Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XVIII

Ein strahlender Sommermorgen ging über die Dächer Hamburgs. »Schlaf, Glörli, schlaf dich aus von Leid und Lust!« Ich küßte mein Lieb; im Traum lächelte sie und suchte mich, die Lider geschlossen, mit tastender Hand. Schlummertrunken küßte sie mir die Finger. Ein Segen auf den heutigen Weg! Unter der Tür blickte ich zurück. Ja, lächle im Traum, du armes Kind! Ich gehe, mir Arbeit, uns beiden Brot, Lebensluft, Glück und Sonne zu erkämpfen. Jost Wildi ist ein tüchtigerer Kopf, ein vornehmeres Herz, als Landammann und Rat daheim in den Bergen glauben. Der letzte Blutstropfen gehört nun seiner Liebe und seiner Pflicht.

Durch die Straßen der Stadt eilte, lärmte, hastete und läutete in vielen tausend Gestalten die frische Geschäftigkeit der Morgenstunden. Jeder und jede, die zwischen den langen, hohen Häuserzeilen liefen, hatten ihr Ziel, ihre Stätte, ihre Arbeit, ihre Pflicht, ihr Brot. In der großen Stadt, die so unendlich vieler Hände bedurfte, mußte es mir leicht fallen, auch das meine zu finden. Ich dachte selbstbewußt an die mannigfaltigen Kenntnisse, die ich mir im Geschäftshaus Balmer erworben hatte, sammelte die mir geeignet erscheinenden Stellenangebote der Hamburger Blätter und etlicher Agenturen, die gegen Entschädigung jungen Kaufleuten behilflich sind, begann die Stellenjagd und war überzeugt, daß ich ein kleines Glück für mich und Duglore finden werde.

Ich lief vom Morgen zum Abend, von Hohenfelde bis nach Altona, in die Menge von Häusern und Geschäften, die einer Hilfskraft bedurften, und hatte die Empfindung, daß der erste Eindruck, den die Kaufleute von mir erhielten, gut und gewinnend sei. Die Teilnahme erlosch aber, sobald ich auf ihre Fragen nach meinem Vorleben Auskunft gab. »Wir bedauern, für jemand, der bei der Firma Balmer entlassen worden ist, haben auch wir keinen Raum,« versetzten sie bedauernd. »Wenn Sie wenigstens ein Zeugnis des Hauses vorzuweisen hätten!« Oder die Leute sprachen: »Jost Wildi! Wo ist uns der Name in diesen Tagen begegnet?« Ich wagte es nicht, ihnen auf die Spur zu helfen; die sich aber selber an die Zeitungsberichte über den Spielerprozeß erinnerten, hatten die vorwurfsvolle Abweisung: »Wie dürfen Sie es nur wagen, sich bei uns zu melden? Glauben Sie, unser Haus sei für jeden vom Gericht Hergelaufenen gut genug?«

In unheimlicher Enttäuschung suchte ich am Abend Duglore auf. Es schien, als seien meine Hände im Fleiß der Weltstadt überflüssig, für mich darin weder Arbeit noch Verdienst. Sehnsüchtig empfing mich Duglore, die sich nicht getraut hatte, allein aus dem Hause in die Gassen der Stadt zu treten. Ein stummes, scheues Glück, das kaum die Augen aufzuschlagen wagte, schwebte um ihr Wesen. Im linden Sommerabend wurde ihr Mündchen allmählich beredt. »Ich verstehe mich selber nicht mehr, Jost,« lächelte sie, »wie ich gestern, als die Bauersleute aus der Heimat davonfuhren, über alle Grenzen hinaus erschrocken und hoffnungslos habe sein können. Heute habe ich nichts als die Freude bedacht, daß ich bei dir bin, Jost, und daß es keine Trennung mehr zwischen uns beiden gibt. Du wirst mich mit Gottes Hilfe gut führen!«

Ihre dunkeln, warmen Augen streiften mich, durch ihre Gestalt bebte die Wonne des Beisammenseins. Der Verzweiflungssturm war seliger Gläubigkeit gewichen.

