Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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II

»Zum Sehen geboren!« Ich bin ein Maienkind und sah zuerst die Felsen des Feuersteins, wie sie sich im jungen Taglicht röteten. Als kleiner Bube wünschte ich oft ungeduldig, die Sonne möchte etwas rascher vom Felshochgewände ins Tal herniedersteigen und mir die vom Tau der Wiesen genetzten, kalten Füße erwärmen.

Meine Heimat – ich entschleiere die Hälfte meines Lebensgeheimnisses – ist Selmatt, ich bin ein Kind des Dörfchens im tiefen Grund. Freilich die Häuser, die jetzt am Abend einen Faden des Lichts aus ihren Fenstern empor zum Feuerstein spinnen, sind nicht die Stätten meiner Jugend. Das größere, alte Selmatt, das meine Knaben- und Jünglingsschritte behütete, ist schrecklich vergangen. Sonst wäre ich weder der Abenteurer noch der Wetterwart und in der Heimat nicht so fremd geworden, daß nur noch einer, eben Melchi Hangsteiner, weiß, wer ich wirklich bin.

Also nicht Leo Quifort. Das ist eine mexikanische Unterlegung. Ich bin Jost Wildi, der Sohn des Bauers und Schiefertafelhändlers Klaus Wildi und seiner Ehefrau Ottilie Rhemberger von Selmatt.

Obgleich das Selmatter Tal nur durch die Schroffen und Gewilde, die Zinken und Zacken des Feuersteingebirges von der üppigen und menschenreichen Welt der Hügel und Seelande getrennt ist, liegt es so verloren wie eins in den Bergen. Eine halbe Tagereise windet sich sein Eingang um die Ausläufer des Feuersteins, und schlecht und holprig steigt der Weg die letzten paar Stunden der Selach, dem brausenden Bergstrom, entlang. In seinem Hintergrund, wo die milchweißen Bäche einander Grüßgott, die Füchse des Tals und die Gemsen der Berge einander Lebewohl sagen, lag mit saftgrünem Wiesenplan das Dorf Selmatt mit breiten steinbeschwerten, von Sonne und Luft braungesengten Schindeldächern, und daraus erhob sich weiß und schlank der rotbehelmte Turm der Kirche.

Mein Vaterhaus, das aus den Dorfplatz, die Kirche, den efeuumrankten Pfarrhof und den dahinter sich türmenden Alpwald in die Sonne schaute, war eins der ältesten und schönsten Holzhäuser im Tal. Am Balken, der das Vordach stützte, stand wohl zweihundertjährig die Inschrift:

»Dieses Haus gehört jetzt mein.
Bald wird es einem andern sein.
Meine Wohnung ist dann der Totensarg,
Drum sei mit deiner Liebe ja nicht karg.«

Es muß also unter meinen Vorfahren einen gemütstiefen, das Leben ernst überdenkenden Mann gegeben haben. Die ältesten Erinnerungen unseres Geschlechts aber hängen mit dem malerischen, mächtigen Ahorn zusammen, der halb noch grünend, halb schon gestorben vor unserem Haus auf dem Dorfplatz stand und dem die Überlieferung des Volkes ein Alter von über tausend Jahren gab.

»In jener fernen Zeit, als auch die Männer noch Weiberröcke trugen,« erzählte Kaspar Imobersteg, der ehrbare Schulmeister des Dorfes, »und der christliche Glaube noch nicht durch die heilige Reformation gereinigt war, gab es auf den Hochgeländen und in den Höhlen des Feuersteins noch die Wildleute.

