Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XVI

»Der Tag des Gerichts!« Eine gute Überschrift. Ich habe an diesem Tage das Wehen des Schicksals gespürt.

Als ich von Big nach Hause kam, fand ich einen ungewöhnlich großen, mit Amtssiegeln versehenen Brief aus der Heimat. Auf meinem schon gepackten Koffer sitzend, schnitt ich den Umschlag auf. Gutes Papier! Landammann und Landrat schrieben mir. Wie von einer Schlange gebissen, fuhr ich empor. »Oho! Was hat denn Balmer für Bosheiten über mich berichtet? Was? Liederlicher Lebenswandel steht da! Schwindelabenteuer! – Schlechtes Frauenzimmer! – Intimer Verkehr in einer Verbindung von Falschspielern! – Den guten Ruf des Landes schädigen! Was? Landammann und Rat verfügen: ›Jost Wildi hat sich innerhalb drei Tagen nach erledigtem Gerichtsfall den Landesbehörden auf dem Rathaus in Gauenburg zu stellen unter Androhung, daß im Weigerungsfälle seine polizeiliche Heimschaffung von Hamburg durch die Vermittlung des Herrn Konrad Balmer nachgesucht und eingeleitet würde. Damit Mangel an Reisegeld keine Ausrede des Nichterscheinens bilden kann, ist Hans Konrad Balmer gebeten, Wildi auf Landeskosten eine Karte dritter Klasse in die Heimat zu verabfolgen. Wildi ist nach seiner Heimkehr unter Vormundschaft zu stellen, die bei gutem Verhalten später, doch nicht vor einem Jahre, wieder aufgehoben werden soll.‹« Dazu schrieb der Landammann, meinen tiefen Fall beklagend, ich solle den guten Funken in meinem Herzen beweisen, indem ich mich den wohlerwogenen Beschlüssen des Rates füge.

»Das mir, Jost Wildi!« Ich nahm den Brief des Landammanns und das amtliche Schreiben, zerriß sie, schleuderte die Fetzen zu Boden, und als ich auf einer saubergezackten Papierunterlage das Staatssiegel meines Heimatlandes mit der aufgehenden Sonne, der Bergtanne und der Hellebarde alter Schlacht liegen sah, trat ich mit dem Fußabsatze darauf, daß der Lack in Sand zersplitterte. In meinem Herzen aber raschelte etwas und zermürbte wie das Papier in meinen Händen und das Siegel unter meinen Füßen. In meiner Brust fraß etwas wie Gift. War ich denn ein Landstreicher, ein Schwindler, ein Schelm? Hatte ich mich bei Balmer nicht wie ein Tagelöhner gerackert, am Abend gelernt bis in die tiefe Nacht? Was wollten dagegen ein paar Ausschweifungen des jungen Blutes sagen. Ich hatte doch mein ernstes Ziel nie aus den Augen verloren. Nein, der Mann, den ich da im Spiegel erblickte, der war wohl totenblaß, aber der besaß eine Lebensstärke, die ihn nie untergehen ließ.

Ich sammelte die Papierfetzen und hob sie sorgfältig auf. »Damit du an die tödliche Beleidigung denkst; damit du nie wieder das Heimweh bekommst!« Aus vielen dunkeln Wallungen trat nur ein Gedanke klar hervor: In die Heimat, die dich beleidigt hat, gehst du nicht! – Nie wieder! Ein innerer Drang erfaßte mich, den Entschluß durch irgend eine Handlung zu bestätigen, festzulegen. Ich griff zur Feder und schrieb an Landammann und Rat in Gauenburg: »Ich bitte, mich nicht zu erwarten! Darüber dürfen Sie am glücklichsten sein. Käme ich, so wäre mein Erstes, Sie zu Tal und Berg, durch das ganze Land und bei allem Volk eines unerhörten Ehrenraubes anzuklagen, rastlos würde ich Rechenschaft von Ihnen fordern, bis mir mein Recht würde. Ich komme also nicht! Balmer aber mag es in der Todesstunde verantworten, daß er durch seinen Brief an Sie, Herr Landammann und Rate, aus dem eiteln Bedürfnis, groß und rein in seiner Heimat dazustehen, einen sittlichen Totschlag an mir zu verüben versucht hat. Zu stolz zu einem Wort der Verteidigung, aber zum Kampf gegen jede Vergewaltigung bereit – Jost Wildi!«