Verminderter Hoffnung begab ich mich am Morgen wieder auf den harten Weg der Stellensuche. Er führte mich über manche Stätte, auf der ich mit Big gegangen war. Wie, wenn sie plötzlich meine Straße kreuzte! Nein, um Gottes willen nicht!

Duglore und Big! Unmöglich, zwischen den beiden Naturen einen Vergleich zu ziehen. Sie waren Gegensätze wie Tag und Nacht. Duglore glich dem Tag des Hochlandes, der klar und friedlich über die Tannengipfel geht und in Tälern und Höhen den schlichten, frommen Jubel der Blumen entfacht; Big glich der Nacht, in deren geheimnisvollem Schoß Sterne und Sonnen ruhen, der Nacht, die uns um so unergründlicher erscheint, je reicher sie sich mit Lichtern besteckt. Duglore war ein Wesen, in dessen Seele man hinabsah wie in den Grund eines kristallenen Bergwassers, Big aber war das Meer, in dem tief unten unter jedem forschenden Senkblei noch ein Geheimnis phosphoresziert.

Mein sicherer Weg, mein ruhiges Gewissen war Duglore!

Die Betrachtungen gingen in der Sorge des Tages unter. Ich sollte wieder mit dem niederschlagenden Gefühl zu der Harrenden zurückkehren, daß ich keine andere Arbeit als eine jener Stellen gefunden hätte, die entweder die Abgestumpftheit der Sinne von Jugend auf oder den Mut der Verzweiflung erfordern.

Ich lief an die Warenkaie, suchte die paar Bekannten auf, die mir aus der Zeit geblieben waren, da ich hin und wieder die Schuten und Leichter Balmers begleitet hatte, und traf am Binnenhafen Jürg Rungholt, den mir befreundeten Hamburger, der die Arbeiter und Speditionen einer kleinen Reederei beaufsichtigte. Als ich dem untersetzten Mann mit dem breiten, braunen Seemannsgesicht in kurzen Zügen mein Schicksal und meinen dringenden Wunsch nach Arbeit darlegte, erwiderte er gutmütig und verständnisvoll: »Ich habe oft gedacht, wie es Ihnen wohl gehe, Herr Wildi. Nun geht es Ihnen schlecht. Und die Braut hier. Schwerenot, da muß schon Arbeit her!« Er wurde über dieser Einsicht so lebendig, als es seine ruhige Natur gestattete, wandte sich an das Bureau seiner Reederei und trug mir nach einer halben Stunde eine Stelle als Hilfsheizer auf einem Schiff an, das Getreide ins Binnenland führte. Er schämte sich fast, mir den niedrigen Dienst anzubieten. Im Drang der Umstände aber frißt der Teufel Fliegen, ich war ausnahmsweise nicht der stolze Jost Wildi und erwiderte mit freundlichem Dank für seine Bemühung, ich wolle das Angebot mit meiner Verlobten besprechen.

»Bringen Sie mir den Entscheid morgen nachmittag mit Ihrer Braut in das Haus meines Schwagers, des Gärtners in Ottensen,« lud mich Rungholt ein. »Da fällt mir bei: in einem an die Gärtnerei anstoßenden, auf Abbruch bestimmten ehemaligen Bauernhaus könnten Sie mit Ihrer Verlobten billig wohnen. Mein Schwager und meine Schwester mögen Sie ja, und Ihrer Braut aus den Bergen wird es draußen im Grünen auch besser gefallen als in der Stadt.«

Die warme freundschaftliche Gesinnung Rungholts tat mir wohl, und als ich Duglore nicht ohne heimliche Bedenken von der Heizerstellung auf dem Getreideschiff sprach, freute mich die Verständigkeit, mit der sie mir den Vorschlag zu einer Arbeitsgelegenheit erwägen half. »Bitterlich langweilig werden mir ja die Tage deiner Abwesenheit schon werden,« flüsterte sie, »aber die Liebe wird mir darüber hinweghelfen.« Wir besuchten am Sonntag Morgen in einer der Hamburger Kirchen den Gottesdienst. Er stimmte Duglore ruhig und feierlich. Sie ließ sich namentlich von der Wahrnehmung ergreifen, daß von der frommen Gemeinde die gleichen Kirchenlieder wie in der Heimat gesungen wurden, und die Stadt des Nordens verlor dadurch etwas von der bitteren Fremde, mit der sie Duglore bisher beklemmt hatte. Auch der Nachmittag, den wir bei einem Trunk Bier in freundlicher Unterhaltung mit Rungholt und den Gärtnersleuten verbrachten, sprach sie ermutigend an.