Sie warm ein jähblütiges, aber schönes und gelenkiges Geschlecht. Die Männer groß und kräftig, die Frauen schlank, fein und zierlich, nicht viel größer als Kinder, dabei so scheu und flüchtig, daß sie selten ein Mensch zu Gesicht bekam. In der Angelegenheit des Glaubens aber waren die Wildleute verstockte Heiden, die um Johanni ihren Göttern große Feuer und Feste auf dem Feuerstein bereiteten. Zum Ende der Feier kamen sie, die Männer in roten, die Frauen in weißen Röcken, die sie sonst nicht trugen, unter Dudelsackmusik, Pfeifenschall und Trommelschlag zu Tal und tanzten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang unter dem Dorfahorn von Selmatt. Zu dieser Freinacht, während der in Selmatt keine Glocke geläutet werden durfte, hatten sie sich das Recht in einer großen Sterbezeit erworben, in der sie den Talleuten verrieten, daß Bibernellkraut gegen den schwarzen Tod helfe. Da Gott aber keine Freude an dem heidnischen Leben hatte, strafte er das Wildvolk damit, daß er den Männern nicht mehr genug zarter Frauen wachsen ließ.

War nun ein junger, schöner Wildmann, namens Wildiwäldi. Der hatte kein Mädchen mehr zum Tanz unter dem Ahorn gefunden. Trauernd schloß er den Zug derer, die im Sonnenaufgang vom Dorf auf die Berge stiegen. ›Wildiwäldi‹, rief da ein Selmatter Mädchen, das vor den anderen Dorfbewohnern aufgestanden war, durchs Fenster, ›wolltest du mein Wildiwäldi sein, ich tanzte mit dir all' Tag!‹ Da ließ Wildiwäldi den Zug, ging zu dem Mädchen, und weil es, obwohl keine Wildfrau, ein liebes und feines Wesen war, so blieb er im Dorf, und als das Mädchen schon ein hochbetagtes Mütterchen geworden war, sagte sie, es gebe auf der Welt doch nichts so Liebes wie einen Wildiwaldimann. Von ihm kommen die Wildi.«

Soweit berichtete Kaspar Imobersteg, der Schulmeister. Was er mir nicht erzählte, wußte ich sonst, nämlich, daß die, welche von den Wildleuten stammten, unter dem Volk der Berge als ein besonders warmblütiger, lebhafter und aufgeweckter Schlag Menschen galten, die leichter wie andere bei Mädchen Erhörung und Liebe fänden, und solange ich denken kann, war ich erfüllt vom heimlichen Stolz, ein Nachfahre Wildiwäldis zu sein.

In den Adern meines Vaters aber floß das Blut unseres Geschlechtes nur verhalten und gedämpft. Es hatte schon vergoren, als ich ihn, vielleicht im dritten Jahr meines Lebens, kennen lernte; ich habe ihn, der in seiner Jugend einer der wildesten Tänzer im Gebirge gewesen sein soll, nur als einen stillmürrischen, ja gegen mich fast überstrengen Mann im Gedächtnis, der den Faden seines freudlosen Hinspinnens, die Sorge um Geld und Erwerb, nur selten durch eine milde oder fröhliche Regung unterbrach. Deswegen freute ich mich, daß er über Winter als fahrender Händler von mir und der Mutter abwesend war.

Tafeln und Griffel aus dem Selmatter Schieferbergwerk waren damals in der weiten Welt bekannt. Als »Griffelstrich«, wie man das von Eltern und Voreltern überkommene Wandergebiet eines Selmatter Händlers nannte, besaß der Vater den Rhein bis ans deutsche Meer, kaum war das kurze, goldene Korn der Bergäcker geschnitten, getrocknet und eingebracht, so kam Leben und Bewegung in das Schiefergeschäft, wurden die Tafel- und Griffelballen auf Pferden nach Zweibrücken am Ende des Selmatter Tals gesäumt, wo die Selach in den größeren Bergstrom der Balgenach mündet. Mit einer stillen Umständlichkeit rüstete sich der Vater auf die winterlange Wanderschaft, und einige Tage vor der Abreise erweichte sich sein herbes Wesen, gab er der Mutter und mir etwa ein gutes Wort, das aus dem harten Munde unendlich wohl tat. Ein Kleid aus starkem, grobem, braunem Bergtuch, ein runder Filz mit langen, glatten, glänzenden Haaren, ein rotes Halstuch und mit mächtigen Nägeln versehene Stiefel bildeten seine dauerhafte Ausrüstung. Dazu gesellten sich der derbe, an der Spitze mit Eisen beschlagene Knotenstock und der mit Murmeltierfell überzogene Sack, der am Leibgurt angeschnallt war. Sein scheinbar gemessener Bergschritt war aber so ausgiebig, daß ich als Junge stets etwas eilen und springen mußte, um an seiner Seite zu bleiben, wenn ich ihn bis nach Zweibrücken begleiten durfte. Das kam in meiner Jugend ein paarmal vor.