Ich stürmte mit dem Briefe hinaus in die Nacht; am liebsten hätte ich Balmer aus dem Schlafe geschellt und ihm zugerufen: »Abgrund! So wenig ist dir Menschenglück?« Furchtbare Abrechnung hätte ich gern mit ihm gehalten. Dann wandten sich meine Gedanken zu Big. In verführerischem Glanze stand ihr Bild vor mir. Ein Wort – und mit einem Schlage war diese vornehme, stolze Seele mein, mit ihr das Glück der Welt! Nein, das nicht, das nicht! Ich sah das Märtyrergesichtchen Duglörlis, den Jammer in ihren dunkeln Augen. Ich begann das Liebesgestammel, die glühenden Küsse, die ich am Heckenrosenstrauch mit Big getauscht hatte, qualvoll zu bereuen. »Ich ginge am liebsten mit dir!« Eine Stimmungswahrheit des verwirrten Augenblicks, mehr nicht! Nur Duglore nicht lassen. Mit der Treue zu ihr stand und fiel alle Achtung vor mir selbst, das Recht, daß es mir nach diesen Stürmen im Leben wieder wohlergehe. Aber wie Duglore erreichen, da ich entschlossen war, nicht in die Heimat zurückzukehren?

Gibt es wirklich Ahnungen, Seelenverbindungen über weite Länder hin? In einer Art Hellseherei wußte ich, daß Duglore mich suchte in dieser Nacht, daß all ihr Wesen mir näher war als sonst. Es war wohl doch nur eine Vorspieglung der erregten Sinne, der Selbstvorwürfe darüber, daß ich die Liebe meiner Jugend, seitdem ich mit Big ging, schrecklich im Stich gelassen und verraten hatte.

Am Morgen schritt ich nach dem Justizgebäude am Holstentor, um meine Zeugenpflicht in dem Falschspielerprozeß zu erfüllen. Auf dem schweren Gang atmete ich die frische Luft in tiefen Zügen, sie tat meinem verknäuelten Kopfe wohl; als mich aber der Amtsdiener in das Zeugenzimmer wies, da wurde mir beinahe übel. Eine furchtbar abstoßende Gesellschaft verlebter junger und alter Männer, geschminkter Damen, ein paar Bekannte, die frech zu mir herübergrüßten, auf vielen Gesichtern etwas wie ein stiller Hohn, daß ich mit meiner frischen Mannesjugend mitten unter ihnen sei! Von Zeit zu Zeit wurden ein oder zwei Zeugen gerufen und ins Verhandlungszimmer geführt. Nur ich nicht. Unter dem Blick eines auf und ab schreitenden Schutzmannes gingen die Stunden entsetzlich langsam dahin. Denken! Aber jeder Gedanke, den man in diesem Räume und in dieser Gesellschaft dachte, besudelte sich selbst. Wie um Schutz zu suchen gegen den Luftkreis, der mich umgab, griff ich nach den beiden Briefen Duglores, die ich erhalten, aber bisher in dumpfer Befangenheit zu öffnen versäumt hatte, über den Neuigkeiten, die sie enthielten, vergaß ich fast augenblicklich die Gesellschaft um mich her.

»Inniggeliebter Jost,« schrieb die Ärmste, »ich bin in Todesnot um dich. Dein letzter Brief war rasch abgebrochen. Du sagtest, du seist unwohl. Seither habe ich kein Wort mehr von dir gehört. Nun muß ich glauben, du seist schwer krank, lieber Jost! Daß du mir aber nicht durch jemand anders hast schreiben lassen, das nimmt mich wunder. Ich vergehe fast in schweren Träumen und Angstmattigkeit. Was soll ich anfangen ohne Trost? Ich bin von der Familie Z'binden gegangen; es war allen leid und doch nötig. In Liebe und Frieden haben sie mich ziehen lassen, und Herr Z'binden hat mir ein Schönes an eine künftige Aussteuer gegeben. Ich habe mich nach Zweibrücken zu den freundlichen Bauersleuten gewandt, wie du mir in deinem Briefe rietest. Sie haben aber Hände genug und brauchen niemand in ihrem Dienst; nur haben sie gesagt, ich könne wohl bei ihnen bleiben, bis ich eine Stelle fände, die mir gelegen sei.

Lieber Jost! Sie haben auch nach dir gefragt. Als ich von dir erzählte, kam mir in lauter schwerem Leid der Gedanke, ich wolle nach Selmatt gehen, wo wir glückliche Kinder gewesen sind. In der großen Stille des Weges und im Gebet für dich bin ich ruhig geworden. Mir war, der liebe Gott rede zu mir und gäbe mir den Entschluß ein, daß ich mich aufmache auf die Reise, dich suche in der fernen Stadt, und wenn du krank bist, armer Jost, dich mit meinen Händen pflege, bis du wieder gesund wirst. Daß ich dann mit dir rede, was werden soll mit unserer Liebe.« –

Ich wurde unruhig. Duglore nach Hamburg! Diese Torheit war ja nicht auszudenken.