»Wenn ich schon kaum ein Wort von der Sprache verstehe,« lächelte sie mir zu, »so merke ich doch an ihrem herzlichen Lachen, daß es gute Menschen sind!« Das Ende des schönen Sonntags war, daß wir künftig unser schlichtes, trauliches Heim in dem Bauernhaus hatten, das mit seiner grünen Umgebung wie eine Insel aus alter Zeit zwischen roten, neuen Backsteinwänden am Rand der Gärtnerei stand, daß Duglore Gehilfin bei den Gärtnersleuten und ich Heizer auf dem Warenschleppdampfer wurde.

Gewiß konnte der Dienst in der fast unerträglichen Hitze des Feuerraums eines Schiffes nur der Anfang, nur der Übergang in eine Stellung sein, die mich höher führte, aber nach bedenklichen Irrungen und Wirrungen hatte ich doch wieder den guten Grund ehrlicher Arbeit unter den Füßen und ein ehrliches Brot für mich und Duglore. Was verschlug es, daß mich vom Kohlenschaufeln und Schieben oft die Hände und Arme schmerzten, daß ich von dem Schweiß, der mir über das glühende Gesicht triefte, halb zum Skelett abgemagert, aus den Kleidern fiel. Den aufreibenden Dienst unterbrachen die glücklichen Tage, an denen unser Boot nach Hamburg zurückkehrte, an denen ich mit Duglore ein paar freie Stunden oder einen freien Abend verbringen durfte. Da fuhr mir die linde Hand der Geliebten tröstlich über die Stirn, und über dem Geplauder ihres Mündchens vergaß ich die Mühsale. »Ich beginne die Leute schon ein wenig zu verstehen,« erzählte sie, »sie sind mit meiner Arbeit zufrieden und begegnen mir lieb und freundlich. Ich habe heute den ganzen Tag Blumen geschnitten. Nun haben auch wir Blumen in unseren Zimmern. Ist das nicht eine wunderschöne Beschäftigung? Aber, Jost, wie habe ich mich auf deine Heimkehr gefreut!« Zag und zärtlich drängte sie sich an meine Brust und duldete mit gesenkten Wimpern meinen Kuß.

»Und das Heimweh nach den Bergen, Glörli?« fragte ich, ihr das Haar streichelnd.

»Ein wenig, ein wenig bleibt's,« gestand sie leise, »da ist nun nicht zu helfen. Gewiß kämpfe ich tapfer dagegen, Jost, aber wie du nun wieder drei Tage fortgewesen bist, da hat's mich übernommen. Ich habe Melchi Hangsteiner einen großen Brief geschrieben. Das habe ich doch tun dürfen, nicht wahr, Liebster?«

Nein, die Mitteilung war mir unangenehm; etwas spöttisch sagte ich: »In einem deiner Herzwinkel muß Melchi doch sehr weich gebettet sein!«

Duglore errötete. »Ich habe für Melchi gewiß nichts weiter übrig,« verteidigte sie sich, »als die große Achtung dafür, daß er sich wieder in Selmatt angesiedelt hat, als die Dankbarkeit, daß er die Stätte unserer Jugend, die Gräber unserer Eltern nicht den Hasen, Gemsen und Füchsen, Eulen und Adlern überläßt. Ich finde es so trostreich, daß jeden Abend wieder ein Licht im Tal von Selmatt brennt.«

»Laß gut sein, Duglore,« scherzte ich, »eigentlich sollte ja auch ich Melchi danken, daß er dir bei den Vorbereitungen für die Reise so selbstlos geholfen hat!«