Von seinen Geschäften sprach der Vater nicht mit mir. Ich sollte kein Verlangen nach den Bildern der Welt bekommen. Dagegen sagte er wohl etwa: »Du wirst es einmal schöner und besser haben als ich. Du wirst dein Leben lang als Bauer im Selmatter Tal wohnen können.«

In Zweibrücken war Einkehr und Nachtquartier. Noch im Sternenschein am Morgen begab sich der Vater mit mir an die Balgenach, an deren Ufer die Selmatter Schieferwaren aufgestapelt lagen und die langen, schmalen Lastboote angebunden waren, die unter den Tafelbergen und Griffelballen fast in der brodelnden Strömung versanken. Es waren stets neugezimmerte Kähne, denn die, die einmal ins Niederland gefahren waren, wurden nicht wieder ins Hochland gebracht, sondern in Köln oder einer anderen Stadt, wo sie eben der Fracht ledig wurden, an die Schiffer verkauft.

Der Vater ergriff mit seiner knochigen Rechten meine Hand so fest, daß ich, wäre nicht die Scham gewesen, hätte aufschreien mögen. »Jost, Jost, vergiß das Beten nicht. Grüße die Mutter und folge ihr. Tue recht, sonst – wenn ich zu Ostern wieder komme.« – Eine nachdrücklich drohende Gebärde unterbrach seine Rede. »Und bleib gesund, Jost!« Unter den scharf vorgestellten Wimpern hervor umklammerten mich seine Blicke wie Zangen. Nach dem mehr eindringlichen als zärtlichen Abschied sprang er in eins der Boote; von den Schiffsknechten gelöst, wogten sie in die Strömung. Als ob er von der Heimat in stummem Gebet Abschied nehme, stand der Vater mit gezogenem Hut, das nackte, braune Gesicht gegen die Selmatter Berge gewendet; über den mit raschen Wellen wandernden Schiffen glühten die fernen Schneefelder und Firne im Frührot; ich aber blieb und sah den Davongleitenden in einer Stimmung nach, die mir beinahe die Tränen ins Auge drängte.

Ich wäre ums Leben gern wie der Vater Tafel- und Griffelhändler geworden, aber nicht einmal bis Gauenburg, der kleinen Hauptstadt unseres Ländchens, die zwei Stunden vorderhalb Zweibrücken gegen die Ebene hinaus gelegen ist, nahm er mich mit. Ich wagte es auch nicht, ihn darum zu bitten.

In fernen Rheinlanden hat der Vater in jungen Jahren meine Mutter, Ottilie Rheinberger, die Tochter schlichter Bauersleute, bei denen er Quartier zu nehmen pflegte, kennen gelernt. In den harten Bauernschädeln seiner Eltern aber saß der Glaube, ein Selmatter könne nur mit einer Selmatterin ein wahres Eheglück begründen, und sie wollten von der fremden Verlobten des Sohnes nichts wissen. Der überschäumende Kraftmensch aber geriet über die Halsstarrigkeit der Eltern in eine Wut, daß ihm Schulmeister Kaspar das Gewehr gewaltsam entreißen mußte, mit dem er seinem Leben ein Ende bereiten wollte. Mit den Eltern jäh brechend, führte der Vater seine Braut als Weib nach Selmatt.