Der Brief ging weiter: »Ich habe dir schon geschrieben, lieber Jost, daß Melchi Hangsteiner ein Haus zu bauen angefangen hat in Selmatt, und daß ihm der Landrat das Geld gegeben hat zum Bauen. Du weißt, daß ich zuerst gesagt habe, man sollte in Selmatt wieder bauen. Ich habe gemeint, wir! Nun aber hat es Melchi getan. Es ist ein ganz aus Holz gezimmertes Haus und hat Scheune und Stall, und die Fenster schauen frohmütig nach dem Lichtmeßloch. Darin lebt Melchi mit einem Knechtlein, drei Kühen und einem Rind. Ich habe bei ihm zu Mittag gegessen. Und da wir doch allzeit gute Jugendkameraden gewesen sind, habe ich ihn gefragt, was er meinen würde, wenn ich dich suchen ginge. Er hat es mir aber furchtbar abgeraten. Er hat gesagt, es wäre schade für das viele, schöne Geld, das die Reise kostet; sie sei auch gefährlich für mich allein! Und er hat sonst mancherlei Windiges gesagt, um mich von dir abspenstig zu machen. Hat's aber nicht tun können, und bald habe ich gemerkt, daß er nur einer Maus den Speck legen will. Melchi hätte selber gern eine Frau ins Haus. Er hat mich gemeint. Der Tor! Als ob er nicht von früher wüßte, daß ich nur an dir hange. Ich ging um drei Uhr wieder von Selmatt fort. Nachdem ich ein gut Stück Weg ein schweres Herz gehabt hatte von wegen Melchis Worten, du seist gewiß gesund wie ein Fisch in der Selach und schreibest nur aus Lieblosigkeit nicht, kam ich doch wieder mit mir ins reine. Gewiß ist es schade für das Geld; es wäre eine schöne Nachhilfe für meine Aussteuer. Aber, frage ich, was soll mir irdisches Gut, wenn ich nicht den Frieden der Seele habe? Also, lieber Jost, habe ich zwischen Selmatt und Zweibrücken beschlossen, daß ich dir diesen ernsten Brief schreiben wolle. O, lieber Jost! Ob du krank bist oder nicht krank, schreibe mir! Hättest du es gern oder ungern, wenn ich nach Hamburg käme? Und kommt kein Brief von dir, so denke ich, du seist schwer krank. Dann hast du wohl meine liebende Hand nötig. Und alles sollst du meiner großen Unruhe zugute halten, die mich umhertreibt in einem fort.« Tränenspuren lagen auf den Worten: »In unverbrüchlicher Liebe und Treue! Dein Duglörli.«

Ich geriet in eine so mächtige Bewegung, daß ich des Ortes, an dem ich war, vergaß und von der Bank aufsprang. Das erweckte den Verdacht des Schutzmanns, der über die sich leise und frech unterhaltenden Zeugen Wache hielt. Er trat auf mich zu, winkte mit dem Finger, nahm den Brief und überflog ein paar Zeilen; als er aber sah, daß sie nur den Notschrei eines gequälten Mädchenherzens enthielten, gab er ihn mir ebenso stumm zurück, wie er ihn entgegengenommen hatte. In diesem Augenblick rief der Gerichtsdiener unter der Tür: »Zeuge Wildi!« Endlich! Ein Sieden und Rieseln in der Brust, aber meiner Pflicht klar, folgte ich ihm in den Verhandlungssaal vor die Richter. Auf der Anklagebank saßen der dicke, hünenhafte Wirt, mein schmächtiger Leglu, ein ehemaliger Schiffskapitän mit einer roten Knollennase und ein paar andere, die ich nicht kannte. Unvergänglich prägte sich mir das traurige Bild in die Seele, der Verlauf meines Verhörs aber bot nichts Besonderes. Ich hatte noch einmal zu erzählen, wie ich in die Gesellschaft geraten sei. Ein Gewirre von Kreuz- und Querfragen brach über mich herein. Die Stunde vor den Richtern erschöpfte mich wie eine Last, die ich auf einen Berg zu tragen hätte; als mir aber eben schwarz vor den Augen werden wollte, kam nach einer scharfen Ermahnung des Staatsanwaltes, mich nie mehr in so schlechter Gesellschaft blicken zu lassen, das befreiende Wort: »Zeuge Wildi! Sie sind entlassen!«

