Gemüts, das Glück des Herzens gebe. Dann ist sie mir selber eine Quelle des inneren Friedens. Gott segne Sie und Jost!«

»Hörst du, hörst du, meine arme Big!« Das Haupt über das blasse Antlitz der in Blumen ruhenden Toten geneigt, schluchzte ich wie ein Kind. Meine arme Big hörte nicht.

Bevor ich aber, umgeben von einer kleinen Schar Triester Freunde, mein Weib in den Schatten der Zypressen über dem Meer geleitete und sie hinab in den maienübergrünten Schoß der Erde bettete, habe ich ihr die Zeilen Duglores auf die Brust gelegt. Big wird sie finden am Auferstehungstag.

Es duldete mich nach ihrem Tode nicht mehr lange in den seufzenden Bildern des Golfes von Triest. Nur ein paarmal noch habe ich ihr Grab besucht. Mir war jedesmal, ich müßte mein Weib aus der Erde wühlen. Dann kam eine Abendstunde stillen Abschieds. Meer und Land leuchteten wundersam bis hinüber zu den Lagunen. Ich betete: »Lieber Gott! Wenn die Propheten recht haben, wenn der Tag kommen wird, da deine Engel vom Aufgang bis zum Niedergang des Weltgegebäudes zum Gericht posaunen, die Gräber springen und das Meer seine Toten auswirft und wir alle vor deinem furchtbaren Angesicht erscheinen müssen, dann, lieber Gott, erbarme dich der blassen Abigail! Erinnere dich, daß mir die Hälfte der Schuld gehört; gib mir davon so viel, daß ich und Abigail uns nicht trennen müssen. Verweise uns an die äußerste Grenze deines Reichs, aber laß uns den Trost des gemeinsamen Wandelns!«

Ich brach ein grünes Zweiglein von den Zypressen, die um das Grab meines lieben Weibes flüstern, und wankte in die Welt. Ich blieb der Luftschiffer Leo Quifort aus Mexiko, mied aber die Städte, die mich mit Big und dem »Saturn« hatten steigen sehen. Mein neuer Ballon hieß »Kondor«. Ich kam mit ihm bis nach Tiflis und Teheran. Ruhelos wie Ahasver habe ich einsam drei Erdteile durchzogen und wurde ein stets kühnerer Fahrer mit der fast abergläubischen Sicherheit, daß ich nie fallen würde. Der Luftschiffer Leo Quifort ist auch nie gestürzt, erst der heimkehrende Jost Wildi.

Das Tal meiner Jugend, den Berg meiner Väter fand ich wie von selbst wieder. Von dieser Heimkehr habe ich dir noch zu erzählen, Hans. Dann hast du die Beichte meines Lebens! Anfang und Ende schließen ineinander.

Von der Barmherzigkeit Duglores entsündigt, schlafe meine süße Abigail, schlafe unter den Zypressen am Meer, ruhe dich aus von der stillen, großen Angst deines Lebens. Vielleicht geht auch dein Mann bald schlafen! Der Ost wühlt im zerfallenden Dach, die Kälte nimmt zu und der Stich in der Brust.


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