Nun war meine Mutter eine sehr anmutige, junge Frau, aber im Dorfe verstand ihre fremdartige Sprache außer meinem Vater niemand; sie selber lernte Selmatter Deutsch nur radebrechen, und in den Bergen verlor ihr helles, liebes Lachen, das ihr zuerst doch die Herzen gewonnen hatte, seinen silbernen Ton. Die Trennung von der Heimat und den Ihrigen, der Tod der Eltern, die sie nicht mehr gesehen hatte, gingen ihr nahe, die himmelhohen Bergwände, das wilde Rauschen der Wasser, die schwerblütige knorrige Art des Selmatter Volkes bedrängten die an hellere Lebenstöne gewöhnte Seele, das junge Weib, das dem Vater mit viel guten Vorsätzen, mit Vertrauen und fröhlichem Mut in die harten, starren Berge gefolgt war, fand sich auf die Dauer in Selmatt nicht zurecht; sie war unter den Dörflern, die ihr nicht feindselig, aber verständnislos begegneten, die »Fremd«, ein verirrtes Kind, ein aus dem Nest gefallener Vogel. »Ich kann anfangen, was ich will, so ist's nach der Meinung der Selmatter nicht recht,« lächelte die Mutter, dabei aber traten ihr die Tränen in die warmen Augen.

Am meisten litt sie unter dem sonnenlosen Winter des Gebirgstales. Von Martini bis zur Lichtmeß verlor das wärmende Gestirn die Kraft, sich über die Gräte der Berge emporzuschwingen. Gelang es ihm zum erstenmal wieder, dann blickte die Sonne um elf Uhr Vormittags durch das »Lichtmeßloch«, ein großes, von der Natur selbst hoch über dem Alpwald in die Mauern der Berge gesprengtes Felsentor, gerade auf Helm und Turm der Selmatter Kirche. Sobald der kupferne Knopf der Turmspitze zu erfunkeln begann, rannten wir Jugend das Dorf entlang und riefen aus vollen Hälsen: »Lichtmeß, Lichtmeß – die Sonne ist da!« Und die Dörfler öffneten die Truhen und Banktröge und schenkten uns für die Freudenbotschaft ein paar Handvoll dürres Obst.

Dann war kein Weib so glücklich wie meine Mutter. Mit einem Lächeln des Erstaunens versetzte sie: »Es gibt also wirklich und wahrhaftig noch die liebe Sonne in diesem Tal! O, dafür sei Gott gedankt!« Sie erhob ihre kräftige, mittelgroße, hübsch gerundete Gestalt vom Sitz beim Spinnrad, trat an die niederen Stubenfenster, sah selber nach dem lichten Wunder an der Kirchturmspitze und streckte, wenn das Sonnenbündel in unsere Stube drang, die Hände in den golden erzitternden Strahl, als ob sie sich wärmen wolle. Ich verschlang ihr anmutiges Gesicht, in dem blühendes Wangenrot und ein feiner Zug heimlicher Schmerzen ernst und lieblich zusammenspielten.

Ihre heimlichen Leiden verbarg die Mutter vor mir und den Menschen in einer stillen Art, die ihr wohlgefällig stand; ich aber war ein törichter Junge. »Jost,« bat sie, »so sprich doch wieder einmal ein rheinländisch Wort! Du hast es als kleiner Knirps so hübsch geredet.« Weiß Gott aus welchem Bubeneigensinn versagte ich ihr widerspenstig und hartnäckig die kleine Freude und ließ mich durch ihren schmerzlich enttäuschten Blick nicht rühren. Wenn sie aber am Spinnrad selbstvergessen und mit verklärten Augen von ihrer Jugendheimat erzählte, dann saß ich, still horchend, stundenlang vor ihr auf dem Schemel, »Auf einem Felsen über dem Rhein steht bei der Kirche lindumschattet das spitzgiebelige Haus, in dem meine Eltern wohnten. Darauf hat der Storch sein Nest gebaut. Mit langgestreckten Beinen, einen Frosch im Schnabel, fliegt er über den Strom daher und füttert die Jungen. Vor dem Haus aber ist eine Laube, die im Herbst voll golden angelaufener Trauben hängt. Da saß ich mit meinen Schwestern stets am liebsten, da blickt es sich am schönsten auf den Strom. Auf dem Rhein ziehen mit lustigen, bunten Wimpeln die Schiffe, die großen und die kleinen, und Nachen wie Schwäne einher, und sonntäglich gekleidete Menschen grüßen und singen ihre Lieder, von Ufer zu Ufer widerhallen Sang und Klang.« So plauderte die Mutter.