»Gelt,« versetzte Duglore leuchtenden Auges, »und wir müssen doch stets jemand in der Heimat haben, der uns schreibt und berichtet, wie es in den Bergen steht und geht. Ohne jeden Zusammenhang mit der Erde, auf der man seine Jugend verlebt hat, kann ja doch niemand leben. Ich wenigstens nicht. Es ist gerade, als sei die Heimat noch sonniger, wenn man aus der Ferne daran denkt. Wie seh' ich doch im Selmatter Tal alles so klar und deutlich vor mir, jeden Baum und Strauch, der über die Selach hängt oder an den Bergen grünt. Bei meiner stillen Gartenarbeit ist mir oft, als klängen leise und fernher die untergegangenen Glocken des Dorfes durch die Luft, in Duft und Sonne stände die Gemeinde wieder auf, und alle unsere Lieben wandelten.«

Ich erschrak über den Glanz in den dunkeln, großen Augen, der jedesmal hervorbrach, wenn Duglore von der Heimat erzählte.

»Aber du willst doch nicht von mir fortgehen, Duglörli,« versetzte ich lind.

»Wo denkst hin, Jost?« lächelte sie mit einer schamvollen Liebkosung. »Ich habe es dir ja schon gesagt, daß meine Heimat jetzt bei dir ist. O, Jost, wenn wir nur bald das Geld beisammen hätten, damit wir ein Ehepaar werden könnten. Das ist meine stärkste Sehnsucht. Ich schäme mich so furchtbar.« –

Sie kam nicht weiter; sie begrub ihr Gesicht an meiner Schulter. »Törichtes Kind,« flüsterte ich liebeselig; sie aber stammelte in heiliger Verwirrung mädchenhafter Keuschheit: »Wenn es ein einziger Mensch wüßte, ich müßte sterben vor Scham.« »Duglore,« sagte ich, »morgen trete ich eine fünftägige Fahrt an. Sei mein geduldiges Kind. Wenn ich wiederkomme, dann, Duglore, kaufen wir uns Ringe, jedes dem anderen ein Liebesunterpfand. So viel verdienen wir doch mit unserer Arbeit, daß wir einander Ringe kaufen können.«

»Ja – ja – ja – was bist du für ein lieber Jost,« jubelte sie und fiel mir um den Hals. »O, wie will ich mich an dem Ring freuen und ihm Sorge tragen!«

Mir selber kürzte der Gedanke an den schönen Abend, den ich beim Ringkauf mit Duglore verleben würde, die langen Tage in Kohlenstaub und Feuersglut; nur dann und wann flog es wie heimliche Sorge durch meine Sinne, daß mein künftiges Weib stets und gar so stark in Heimatbildern lebte. Vielleicht kämpfte die Ärmste schmerzlicher und tapferer, als ich wußte, als sie mir verriet; vielleicht gehörte sie doch zu den Frauen, die, wie meine Mutter, nie Wurzeln des Gemüts in der Fremde fassen. In zärtlichem Kummer dachte ich an lauter Liebes, mit dem ich mein Bergkind umgeben und umspinnen wollte, und nahm fast bei jeder Landung die Gelegenheit wahr, ihr einen Gruß und ein Lebenszeichen zu senden.

Eine qualvolle Unruhe aber begleitete mich wegen Big. Ich hatte ihr mein Bild versprochen, konnte es aber aus innerem Widerstand nicht absenden, denn jedes Gedenken für sie erschien mir wie ein Verbrechen an Duglore. Ich konnte es nicht.

Von meiner ersten größeren Fahrt eilte ich um so freudiger nach der Gärtnerei von Ottensen, als mir Rungholt bei meiner Ankunft am Kai gesagt hatte, er wüßte für mich eine Schreiberstelle, die in vier Wochen frei werde, da der jetzige Inhaber zum Militär abgehe. Ich wäre ja beinahe umgekommen, wenn ich längere Zeit hätte Heizer bleiben müssen. Und nun ein schöner glücklicher Abend!

