Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XIX

Es schneit bei ruhiger Luft in gewaltigen Flocken. In Selmatt unten aber stürmt es in den Herzen. Hans Stünzi telegraphiert mir: »Gottlobe flüchtete sich vor ihrem Vater ins Schulhaus. Er wollte sie mit Gewalt zwingen, daß sie Böhninger die Hand reiche. In Tränen aufgelöst, kam sie und ist noch da. Sie bittet dich um ihrer seligen Mutter willen, daß du mit einem Drahtbericht Hangsteiner zusprechest. Sie sagt, sie gehe eher aus dem Haus und aus dem Tal, als daß sie sich das Ja abringen lasse.«

Was sollte ich antworten? Ich habe nach einigem Besinnen durch Hans Stünzi an Hangsteiner gedrahtet: »Auf Weihnachten möchte ich, der Einsame auf dem Berge, etwas Schönes zu denken haben; zwei Menschenkinder, die mir lieb sind, glücklich wissen. Jag doch den Viehhändler zum Teufel! Ich komme als Freiwerber für Hans Stünzi, meinen jungen Freund, zu dir. Gibst du ihm die Hand Gottlobes, so stelle ich ihn aus meinem Vermögen so, daß er auf Eure windige Lehrerstelle in Selmatt pfeifen kann. Ein paar Jahre soll er frei und unabhängig Studien leben und später genug haben, um sich an einem bedeutenden Ingenieurunternehmen zu beteiligen; auch die Aussteuer Gottlobes nehme ich auf mich. Die Bank in St. Jakob wird dir auf eine Anfrage bestätigen, daß meine dort niedergelegten Wertschriften für meine Versprechungen ausreichen. Ich erfülle sie, sobald wieder ein brieflicher Verkehr vom Feuerstein nach der Stadt möglich ist und erbitte deine zustimmende Antwort.«

Zitternd, jubelnd, jauchzend haben mir Gottlobe und Hans durch den Draht gedankt. O, sie werden dem Alten die Hölle schon heiß machen und seine hagebüchene Stirn brechen.

Ich will den Dank des Paares nicht. Was ich tue, geschieht im Andenken an Duglore, der ich in Amerika gern einen lieblichen Weg durch die frischen Auen und Frühlingswälder des Lebens bereitet hätte, der ich aber den Dornenkranz der Liebesmärtyrerin aufs Haupt drückte. Gott weiß, wieviel ich dafür litt! Kann ich Gottlobe und Hans den Weg der Liebe bahnen, o, dann wünschte ich, daß es ein ewiges Leben über den Sternen gäbe und Duglore in Seligkeit Zeuge sein dürfe, wie ich unserem Kind das Glück bereite.

Unserem Kinde! Es ist freilich noch nicht der Punkt in meiner Beichte, an dem ich davon sprechen sollte. Es geschieht, übermannt von dem Schmerz der Erinnerung, wie Duglore mit gekreuzigter Seele, überzeugt von der abgrundtiefen Schlechtigkeit ihres Jost, die Frucht seliger Liebesnacht unter dem Herzen, von Hamburg gegangen ist. Die Ärmste! Die Ärmste! –


So, nun ist der Draht gebrochen, nun bin ich in dem Augenblick, da ich mit brennender Sehnsucht die Antwort Melchi Hangsteiners auf meine Freiwerbung für Hans Stünzi erwartete, losgetrennt von dem lieben Paar drunten in Selmatt, abgeschnitten von der Welt.

Es ist heute Wintersonnenwende. Zugleich der traurigsten Tage einer, die ich je auf dem Feuerstein erlebt habe. Umsonst versuchte ich am Morgen das Sprechfünkchen des Apparates hervorzulocken, umsonst griff ich heute jede Stunde mit zitternder Hand nach der Taste; es war, wie wenn man ein entseeltes Liebes ins Leben zurückrufen will, ein Anklopfen ohne Antwort, ein trostloses Erkennen: »Tot – tot – tot!« Die Entdeckung drängte mir beinahe die Tränen in die Augen. In aufquellender Wut überlegte ich den vorwurfsvollen Brief, den ich den Herrn der meteorologischen Landesanstalt wegen der bureaukratischen Distelei schreiben wollte, durch welche die völlige unterirdische Legung des Drahtes verhindert worden ist. Wer befördert aber einen Brief vom Feuerstein in die Stadt? Doch vor die Wahl werde ich im Frühling die Anstalt stellen: Kabel oder Kündigung meines Amtes! Es ist nun erwiesen, daß der Draht stets an einer Stelle bricht, an der man es nicht erwartet, und nur eine vollständige unterirdische Führung vor der niederschlagenden Überraschung schützt. Das drittemal erlebe ich den Bruch, aber so früh im Winter ereignete er sich noch nie. Das ist nun ein schönes Sich-durch-die-Einsamkeit-beißen und -fressen!