Die Ermahnung war überflüssig. Aus dem Justizgebäude trug ich den Gedanken fort: Nur nie wieder vor Gericht! In Luft und Licht der freien Umgebung des Palastes, in dem so viel Elend zusammenkommt, genoß ich einen Herzschlag lang das beseligende Gefühl, daß die seit Wochen gefürchtete Stunde hinter mir liege; im nächsten Augenblick aber dachte ich schon an den zweiten Brief Duglores. Was enthielt er? Sie wird doch um Gottes willen von ihrem törichten Vorhaben, zu mir zu reisen, abgestanden sein! Ich lief in die prächtigen Anlagen, die sich gegen die Elbe hinunterziehen, und spähte nach einem vor den zahlreichen Spaziergängern geschützten Plätzchen. Ich fand es in grünem Baumwerk, das einen Teich umgab, hatte mich aber erst auf die Bank gesetzt, als hinter mir schalkhaft eine Stimme lachte: »Guten Tag, Jost Wildi! Natürlich hat mich der Herr nicht gesehen, zum Glück aber ich ihn! Wie ist's denn gegangen, gut? Der Kopf sitzt ja noch ganz hübsch zwischen den Schultern.« Big neigte sich zum Gruß zu mir, und in einer seinen Liebkosung streifte ihre Wange die meine; sie war nicht die schwermütige Seele vom gestrigen Abend, sondern die Glückliche, die nur an des Lebens Wonnen und Freuden dachte.

»Wir werden zusammen speisen, nachher werden wir zu Sommerfeld hinausfahren und mit ihm den Plan der großen Ballonreise besprechen,« lachte sie wie ein sich freuendes Kind, das den Spielgenossen so heiter sehen möchte, wie es selber ist. »Hast du mir das Bild mit dem lieben Wort mitgebracht?« fragte sie.

Nein, das hatte ich unter den mannigfaltigen Sorgen des Abends und des Morgens vergessen.

»Nur einen Augenblick, Big,« bat ich, »nur bis ich einen Brief gelesen habe!« Sie machte ein zum Küssen liebes Schmollmündchen, erhob sich, um mich mit dem Brief allein zu lassen, und lockte das Wassergeflügel, das in dem Weiher zog. Ich aber las mit wachsendem Schrecken Duglores zweiten Brief.

»Und du schweigst, lieber Jost!« schrieb sie. »Du bist also schwer krank. Das sagen mir auch meine Träume! In einem weißen Bett liegst du und schaust gegen die Türe und denkst: Wo bleibt denn Duglörli? Ich komme, lieber Jost! Ich war bei der Schneiderin in Gauenburg. Da war gerade Markt, und Melchi, der noch ein Rind zu seinem Viehstand kaufte, war auch da. Er sagte mir noch einmal, die Reise sei eine Torheit, und machte mir Vorstellungen; als er mich aber festen Sinnes sah, da tat er mir die Liebe und hat sich auf dem Bahnhof nach dem Fahrplan erkundigt. Da hat man ihm gesagt, daß am Dienstag eine Bauernfamilie, die nach Amerika auswandere, den Weg über Hamburg nehme, und wenn ich mit den Leuten frühmorgens abfahre, bin ich am Mittwochabend um sechs Uhr in Hamburg. So tue ich.« –

»Am Mittwochabend um sechs Uhr!« Das war ja heute, das war in einigen Stunden! Der Brief lief weiter, aber zu Ende lesen konnte ich ihn nicht. Neugierig und ungeduldig blickte Big zu mir. Da schrie sie auf: »Jost, es ist ja kein Tropfen Blut mehr in deinem Gesicht!« Ich flüsterte ihr nur ein Wort zu. Sie verstand, sie sank erschreckt zu mir hin, umschlang mich zitternd, lehnte sich gebrochen an meine Brust, Tränen füllten ihre Augen; wie eine Vernichtete ließ sie das stolze Haupt tiefer und tiefer sinken. In dem schmerzverzerrten Mund schimmerten die weißen Zähne. Die Gestalt erinnerte mich an ein Wild, das todwund getroffen ist, das sich verteidigen möchte, aber die Kraft dazu nicht findet. Die Hände ineinander verkrampfend, flüsterte sie: »Und ich muß gehen! Aus ist der Traum! Wenn es aber einen Gott gäbe, könnte er Herzen wie die unseren nicht trennen! Wenn er uns wenigstens noch die Fahrt gegönnt hätte! Im Morgenstrom des Lichts wollte ich mit dir in jene Höhen steigen, Jost, wo in den Schwingen der Seele kein Staub mehr ist. Und für dieses Glück hätte ich dem gütigen Gott gehuldigt und hätte versucht, fromm zu sein wie deine Verlobte. Aber er gönnt's mir nicht!« Abgründige, wahnwitzige Worte, Flüche auf das Schicksal fuhren aus wilder Seelenzerrissenheit über ihre zuckenden Lippen; das Gesicht trug einen so wunderbaren Ausdruck des Schmerzes, der Leidenschaft und seelischer Schönheit, daß es mich unheimlich überrieselte. Es riß mich etwas zu Big, zugleich aber rief eine Stimme in mir: »Fürchte dieses rätselvolle Weib, fliehe sie!« Sie krallte ihre feinen schmalen Hände in meinen Arm, ihre Augen gruben sich in die meinen, ihr zerquälter Mund flehte: »Jost, ein Wort! Gingest du wirklich dein lebelang am liebsten mit mir?«