Als ich aber in die Gärtnerei kam, trat mir Duglore mit mattem, wankendem Schritt entgegen; ihre Stimme klang angstvoll, und wir waren kaum unter vier Augen, als ihre Tränen unaufhaltsam Hervorbrachen. »O, Jost, mir ist sterbensweh!« Willenlos ließ sie sich meine Liebkosungen gefallen. »Aber was hat's denn nur gegeben, Duglore, was schaust du nur so jammervoll?« drang ich in ihr zerstörtes Wesen. Es dauerte lange, lange, bis ich sie zum Sprechen brachte. »Ein Brief Melchis,« stammelte sie endlich. »Darf ich ihn lesen?« bat ich. Sie zog das zerknitterte Papier zögernd aus der Tasche; mit steigender Entrüstung und in wilden Schmerzen durchging ich es. »Liebe Duglore,« lautete das fehlerhafte Schreiben. »Ich habe erwartet, du würdest schnell wieder daheim sein. Daß du nicht gekommen bist, finde ich erstaunenswert. Auch deinen Brief! Hierzulande spricht man viel von Jost, aber nichts Gutes. Ich war vorgestern wegen der Abrechnung des Hausbaus in Gauenburg. Auch hab' ich noch manches haben müssen an Gerät. Da habe ich schon in Zweibrücken im Wirtshaus gehört, Jost sitze im Käfig, weil er mit falschen Würfeln gespielt habe.«

»Die Verleumder, die elenden!« schrie ich. Duglore, die, das Gesicht in die Hände begraben, wie ein Häuflein Unglück am Tisch saß, wimmerte und stöhnte leise: »Das andere, das andere tut weher!« Ich las, und der Brief zitterte in meinen Händen: »Bei der Rechnung haben der Landammann und die Räte auch von Jost geredet. Sie haben gesagt, wegen der falschen Würfel sei Jost gnädig mit einem blauen Aug' davongekommen, aber er habe sonst noch Streiche gemacht, daß ihn Hans Konrad Balmer im Geschäft nicht mehr hat brauchen können. Er ist in einem Luftballon gefahren und hat eine bei sich gehabt. Von der hat der Landammann gesagt, es sei wohl eine Saubere! Er besitzt die Zeitung, in der es steht. Jost hat also eine andere, und das ist es, warum ich mich über deinen Brief verwundere. Die Räte haben wollen, daß er heimkomme, aber aus bösem Gewissen ist er nicht gekommen. Wenn er jetzt käme, ginge es ihm schlecht; die Räte spaßen nicht, wenn einer widersetzlich ist. Darum will er mit dir nach Amerika. Ich habe gedacht, ich verrate es nicht, daß du zu ihm gereist bist; denn du sollst wegen Jost nicht auch noch in ein schlechtes Licht kommen. Zeige ihm den Brief nicht! Aber dir habe ich alles geschrieben, damit du dich noch einmal besinnen kannst und ihm nicht blind glaubst, was er dir angibt. Stürze dich doch nicht ins Unglück, Duglore!«

»Melchi ist ein Schuft!« fuhr ich auf. »Was braucht der Gift in unsere Liebe zu mischen?«

»O Jost,« wimmerte Duglore erbarmungswürdig. »Melchi hat gewiß aus ehrlicher Seele geschrieben. Das Entsetzliche ist nicht der Brief, sondern daß du wirklich eine Weile mit einer anderen gegangen bist. Das brennt wie das Feuer, das schmerzt. Jost – Jost – Jost, ich kann ja kaum mehr leben. Ich muß dir die Wahrheit sagen. Ich habe an dem Abend, an dem der unglückselige Brief kam, die Hände nach dir ausgestreckt. Mir war, aus der Ferne solltest du mir zurufen: ›Das Gerede von der anderen ist nicht wahr!‹ Als ich deine Schlüssel in meiner Tasche spürte, habe ich es nicht mehr ausgehalten, ich ging in dein Zimmer hinüber. Ich dachte, das furchtbare Leid würde schon kleiner und ein wenig weichen, wenn ich nur mein Gesicht an deine Kleider hindrängen könnte. Da fand ich unter dem Deckel des Kirchengesangbuches, das ich dir in Selmatt gegeben habe, die kleine Photographie, auf der steht: ›Abigail Dare ihrem Jost Wildi!‹ – O, das ist hart, Jost. Das ist hart!«

Duglores Worte verloren sich in Schluchzer, mir selber war grauenvoll zu Mute!