Die gestrige Luftruhe hat in fürchterlichen Sturm umgeschlagen.

Ich sah den ganzen Tag keinen Zoll Welt, nicht einmal das Wolken-, Schnee- und Hageltreiben, das an meiner Hütte vorbeisaust. Der Schnee hat die Fenster verklebt, die Stube verdunkelt. Stunden um Stunden habe ich damit zugebracht, die luftdurchlässigen Thermometer-, Hygrometer- und Windmessergehäuse von dem Schneestaub zu reinigen, den der Sturm darein getrieben hat. Es war ein fast vergeblicher Kampf, den ich morgen wieder aufnehmen muß. Noch heulen die Lüfte, als zöge das Heer der Verzweifelten, ja die Hölle selber an meiner Hütte vorüber. Schrei auf Schrei! Es ist, als ob ein Unheimlicher an Tür und Fenster rüttele und mit Gewalt Einlaß fordere. Ich kenne ihn. Es ist der Tod! Ich philosophiere vor der Flamme, die ich vom Morgen bis zum Abend brennen lassen muß, und habe lange in herzbeklemmender Traurigkeit an einsames Sterben gedacht. An den armen, letzten Menschen habe ich gedacht, der einmal über die erlöschende, erkaltende Erde schreiten wird. In einem Schneesturm, wie er heute durch die Berge rast, wird der Flüchtige ermüdet hinstürzen, sich noch einmal erheben, wieder straucheln und seine Seele veratmen. Dann ist alles gewesen, das Hoffen und Harren, die Freude, das Leid, die Ehre, die Schmach unseres Geschlechts. Wozu? –

Ich, der lebendig begrabene Wetterwart, bin glücklicher als der letzte Mensch! Noch darf ich meine Seele ein wenig an der Tierseele wärmen. Als ich heute wehmütig am toten Apparat hantierte, wedelte sich Flock, der Spitzer, heran, hob den Kopf auf mein Knie und redete mit verständnisvollen Augen in seiner Gebärdensprache: »O Herr, es geht dir schlecht! Dein Kummer betrübt mich so sehr!« Puck, die Dohle, kletterte trotz ihres lahmen Flügels an mir empor, setzte sich auf meine Schulter und rieb liebkosend ihre Wange an meiner Wange. Ein Lockton, und Mi, das Mäuschen, kam, sprang auf meine flache Hand und naschte die Nuß. Mit meinem Dreiblatt plaudernd, verstand ich jenen Gefangenen, der seinen Kerkermeister erschlug, als er ihm die gezähmte Spinne tötete.

Was für einen Entschluß faßt jetzt Hangsteiner? Er soll meine Bitte, die Hand Gottlobes Hans Stünzi zu überlassen, in blasser Bestürzung, in knirschender Wut aufgenommen haben. Zu meinem jungen Freunde sagte er, Hans möchte sich zum Teufel scheren, eine Antwort auf mein Telegramm gebe er nicht. Umsonst habe sich Gottlobe händeringend vor ihn hingestürzt, seine Kniee umklammert und gefleht, er möge sie ziehen lassen, damit sie in St. Jakob Magd werde. Hangsteiner schlug ihr alles ab!

Das war die letzte Nachricht von Hans Stünzi! Wann darf ich auf die Fortsetzung rechnen? Ich fürchte, daß sich mein junger Held am Neujahr nicht wird zu mir emporkämpfen können! Es fällt zu viel Schnee. Der Drahtbruch aber wird Hangsteiner ermutigen, meinen Wünschen zu widerstehen. Die Unterbrechung der Verbindung wird ihn etwas von der abergläubischen Furcht erlösen, die er vor mir empfindet; er wird sich sagen, wenn ich nicht einmal mehr ein Zeichen vom Berg geben könne, dann fehle mir auch die Kraft, wie ein Adler von meinem Horst auf ihn herniederzufahren.

Ich wüßte aber nicht, was ich täte, wenn ich im Frühling erführe, er hätte seine Vatergewalt mißbraucht und Gottlobe in eine Ehe ohne Liebe gedrängt. Nein, das wagt er trotz des grimmigen Hasses nicht, den er seit den Jugendtagen auf mich geworfen hat. Er gehört zu den Menschen, bei denen das Gold die stärkste Überredung ist. Deswegen muß ihn mein Vorschlag doch zu einer gewaltigen Achtung vor mir zwingen. Und dann lebt er in der geheimen Furcht, ich könnte trotz meines Versprechens gegen Duglore die Fälschung aufdecken, die er vor zwanzig Jahren an Ordnung und Gesetz begangen hat. Er muß sein angemaßtes Recht vor meinem natürlichen beugen. Er muß!