Aus ihren Erzählungen erbauten sich die duftigen Bilder der Ferne, die mir der Vater vorenthielt, und kreuzten sich mit seinen Plänen und füllten den Kopf des zum Bauern und Älpler bestimmten Jungen mit wunderlichem Fremdweh und Weltdrang.

Die Mutter aber fühlte sich in Selmatt unglücklich, die Sonnenhaftigkeit ihres Wesens wich einer stillen klaglosen Ergebung, ihre volle Gestalt geriet schon früh in Zerfall, das schwere lichtbraune Haar verlor die üppige Fülle und ein müder, trauriger Zug nistete sich in das blühende Oval ihres Gesichtes. Verärgert und verbittert darüber, daß die harte Wirklichkeit des Lebens die redlichen Absichten seiner stürmischen Freierszeit, den aufregenden Kampf mit seinen Eltern ins Unrecht setzte, verknorrte sich das Gemüt meines Vaters, er wurde ein Kauz, dem es gelegentlich auf eine Ungerechtigkeit gegen mich oder die Mutter nicht ankam. Er verstand es nicht, sie durch Liebe und Güte heiterer zu stimmen, nur einmal im Jahr bereitete er ihr eine Herzfreude; das war, wenn er um die Osterzeit von seinem Handel heim nach Selmatt kehrte. Da brachte er ihr von den grüßenden Brüdern und Schwestern aus den Rheinlanden Blumensamen mit und die Mutter schmeichelte den Töpfen auf den Fenstergesimsen und den Beeten des kleinen Hausgartens während des kurzen Gebirgssommers eine Pracht von Levkojen und Nelken, von Rosen und Primeln ab, ein holdes Geranke, welches das Herzenstrauerspiel der »Fremd«, das sich unter unserem Dache begab, ein wenig bedeckte.

Nach einem kurzen Aufleuchten der Wiedersehensfreude fiel der Vater wieder in seine stille Mürrigkeit; ehe er aber die Bauernarbeit aufnahm, horchte er nach der Heimkehr das Dorf dahin aus, ob nicht durch Todesfall, Erbteilung oder andere Umstände ein wohlgelegenes Äckerchen, ein Stück Wiese oder Wald oder ein Alpenanteil für den Verkauf feil geworden sei, und legte, wenn sich die Gelegenheit gab, die Ersparnisse seines Handels im Erwerb sonnig fruchtbaren Grundes und Bodens an, um den es im Selmatter Tal etwas schmal bestellt war.

Als es ihm wieder einmal gelungen war, ein Bergäckerchen zu ergattern, fand im Gasthaus zur »Gemse«, dem einzigen in Selmatt, die Fertigung des Kaufes statt. Da der Wirt zugleich der Bäcker des Dorfes war, bei dem man, wenn die eigenen Vorräte nicht ausreichten, das Brot holte, so geriet ich mit Duglörli, dem Schulmeisters- und Nachbarskind, an diesem Tage auch in das Gasthaus. In guter Laune über den Kauf rief der Vater uns Kinder zu einem kleinen Vesperimbiß an den Tisch. Duglörli und ich saßen nun mitten unter einer Gesellschaft Selmatter Bauern, die schwarze Zipfelmützen auf dem Kopf und qualmende Pfeifen im Mundwinkel hängen hatten und beim Freitrunk, der den Abschluß des Kaufvertrags begleitete, sich lebhaft und angelegentlich über eine Menge Dinge des Dorflebens unterhielten.