Ich hatte zu ihr nie von Abigail Dare gesprochen und gehofft, dieser Kelch würde an meinem armen Kinde vorübergehen.

Noch starrte ich. Da hörte ich vor der Tür die Stimme der Gärtnersfrau sprechen: »Herr Wildi ist drinnen, Jürg, bei seiner Braut.« Rungholt fragte also nach mir. Nein, er durfte meine leidvolle Duglore nicht sehen; ich ging hinaus und bat ihn auf mein Zimmer. »Nicht einmal nötig,« sagte er, »aber ich muß Ihnen leider einen Bericht bringen, der Ihnen und Fräulein Imobersteg unangenehm ist, weil er sie der zwei freien Tage beraubt, die Ihnen bevorstanden. Sie sollen morgen von acht Uhr an den Dienst auf einem Schiff versehen, das für die Fahrt nach Holland gerüstet ist. Es handelt sich um eine Abwesenheit von zehn Tagen!« – Nur jetzt nicht von Duglore fort, war mein erstes Empfinden; aber Rungholt drang in mich und sagte: »Ich würde Ihre Zusage wie eine Gefälligkeit nehmen, die Sie mir selber erweisen. Ein paar unserer Leute sind krank oder sonst vom Dienst abgehalten; wir befinden uns in schwerer Verlegenheit!« Duglore erschrak mit mir über die Nachricht, versetzte aber: »Sag nur zu, Jost! Es wäre ein Unrecht, wenn wir Rungholt nicht liebevoll entgegenkämen; er ist ein so wohlwollender, guter Mensch.«

Wir begaben uns an diesem Abend noch in die Stadt und kauften die Ringe; von dem Glück aber, das wir uns ausgedacht hatten, war nichts dabei. Ich verzehrte mich in grenzenlosen Selbstvorwürfen und Duglore klammerte sich in einer wehen Zärtlichkeit an mich. »O Jost, es ist eben gekommen, wie ich dir damals in Zweibrücken gesagt habe. Du bist schön und gefällst den Frauen und hast selber dein heißes Wildleutblut. O, es wäre wohl besser gewesen, ich wäre in der Heimat geblieben; aber zurück kann ich jetzt nicht. Du hast mich doch lieber als die andere? Ich kann dich ja nicht lassen. Nicht wahr, Jost, wir gehen bald nach Amerika?«

Eng aneinandergeschmiegt, wandelten wir in der Menge der Menschen, die der linde Sommerabend ins Freie gelockt hatte, und was Gutes in meiner Seele war, flüsterte ich Duglore zu. Da – wer ging im feierabendlichen Volk? – Big! Die Augen unverwandt auf uns gerichtet, schien sie uns schon eine Weile bald vor-, bald nachgegangen zu sein. Sie war so schlicht gekleidet, wie ich sie noch nie gesehen hatte, fast wie ein Mädchen aus dem Volk. Ihr Gesicht trug einen leidenden und unruhvollen Zug. Die blauen Augen aber hingen an mir. Mir war, sie riefen mir zu: »Das Bild – das Bild!« Ein lähmender Schreck bemächtigte sich meiner. Ich nickte Big wie aus innerem Zwang, wie aus einer Herzensbitte, sie möchte doch gehen, stumm zu.