Ich träumte mit gesenkter Feder und sah Gottlobe mit Hans durch den Mai zu seliger Hochzeit schreiten. Da brüllte der Sturm auf, wie den langen Tag noch nie. Das Observatorium zitterte und klirrte, als wollten es die grimmigen Lüfte in die Tiefe werfen. Deutlich hörte ich im Toben des Orkans das Weinen und Wehklagen einer Frauenstimme durch die Doppeltür der Hütte dringen. – Abigail! – In erregten Sinnen war mir wirklich und wahrhaftig, sie stände als eine barfuße, schlecht bekleidete Büßerin mit langem aufgelöstem Haar vor der Tür, stehe: »Nur für ein Viertelstündchen laß mich ein, ich friere, Jost!« Das Blut rieselte mir ins Herz zurück. Unwillkürlich öffnete ich die Türe. Niemand war draußen im Sturm der Nacht. Und doch bringe ich den Gedanken nicht los, sie sei in den Wettern weinend an meiner Hütte vorübergegangen.

Liebe Abigail, komm und setze dich an mein Feuer! Ich will nicht daran denken, daß schon die köstlichste Zacke aus der Krone deiner Liebe gebrochen war, als du an das Lager eines Verlassenen und Elenden tratest und sprachst: »Ich liebe dich – lebe!« Nur daran, wie du mir barmherzige Samariterin gewesen bist! –


Ich war nach der unbegreiflichen Flucht Duglores zum ersten Male in meinem Leben krank, mit einem Hirn wie voll siedenden Schwefels schwer krank, und von vielem, was damals mit mir geschah, weiß ich nichts mehr; an einen Augenblick aber erinnere ich mich deutlich.

Ich hatte einen entsetzlichen Traum. Mir war, ich irre durch die Täler und Berge der Heimat; die Menschen aber, denen ich begegnete, riefen mir alle zu: »Das ist Jost Wildi, der die Duglore Imobersteg ermordet hat.« Aus dem Tal lief ich keuchend gegen den Feuerstein empor, auf dem Gipfel aber standen wieder Leute. »Fort, fort,« schrieen sie, »du mußt nach Gauenburg! Dort wirst du vor dem Rathaus gehängt. Du hast die Duglore Imobersteg auf dem Gewissen.« überall, wohin ich floh, traf ich Selmatter von ehemals, die mich mit dem Ruf »Mörder!« von sich hinweg und gegen Gauenburg trieben. Immer wollte ich fliehen und kam stets näher an die Stadt.

In diese schrecklichen Phantasien mischte sich eine milde Männerstimme: »Ich kann Ihnen die Zusicherung geben, Fräulein, daß wir den Patienten auf der besseren Seite haben. Ich gestatte Ihnen, an seinem Lager zu bleiben, aber sprechen dürfen Sie nicht mit ihm!« Es kam mir zum Bewußtsein, daß ich krank liege und die Stimme diejenige des Arztes sei. Ich wollte die Augen aufschlagen, aber es ging nicht; doch hörte ich, wie er das Zimmer verließ, und spürte, wie eine weiche kühle Frauenhand meine glühende Stirn berührte, Tränen, die nicht ich weinte, auf meine heißen Wangen fielen. Wundersam erlösend kam der Gedanke über mich: »Duglore lebt ja und ist bei mir!« Glückselig träumend, überdachte ich es und konnte nun die Augenlider öffnen.

»Es ist Big – es ist nicht Duglore!« Enttäuscht schloß ich die Augen wieder. Ich spürte einen weichen Kuß auf meinem Mund. Da er aber nicht von Duglore kam, ließ er mich gleichgültig. Ich wollte überlegen: Woher kommt nur Big? Mein Hirn war aber zu schwach, einen Gedanken festzuhalten. Ich schlummerte wieder ein und genoß wohl einen sehr langen und tiefen Schlaf von einem Tag weit in den anderen hinein, denn als ich erwachte, hatte ich selber das Gefühl, daß die Krankheit im Weichen, die Genesung im Anzuge sei. Nur matt und zerschlagen suhlte ich mich und nach kurzer Munterkeit wieder schlafsüchtig. An meinem Lager saß Big, aber nicht das fröhliche Weltkind, sondern ein ernstes Bild mit fremdem Wesenszug, und einem Schatten um die Blauaugen wie von Übernächtigkeit, Kummer und Sorge. »Wie hast du mich gefunden?« fragte ich freudlos. »Woher wußtest du, daß ich krank bin?«