»He Klaus,« hüstelte ein uns verwandter, alter Bauer meinen Vater etwas scheel zu, »was bist denn auf Land und Grund aus wie der Böse auf arme Seelen. Hätt' wohl ein anderer gern auch einmal ein Stück, kann's aber nicht erschwingen, weil du schon die Hand drauf hast!«

Der Vater zwinkerte mit den Augen überlegen. »Nun, Vettermann,« antwortete er etwas pfiffig und spöttisch, »vor ein paar Jahren hätt' ich's noch nicht gesagt, aber jetzt, da ich für meine Pläne bald Land, Wunn und Weid genug habe, darf ich dir und den anderen mein Spiel schon aufdecken. Der Selmatter Tafel- und Griffelhandel geht zugrund'! In anderen Ländern sind auch große Schieferbrüche aufgeschlossen worden, und die fremden Händler brechen mir nichts, dir nichts in die Griffelstriche ein, die bisher allein uns Selmattern gehört haben. Die Wahrheit! Sie liefern zum gleichen Preis wie wir die feiner und gleichmäßiger gekörnte Ware. Da fallen die ältesten, treusten Kunden ab. In Münster im Westfalenland hab' ich gegen zweitausend unverkaufte Tafeln liegen. Ja wenn es gelingen würde, im Bergwerk Lager zu entdecken, wie wir sie früher besessen haben, da käm' man mit Übelleiden schon wieder gegen die fremden Händler auf, aber der feinere Selmatter Schiefer ist erschöpft, der Handel ein Bettelmannsgeschäft. Und nun, Vettermann, folgt die Auflösung des Knopfes, warum ich von etlichen Jahren her allerlei Land aufgekauft habe. Mein Bub und ich müssen doch noch etwas umzutreiben haben, wenn mit Tafeln und Griffeln gar nichts mehr zu errackern ist.«

Das wuchtige Gesicht des Vaters blickte schlau und siegreich in den Kreis der Bauern, die ihm mit emporgereckten Hälsen zugehört hatten. In sichtlicher Bestürzung und mit offenen Mäulern saßen sie einen Augenblick mausestill da; zuerst fand der Vater Duglörlis, Schulmeister Kaspar, wieder das Wort. »Bist ja gar ein Schwarzmaler, Klaus,« sagte er mit herzlichem Vorwurf, »Selmatter Tafeln und Griffel kann man doch brauchen, so lange die Welt steht.« Zuversichtlich klang aber sein Wort nicht, und etwas verkniffenen Blicks weidete sich der Vater an der Ratlosigkeit der Selmatter, die wohl spürten oder wußten, daß in seiner Ansicht über den Rückgang des Schieferhandels ein stark Korn Wahrheit steckte.