In diesem Augenblick hatte auch Duglore Big erspäht. Jäh zusammenfahrend, flüsterte sie mit entsetztem Blick: »Das ist sie, Jost! Das ist sie! Was will sie noch von dir!«

Big war verschwunden! – Ich hätte sie wegen dieser Begegnung verfluchen können, Duglore aber, die wie zerschlagen an mir hing, sagte tonlos: »Sie liebt dich, sie liebt dich rasend. Deswegen hat sie keinen Blick von dir wenden können. Ich fürchte sie gräßlich.« Sie zitterte wie ein Espenlaub; mit Mühe und Not brachte ich sie in die Gärtnerei nach Ottensen zurück. Da saß sie weh verträumt, die Gestalt weit vorgebogen, die Hände im Schoß gefaltet, im Abendschein am Fenster, ein Bild wie damals, als wir vor dem Bauernhaus in Zweibrücken vom Abschied und von meiner Reise nach Hamburg sprachen.

»Sie liebt dich rasend,« wiederholte sie stammelnd, »aber ich kann ihr den Platz nicht räumen, ich kann es nicht, Jost.« Ihre Stimme klang wie ein zerbrochenes Glöckchen. »Wie schwer, es dir zu sagen! Mir ist, ich würde Mutter! Nein, so bestimmt weiß ich es noch nicht, es ist mir nur wie eine Ahnung. Mein Jost, verlasse mich nicht!« Das Haupt an meiner Brust geborgen, flüsterte sie es tonlos; über dem Wort aber entstand eine so mächtige Bewegung in uns beiden, daß wir doch wieder eines Herzens und einer Seele wurden. Big Dare vergaßen und einige Stunden reinen Glückes genossen.

Es war mir eine furchtbare Pflicht, Duglore schon am Morgen zu verlassen und den zehntägigen Dienst anzutreten. Ich spürte, daß sie nach dem verleumderischen Brief Melchis und der bedenklichen stummen Begegnung mit Big die stärkende Kraft meiner Nähe nötig gehabt hätte. Sie sah, wie schwer mir im jungen Tag das Scheiden fiel; sie begleitete mich durch den erfrischenden Morgensprühregen, der dem weichen Abend gefolgt war, zum Kai, an dem mein Dampfboot lag, und wir trösteten uns mit der Zuversicht, daß es eine der letzten Fahrten sei, die mich von ihr hinwegreiße, und daß die Schreiberstellung diese schmerzlichen Trennungen nicht mehr bringen werde. Sie konnte ihre Hand fast nicht aus der meinen lassen; auch ich zögerte, bis mich der Maschinist in den Schiffsraum zu rufen kam, und es die höchste Zeit zur Arbeit war.

Ich stieg schon die schmale eiserne Leiter zu den Kesseln hinab, da mußte ich den Kopf noch einmal durch das Tagloch heben, um nach Duglore zu sehen, um ihr noch einmal rasch zu winken. In ihrem Reisefilzhut und grauen Reisemantel stand sie blaß und versonnen am Ufer. Ein Winken – ein Lächeln – ein Blick der Liebe, der Treue, der Ermutigung – die kleine schwarze Hölle des Dampfers hatte mich aufgenommen.

Der schmutzige Dienst in heißer Luft, vor den feurigen, unersättlichen Rachen der Öfen, unter ein paar schwarzen Teufeln, die aus der Hefe des Volkes kamen und die Zeit mit gemeinen Reden kürzten, fiel mir saurer als je; mit jeder Stunde, die das Schiff weiterglitt, wuchs das Heimweh nach Duglore. In Rotterdam, wo das Boot zum ersten Male anlegte, schrieb ich ihr einen herzlich warmen Brief. Zugleich erledigte ich mich des Versprechens gegen Big Dare, ihr mein Bild und ein liebes Wort ewigen Lebewohls zu senden. Ich schrieb die Zeilen mit widerstrebender Seele, nur um nicht wortbrüchig zu werden und um die Freundschaft und kurze Liebe, die uns verbunden hatte, in Ehren zu beschließen, und atmete auf, als ich Bild und Briefchen zur Post gegeben hatte.