Eine Blutwelle schoß ihr in die blassen Wangen. »Nun, verzeih mir, Jost,« flüsterte sie weich, »ich ertrug die langen Tage ohne Nachricht von dir nicht; ich forschte den Ort aus, wo du wohntest, und vernahm in der Gärtnerei, daß du, Ärmster, Dampfschiffheizer gewesen seist, daß deine Verlobte wegen Heimweh wieder in die Berge gereist sei, und du krank im Spital liegest. Die Liebe trieb mich an dein Schmerzenslager, ich traf dich in einem sehr häßlichen Zimmer mit anderen Kranken zusammen und ließ dir dieses geben, damit du allein seist und eine bessere Pflege genießest. Du warst sehr krank, Jost; der Arzt hat einige Tage deinen Tod befürchtet. Aber wie schrecklich finster schaust du!«

»Hätte er mich nur sterben lassen!« erwiderte ich knirschend.

»Magst du es nicht leiden, daß ich bei dir bin?« versetzte Big traurig. Ich gab keine Antwort. Darüber geriet sie in eine furchtbare Niedergeschlagenheit. Sie wollte gehen und blieb doch. Mir fielen die Augen wieder zu; im Halbschlaf spürte ich ihre Tränen auf meinen Wangen und ihren zuckenden Kuß auf Stirn und Hand. Dann ging sie.

Ich hatte keinen Sinn mehr für Big. Wenn ich wachte, flogen meine Gedanken um Duglore. In wilden Wettern zog es durch die Seele des Genesenden. Ich hätte es eher begriffen, wenn Duglore, irre an mir, den Tod in der Elbe gesucht hätte, als daß sie heim in die Berge gereist sei. Ein Mädchen, das sich Mutter fühlt, trennt sich doch nicht von dem Vater ihres zukünftigen Kindes und trägt ihr Unglück nicht aus der Fremde in die Heimat. Duglore wußte doch so gut wie ich, welche Schande der harte Sinn unseres Bergvolks auf ein Mädchen häuft, das Mutter wird. Nein, so unsinnig handelte sie nicht. Ihre Flucht hatte unter diesen Umständen etwas Unglaubwürdiges, Unerklärliches. Ist sie wirklich heim? Dann hatte sie wohl erkannt, daß ihre Muttergefühle eine Sinnestäuschung waren! Wer mochte da klug werden? Und der Verwandte, der sie geholt hätte? Melchi? In marternden Rätseln grollte ich dem Schicksal, daß es mich das Fieber hatte überstehen lassen, und meine Wiederherstellung schritt nur langsam vor.

Eines Sonntagmorgens kam Rungholt mit seiner Schwester, der Gärtnerin, auf Besuch. Sie trafen Big und wunderten sich nicht wenig über meine vornehme, innigst für mich besorgte Schützerin. Als sie gegangen war, erzählte ich dem Geschwisterpaar kurz, wie sie und ich Freunde geworden seien. »Mädchen gegen Mädchen,« versetzte Rungholt mit einer Schlauheit, die ich ihm nicht zugetraut hätte. »Fräulein Imobersteg ist wohl wegen Fräulein Dare verschwunden!« Dem widerstritt aber die Gärtnerin. Die beiden hätten sich ja gar nicht gekannt, sagte sie, mit Ausnahme des sonntäglichen Kirchganges habe Duglore das Geschäft nie verlassen, Briefe seien außer den meinen nicht angekommen und Fräulein Dare erst zum Ankauf einiger Blumen in die Gärtnerei getreten, als ich bereits krank im Spital gelegen hätte. Rungholt sei auf falscher Fährte. Wir besprachen die Umstände der Flucht Duglores ausführlich. An einem Samstag erhielt sie meinen Brief von Utrecht und erfreute sich daran; am Sonntag besuchte sie den Gottesdienst, von dem sie trotz des sommerlich warmen Wetters mit einem Frostanfall heimkehrte. Darauf rief die Gärtnerin einen Arzt. Am anderen Tag verfügte dieser, daß die Angegriffene ins Krankenhaus gebracht werde. Duglore sprach bereits von Abschied und Heimkehr und sagte, sie würde mir über die Gründe schreiben, wenn ihr etwas wohler sei. Die Woche hindurch fand die Gärtnerin keine Zeit, meine Verlobte im Spital zu besuchen, am Samstag aber kam ein Fremder in einer Droschke gefahren, der sich als ein Verwandter Duglores vorstellte und das Gepäck abzuholen wünschte.