Der alte Vettermann kratzte sich im Haar und hatte die Pfeife auf den Tisch gelegt. »Sapristi – Sapristi,« hob er an, »das wär ja wie ein halbes Todesurteil für unser Dorf. Zweihundertundvierzehn Köpfe sind wir in Selmatt, von Acker und Alpen können aber nicht ein halbes Hundert leben. Wenn's käm', wie Klaus sagt, helf' uns Gott. Ich möcht's aber nicht glauben!« »Jeder kann davon halten, was er will,« versetzte der Vater trocken. Nun begannen die anderen Bauern zu sprechen und ergingen sich in halben Befürchtungen. Da war aber ein frecher und verwilderter Bursche, der nicht zu der Gesellschaft gehörte, sondern, breit auf die Ellbogen gestützt, vor einem Glas Enzianbranntwein an einem anderen Tisch der Wirtsstube saß. Der rief laut und grell in das wiederauflebende Gespräch: »Was kümmert ihr euch um die Äcker, ihr Selmatter! Nur hellauf! Einmal stürzt doch der Tafelberg auf euere Köpfe, dann habt ihr alle Grund und Boden genug!« Er begleitete seine gottlose Rede mit einem wiehernden Lachen. »Was sagst?« riefen die Bauern. Drohende Fäuste erhoben sich. Da trank er sein Glas aus und ging. »O, das ist nur der Lotterkunz, der niederträchtige Vagabund,« versetzten einige, aber auf den Gesichtern der Bauern, die wie aus Stein gemeißelt waren, blieb der kreidebleiche Schrecken, und es wurde in der Stube so still, daß man hätte eine Fliege husten hören. Als aber die Bauern wieder zu sprechen anhoben, sagte der Gemeindeschreiber: »Es ist wohl nur der Lotterkunz, aber man sollte einmal in der Gemeindeversammlung darüber reden, ob der Tafelberg wirklich eine Gefahr für das Dorf ist. Das Gerücht munkelt sich nun doch einmal weit und breit herum.« Der Wettermann versetzte mit einem frommen Augenaufschlag und Seufzer: »Ich mein', was heut gesprochen wird, das sollte uns alle mehr zum Kirchenbesuch anhalten. In Not und Gefahr kann Gott allein uns Selmattern helfen.«

»Schon recht,« bemerkte mein Vater nachdenklich. »Gott ja – und gute Sperrhölzer! Scharfe Augen, was auf der Bodenalpe und im Bergwerk mit den Quellen und Wassern geht!« Dazu nickten ein paar Bauern; der Gemsenwirt aber, der breit und behäbig bei den Gästen stand, lachte gezwungen: »Nu, das wird ja gut! Wir werden also in ein paar Jahren ein Schieferwerk haben, das den Bürgern keinen gemeinsamen Nutzen mehr abwirft, in das man aber immer wieder dickstämmige Hölzer stellen und sperren muß, damit der Berg nur nicht aufs Dorf fällt.« –

Die Bauern redeten endlos; neben Duglörli sitzend war ich ganz Auge und Ohr für ihr Gespräch. Da beachtete aber der Vater, daß ich noch da war; barsch versetzte er: »Was braucht ein Bube länger, als nötig ist, im Wirtshaus zu bleiben und den Erwachsenen in den Mund zu spähen.« Ich lief eilends aus der »Gemse« auf den abendhellen Dorfweg, mit mir Duglörli. »Mein Gott, wie fürchte ich mich,« flüsterte das Mädchen und seufzte so komisch wie eine Erwachsene. Ohne Abschied rannte es zu seiner Mutter.

Ich aber hing dem Gehörten nach. Ich wußte jetzt, warum mich der Vater nicht wollte Griffel- und Tafelhändler werden lassen, warum er mich zum Bauern bestimmt hatte, und daß er ein gescheiter Mann war; aber das trat zurück vor dem ungeheueren Gedanken, daß das Schieferwerk, der Tafelberg, eine beständige Gefahr für das Dorf Selmatt sei. Er trug etwas Neues, Fremdes, Großes, Schweres in meinen Jugendtag.

Er war wohl auch das tiefstgreifende Erlebnis meiner Kindheit. Nein, tiefer griff ein paar Jahre später der Tod der Mutter. Lebt ihre Seele irgendwo auf einem fernen, lichten Stern, dann mag ihr die schweigende Nacht meinen Gruß bringen: Mutter, liebe Mutter, wie gerne würde dein Bub jetzt rheinländisch mit dir sprechen. Und dein Vaterhaus am Rhein, liebe Mutter, habe ich gesehen.

Ich habe den Schieber des Fensters geöffnet. Der Nachtwind fährt mir durch die Haare. Ich aber wiege mich in das linde Gefühl, gesegnete Hände würden leise meinen Scheitel streifen. – Mutterhände.


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