Ich begriff, daß Big mein künftiges Weib einmal hatte sehen wollen; nun aber mochte um Gottes willen auch sie fassen, daß unser Liebestraum zu Ende sei, und mir und Duglore nie mehr in den Weg treten. Gewiß, wie leidenschaftlich lieb mich Big gewonnen hatte, sie war zu edel, zu vornehm, um der Störenfried zwischen mir und derjenigen zu werden, die ältere, stärkere Rechte auf mein Herz besaß als sie. Was aber hielt sie nach unserer jähen Trennung noch in Hamburg zurück? Warum hatte sie nicht bereits jene Reise nach Mexiko angetreten, die sie so bestimmt in Aussicht genommen hatte? O, daß sie endlich ginge! Sie dauerte mich innig; ein liebevolles, reines Gedenken und die Bitte zu Gott, daß ihr ein schönes, reiches Leben beschieden sei, sollten die Märchengestalt begleiten, die blendend in meinen Schicksalskreis hineingetreten war. Jede Faser meiner Seele aber gehörte jetzt Duglore.

In meine freien Stunden in Rotterdam, der alten malerischen Stadt, zu der der Rhein die Grüße des Hochlandes herniederträgt, fiel eine große Widerwärtigkeit. Der Dampfer erhielt den telegraphischen Befehl, mehrere Städte anzulaufen, die bei unserer Abreise nicht als Halte vorgesehen waren. Wohl wurde Duglore davon unterrichtet – das besorgte Rungholt – aber das Wiedersehen verzögerte sich um noch einmal zehn Tage. Ich eilte von jedem Hafen, in dem unser Boot anlegte, auf die Post, um zu fragen, ob nicht ein Brief von Duglore für mich daliege. Kein Lebenszeichen! Eine wilde Unruhe überkam mich; in die Seekrankheit, die mich ergriff, mischte sich ein Fieber. Ich konnte auf der Heimfahrt meinen Dienst nicht mehr versehen und begann Schiff und Meer wie das Grauen zu hassen. Mir war, ich würde Hamburg und Duglore nicht mehr erleben. Endlich fuhr der Dampfer in einer Morgenfrühe ins Elbewasser; es dämmerte das niedere Land empor und nach einigen schleichenden Stunden kamen wir in Hamburg an. Als ich das Boot verließ, taumelte ich vor Fieber und Schwäche. Am Kai trat mir mein Freund Rungholt entgegen. Seine blauen Augen ermaßen mein schlechtes Aussehen. Ich aber fragte stürmisch: »Wie geht es meiner Braut? Ist sie wohl?«

Mit einer eigenartigen Gebärde des Bedauerns schüttelte Rungholt den dicken Kopf. »Sie wissen es noch nicht?« versetzte er verlegen. Ich starrte ihn schrecklich an. »Haben Sie mit Fräulein Imobersteg nicht einen Streit an jenem Abend gehabt, als ich wegen der Fahrt zu Ihnen kam? Meine Schwester glaubte es,« versetzte er in einer Ruhe, die mich empörte. »Nein, aber sprechen Sie doch!« schrie ich vor Ungeduld. »Ist meine Braut krank?« Er stemmte die Arme in die Hüfte und nickte: »Es war so etwas, Schwerenot! Das Fräulein wohnt nicht mehr bei meinem Schwager und meiner Schwester. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht.« »In welches?« drängte ich in furchtbarer Angst. »Sie ist nicht mehr dort,« fuhr Rungholt fort. »Warten Sie – es ist neun Tage her!« »Ist sie gestorben?« unterbrach ich ihn von Angst gemartert. Er schüttelte den Kopf. »Nein! Als meine Schwester sie besuchen wollte, war sie schon in die Heimat abgereist. Heimweh! Das war die Krankheit. Nicht alle ertragen die Fremde. Irgend ein Mann, ein Verwandter, hat sie vor nun drei Tagen geholt!«

Durch die große norddeutsche Ruhe Rungholts bebte die tiefe, verhaltene Teilnahme. Ich war keines Wortes mächtig, dumpf und stumpf hörte ich, was er sprach, zuletzt tönte mir sein Wort nur noch sinn- und seelenlos ins Ohr. Ich spürte noch den kalten Schweiß auf der Stirn, daß mich die Kraft verließ und wie mich Rungholt mit starkem Arm zu halten begann.

Als ich wieder zu Sinnen kam, lag ich selber, ein Schwerkranker, im Spital.


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