»Er sprach das Deutsch so seltsam und fast so unverständlich wie Fräulein Imobersteg; sein ungewandtes und ungeschlachtes Wesen verriet den Bauern,« erzählte die Gärtnerin.

»Hatte der Mann Sommersprossen?« fragte ich. »Das Gesicht über und über voll,« erwiderte sie, »weißliche Brauen und flächsernes Haar.« So wunderlich es mir vorkam, konnte ich nicht mehr zweifeln, daß Melchi Hangsteiner Duglore geholt hatte. Die Gärtnerin erzählte weiter, sie habe dem Fremden gesagt, sie würde Duglore am Sonntagmorgen im Krankenhaus besuchen, er habe sie aber wohl nicht verstanden. Als sie am Sonntagmorgen in das Spital kam, war Duglore mit dem Fremden fort.

Warum hat mir denn Duglore das Unrecht angetan? Ich überlegte in grimmigen Schmerzen. Ich bat Rungholt, einen Brief an sie zu schreiben, daß ich krank liege, und sie um Gottes willen um eine Zeile der Auskunft über ihren schweren Schritt bitte; der Brief würde sie durch Melchior Hangsteiner, Landwirt in Selmatt, wohl erreichen. Einige Tage später, als ich selbst wieder zur Feder greifen konnte, schrieb ich an den alten Pfarrer in Zweibrücken und bat ihn um eine Mitteilung, wo meine frühere Jugendgespielin wohne, und wie es ihr gehe. Davon, daß sie in Hamburg gewesen sei, sprach ich nicht.

Jeden Tag kam Big zu mir, legte einen blühenden Zweig auf die Decke meines Bettes und stellte ein paar frische Rosen in ein Gefäß am Fenster. Was wäre aus mir, dem heimatlosen, verlassenen Menschen geworden ohne sie? Ihr schuldete ich es, daß ich nicht unter wildfremden anderen Kranken des Hospitals lag, und durch Arzt und Wärterin eine Pflege genoß, die nicht sorgsamer hatte sein können. Ja, vielleicht schuldete ich ihr deswegen das Leben. Ich hatte ihr aber keinen Dank dafür, sondern warf eher einen Groll auf das Gefühl der Genesung und auf den Gedanken, das Leben wieder beginnen zu müssen. Ich verstockte mich in einen düsteren Brütesinn und hielt mich für einen Menschen ohne Glück und Stern, und die unbegreifliche Flucht Duglores war mir die Bestätigung, daß sich mein Schicksal aus sonniger Zeit in schattendunkle Irrwege verloren habe.

Im Grunde meines Herzens tat es mir leid um Big. Sie war zu stolz, um ein liebes oder dankbares Wort von mir zu erbitten; aber ich wußte, daß sie unter meinem Benehmen litt, in aufwallender Enttäuschung lieber von mir gegangen wäre, als bei dem finster Schweigenden auszuharren, und nur aus innerem Zwange blieb. Ich aber fand die Brücke seelischer Verständigung mit ihr nicht. Im Gegenteil! Manchmal erfaßte mich ein böses Verlangen, nachdem Duglore gegangen war, nun auch mit Big zu brechen. Allmählich erweichte sich indes der harte Sinn. Ich litt ihre Anwesenheit und liebte den Blick auf die wie eine Gerte biegsame, hohe Gestalt mit der Anmut der Weltgewandtheit und jener Schönheit, die aus einer feurig empfindenden Seele fließt. Das geistvolle, etwas blasse Antlitz, der kühne Schnitt der Stirn und Nase, die Fülle lichtbraunen Haars, das sich in weichen Locken um die Schläfen schmiegte und in einem schweren Knoten in den Nacken floß, fesselten mich, aber mehr, wie man ein schönes gemaltes Bild bewundert, als aus inniger, warmer Teilnahme des Gemüts, und der halbverhaltene Unmutsblitz, der leise zitternde Ausdruck von Demütigung, der, wenn ich auf eine ihrer freundlichen Fragen eine mürrische Antwort gab, über ihr Gesicht ging, berührten mich nicht tiefer. Es hätte mich kaum erschüttert, wenn Big eines Tags nicht mehr zu mir gekommen wäre; es ging mir mit ihr wie mit dem Blau des Himmels und mit dem Grün der Bäume. Als ich mich jeden Tag eine Stunde erheben durfte, fand ich Blau und Grün der Natur matt; es gelüstete mich kaum wieder einmal ins Freie zu treten.

»Darf ich dir ein paar Gedichte vorlesen, Jost?« fragte Big in stiller Verzweiflung.

Sie las, und »Wanderers Nachtlied« traf eine mitklingende Saite in meinem Gemüt.

»Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!«

Mir war, ein Zauberstab hätte mich berührt; ich bat Big: »Lies mir mehr vor!« Ein Leuchten ging über ihre Züge. Sie las wohl eine Stunde lang und am anderen Tag wieder. Nie mehr kam sie ohne Buch. Dichter und Lieder waren mir alle neu. Eine mir bisher unbekannte Welt hielt mit schmeichelndem Ton und schönen Gedanken in meinen Sinnen Einzug. Big wählte die Gedichte mit einer feinen Empfindung für das, was meinem Herzen wohltat. Sie las die mannigfaltigen Strophen, als ob ihre eigene Seele in den trostreichen, edlen und hohen Gefühlsgängen der Dichter aufgelöst wäre. In den blauen Augen und in ihrem Antlitz glänzte ein sanftes Feuer, das nichts Alltägliches darin zurückließ, und wundersam bog und schmiegte sich die Stimme mit dem Wohllaut und Sinn der Lieder. Ich lauschte verträumt. In einem Herzen, das verdorrt schien, begann es leise zu schwellen und zu grünen.

Bescheiden und stillerfreut flüsterte Big: »Ich freue mich, daß ich dir etwas sein kann, Jost!«

Ich streckte ihr mit einem dankbaren Lächeln stumm die Hand entgegen.

Um diese Zeit, da ich aus meiner geistigen Beklommenheit und Starrnis erwachte, erhielt ich zwei Briefe aus der Heimat. Der Pfarrer von Zweibrücken, der sich mit seiner Antwort nicht beeilt hatte, meldete: »Duglore Imobersteg wohnt in Zweibrücken und hat sich kürzlich mit Melchior Hangsteiner in Selmatt verlobt; gestern war das Paar bei mir und bat um baldige Trauung. Ich brachte dabei die Rede auf Ihren Brief. Wahrscheinlich hätte Duglore Imobersteg Ihnen selber geschrieben, aber Melchior Hangsteiner wollte nichts von einer Beantwortung Ihrer Anfrage wissen. Zu meiner herzlichen Betrübnis haben Sie sich eben die Menschen der Heimat, selbst Ihre Jugendgespielen, wie das genannte Paar, durch Ihren leichtsinnigen Lebenswandel, der hier nicht unbekannt geblieben ist, entfremdet. Ich begrüße Sie mit dem Wunsche, daß Gott Ihnen durch Ihre Krankheit die Kraft zu einem neuen, besseren Leben gebe!« Der andere Brief kam von Melchi. »Da mich der Pfarrer ermahnt hat, dir zu schreiben, tue ich es, wiewohl ich und Duglore beschlossen haben, auf Briefe von dir nicht mehr zu antworten, ob du sie selber verfaßt oder durch andere schreiben lässest. Duglore, die über deiner Schlechtigkeit in Hamburg gestorben wäre, wenn ich sie nicht mit vielen Kosten geholt hatte, geht dich nichts mehr an. Briefe, die du schickst, werden ungelesen verbrannt. Wir sagen: Laß uns ein für allemal in Ruh! Du hast ja die andere. Sieh zu, daß du die Kinder dieser erhalten kannst!« Der Brief endete in einem groben Geschimpfe. –

»Die Kinder dieser.« Der Ausdruck fiel mir auf, ohne daß ich etwas Vernünftiges dazu denken konnte. Melchi hatte ihn wohl nur in die Feder laufen lassen, um mich damit recht zu kränken. Ich weinte leise, heiße Tränen in mein Kissen, durchging wieder die Geschichte meiner Liebe zu Duglore und dachte an das Gemüt voll Unschuld, an all das Glühen und Sichzueinanderkämpfen unserer Herzen und an die Jahre vom ersten gegenseitigen kindlichen Wohlgefallen bis an den Morgen, da sie mich zuletzt zum Dampfboot geleitete. In siedendem Weh suchte ich zu verstehen und zu begreifen. Ich verstand und begriff nicht. Nie hatte Duglore von Trennung gesprochen, nur von Vereinigung. Nun dieses fast hinterlistige Davongehen derjenigen, der die Treue doch im Blute lag, und die überraschende Verlobung mit Melchi! Über diesen Abgrund kam ich nicht.

Es liegt aber in der menschlichen Natur, daß sie mit ihrer Einbildungskraft selbst da Brücken schlägt, wo keine zu schlagen sind, daß sie stets Gedanken findet, die das Unbegreifliche begreiflich gestalten. Im Widerstreit mit mir selbst begann ich Duglore zu verstehen. In dem Muttergeheimnis, von dem sie mir mit einer leisen Andeutung wie von einer Möglichkeit gesprochen hatte, sah sie sich getäuscht, zugleich aber erschrak sie vor Amerika und seiner verschleierten Zukunft! O, im Grunde ihres Herzens haßte Duglore den Gedanken, auszuwandern, mit der ganzen Gemütskraft eines Heimatkindes. Ihr Eingehen auf meinen Plan war nur ein Zugeständnis an unsere Liebe gewesen. Die ihrige aber hatte durch die Entdeckung der Photographie Bigs und die Entdeckung, daß doch eine Untreue mit meinem Aufenthalt in Hamburg gewesen war, einen erschütternden Stoß erhalten. In ihrem verwirrten Köpfchen quoll und rauschte während meiner Abwesenheit das Heimweh. Voll Verzweiflung schrieb sie ihre Stimmung an Melchi Hangsteiner, in den sie ein warmes liebendes Vertrauen setzte, weil er auf die zerstörte Scholle unserer Kindheit wieder das Banner hoffnungsfreudigen Lebens pflanzte. In der Brust des Mannes aber, der sich in einer hoffnungslosen Liebe zu Duglore, in einer unfruchtbaren, wühlenden Eifersucht auf mich verzehrte, stammten über dem Brief das Erbarmen und ein jäher Liebesmut empor. Er wagte, was ihm kein Mensch zugetraut hätte: opferte seine Silberlinge, reiste, trat vor die erkrankte Duglore und erschien ihr wie ein Held, der sein Alles hingibt, um sie aus dem Betrug und den Armen eines Unzuverlässigen zu befreien. Ein Kampf in der Seele Duglores! Es siegte der Mann, der ihr ein Haus in der Heimat und das Glück des Jugendbodens anzubieten hatte über den in der Heimat verachteten Taugenichts, dem seine erste Liebe nicht immer heilig gewesen war.

In heißen Selbstvorwürfen rang ich um eine verständige Betrachtung der Dinge, bereute es tief, daß ich meine reine, duftige Blume aus den Bergen nicht treuer behütet und gepflegt hatte, und ließ es mich bis in die Urgründe meines Gemüts schmerzen, daß ich Duglore in einer Verkettung von eigener Schuld und Mißgunst des Geschicks an jenen Melchi Hangsteiner verloren hatte, den ich stets als einen Mann tief unter meinen seelischen Eigenschaften angesehen hatte. Das tat weh, weh! In meiner Selbstzerknirschung und brennendem Wehmut aber warf ich keinen Zorn auf Duglore, nicht einmal auf Hangsteiner. Ich wünschte dem milden Stern meiner Jugend ein stilles, sanftes Weiterglühen, ein Harschen und Heilen der Wunden im weltfernen Tal der heimischen Berge. Mit gefalteten Händen nahm ich stumm Abschied von Duglore, mit ihr von Heimat und Land, dachte, ich würde beide nie wieder sehen, und gab, mich dem Schicksal beugend, verloren, was nicht zu halten war.

Hat wohl Big Duglore aus Eifersucht etwas zu Leide getan? Die Frage, die zuerst mein schlichter Rungholt aufgeworfen hatte, überfiel mich trotz der Gegenrede seiner Schwester stets wieder mit stummer Qual. Unsinn, erwiderte mein Verstand. Der Gedanke ließ mich aber keine rechte Liebe mehr zu Big fassen, doch fand ich auch den Mut nicht, mich über den flatternden Verdacht, für den es keinen Anhalt gab, offen mit ihr auszusprechen. Ich durfte ihre Herzensgute und Aufopferung für mich doch nicht mit einem Worte kränken, das, wie schonend ich es wählen mochte, ein beleidigendes Mißtrauen gegen sie enthielt.

Da meldete uns der Arzt, daß ich das Krankenhaus verlassen könne.

Was nun beginnen, da ich gegen meinen Wunsch und Willen nicht gestorben war und den Kampf mit dem Leben wieder aufnehmen mußte? –

Im Stuhle lehnte Big. Auf ihrem Schoß ruhte das Buch, aus dem sie mir vorgelesen hatte; in ihren Zügen lag es wie Stolz, Hoffnungslosigkeit, Trauer, und ein zuckendes Spiel ihrer Finger verriet ihre innere Unruhe. Die blauen Augen forderten, daß ich spreche, und nachdem wir uns lange schweigend am Fenster des Krankenzimmers gegenüber gesessen hatten, begann ich: »Liebe Big! Es gibt noch Wunder der Güte auf Gottes Erde! Davon habe ich eins erlebt! Das Wunder, über das ich staune, ist deine Barmherzigkeit! Aus Kreisen, in denen du stets nur der umschwärmte und verwöhnte Liebling gewesen bist, hast du dich losgerissen, um mich armen, heimatlosen, halb zu Grunde gerichteten Gesellen, den alle anderen verlassen haben, zu pflegen. Wie soll ich es dir danken, Big?«

Eine seine Röte, Ernst und Spannung stiegen ihr ins schöne Antlitz. In den blauen Augen lag der Glanz tiefsten Gefühls; wie Sonnen, weich, liebreich, in verlangendem Feuer blickten sie mich an.

Ich zögerte aber, das Wort zu sprechen, das sie von mir erwartete.

Sie drückte beide Hände vor die Glut des Gesichts; zwischen den Fingern quollen ihre Tränen hervor. Ich bat: »Big!« und versuchte sanft, ihr die eine Hand herabzuziehen, aber sie preßte die Finger nur stärker auf Wangen, Augen und Stirn. Zornig knirschte sie: »Und du hast mir gar nichts zu sagen, als die paar schalen Worte von vorhin. Warum sprichst du nicht wie am Kornweg der Vierlande?« Sie stöhnte die Worte in bitterstem Herzeleid.

Es rang mächtig in mir: ich spürte wieder die Liebe zu Big. Ich stand mit gekreuzten Armen. Nach einer schweren Pause fragte ich in tiefem Ernst: »Big, nur ein ›Ja‹ oder ein ›Nein‹. Gibt es in deinem Herzen keine Erinnerung an meine frühere Verlobte Duglore Imobersteg, die feindlich zwischen deine und meine Liebe treten wird?«

Einen Augenblick noch hielt sie die Hände vor dem Gesicht, als prüfe sie sich selbst. Sie gab das Antlitz frei, blickte mich still, ernst, ja fromm an, und von ihren Lippen strömte ein leises, klares »Nein, Jost!« Unsere Augen ruhten einen Herzschlag lang ineinander. Ein dunkles Ungewiß glitt von meiner Seele. »Dann sprechen wir nie mehr von Duglore Imobersteg,« versetzte ich. »Und nun Big, wenn du dein Leben mit mir zu teilen bereit wärst – so – so wär's das einzige, was mir noch begehrenswert scheint in der Welt!« stammelte ich und kniete, vom Augenblick überwältigt, vor ihr.

Eine Pause. Ihre Hände streckten sich nach den meinen; sie flüsterte: »Du weißt es ja gar nicht, wie wahnsinnig ich dich liebe!« Sprachlos ruhten unsere Augen ineinander, leis zog mich Big an sich, sanft folgte ich, die Lippen schmolzen heiß zusammen. Gedämpft versetzte ich: »Big – jetzt mein einziges Glück!«

Plötzlich sanken aber ihre Arme schlaff von mir. Sie starrte, als wäre kein Glück in ihrer Seele, seufzte abgrundtief und begann bitterlich zu weinen, nicht wie eine Glückliche, nein, wie eine Unglückliche. Dieses Weinen verstand ich nicht, nur daß sie ihr Leben, ihr herrliches Leben hingebe an mich. »Und hättest du nicht gesprochen,« schluchzte sie, »von mir geworfen hätt' ich's. Nun aber will ich dein treues Weib bis an mein Ende werden.«

Sie hielt meine Hände krampfhaft umschlungen, und heute, als müder Mann weiß ich nicht, wer mich mehr geliebt hat, Duglore oder Abigail. Es kam rasch eine Zeit, da hatte der blaue Himmel nichts Drückendes mehr für mich, da lachte er, und die grünen Bäume, die schon der Herbst zu färben begann, wiegten sich in Glanz und Schimmer. Die Welt um mich war voll Licht und Leuchten, und durch die Sonnenflut klang es nur dann und wann leise wie der Ton eines Glöckleins aus alter Zeit, wie ein Seufzer, der mit den Wogen des Meeres rollt, wie eine Sage, die um einen Kirchhof schleicht. »Es war einmal ein Dorf, das hieß Selmatt. In diesem Dorf wohnte ein Mädchen, das hieß Duglörli« – – Silbernes Lachen Bigs, und es schwiegen Glockenton, Seufzer und Sage!


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