Ich spürte, Big täte sich ein Leid an, wenn ich sie jetzt enttäuschte. Mein Gewissen wand sich. Ihr die Hand drückend, stammelte ich: »Ja, ich ginge am liebsten mit dir, Big!« Sie küßte mich wild und schmerzenreich, als müßte ich den Atem aus der Seele verlieren. »Und dein Bild?« keuchte sie. »Ich kann nicht leben ohne dein Bild!« »Ich sende es dir, Big!« versprach ich, um die Erregte etwas zu beruhigen und litt mit ihr.

Da flatterte eine Gruppe spielender Kinder in unsere Nähe; die jähen Gefühlsausbrüche fanden ihre äußere Hemmung. Wir gingen ein Stück; unter einer Baumgruppe aber, die uns der Neugier verbarg, hielt Big den Schritt an. »Es muß sein – es muß sein!« stammelte sie. »Leb' wohl, Liebster!« Noch einmal bohrten sich ihre Augen in die meinen, als wollten sie mir die Seele aus dem Leibe trinken. Unnennbar zart legte sie ihre beiden Hände an meine Wangen, zog mich zitternd an sich, und preßte ihre Lippen auf die meinen. Ein langer, heißer Kuß, ein kurzes, flammendes »Lebewohl!« – und die Unglückliche ging.

Ich aber, ich überlebte den tollen, furchtbaren Tag. Obwohl ich keinen Ausweg aus den Fangeisen und Klemmen meines Lebens sah, meine Gedanken rastlos zwischen Big und Duglore hin und her eilten, tat ich noch manches Vernünftige. Ich las auf meinem Zimmer den Brief meiner Verlobten zu Ende. Bauernschlau hatte Melchi Hangsteiner die Reise Duglores so eingerichtet, daß in der Heimat niemand anders darum wußte als er und sie. Damit sie ohne Aufsehen und üble Nachrede der Menschen wieder in die Heimat zurückkehren könnte, wenn die Hoffnungen, die sie auf mich setzte, sich nicht erfüllen würden, streute er in Zweibrücken aus, sie sei als Magd nach St. Jakob gegangen. Nein, Melchi Hangsteiner! Ich war entschlossen, für Duglore alle Opfer, die das Leben verlangen würde, zu bringen. Nur um eins bat ich Gott. Daß mich das Wiedersehen mit ihr nicht enttäuschen möge! Ich fühlte, wie mir das Großstadtleben, die Tage mit Big andere Maßstäbe der Schätzung weiblichen Wesens als die stille Bergheimat gegeben hatten. Wie, wenn mir nun Duglore unbedeutend erschien? Konnte ich dann siegreich gegen die rätselvolle, verführerische Kraft Big Dares bleiben? Bald kalt, bald warm lief mir der Schweiß über den Nacken. Ich tröstete mich! Welche Seelen- und Liebesstärke lag doch darin, daß das weltunerfahrene Berg- und Heimatkind die Reise zu mir unternahm! Wohl war es ein furchtbar törichter Entschluß, doch spürte ich seine Größe, und Duglörli erschien mir umgeben vom Strahlenkranz mutigster Treue. Nur heim wollte ich nach allem, was sich begeben hatte, mit ihr nicht gehen!

Aus einem Umschlag nahm ich eine Fahrkarte, die mir Andreesen gebracht hatte, steckte sie in einen anderen Umschlag und schrieb darauf: »Mit Dank an Herrn Hans Konrad Balmer zurück!« Nachdem ich dem höflichen Sekretär bereits am Morgen die Hand gedrückt hatte, verabschiedete ich mich von seiner munteren Frau, die dem Sohn der Berge eine vorzügliche Zeremonienlehrerin in den Dingen des Weltanstandes gewesen war. Sie hatte zwei leichte Tränen für mich. Meine Mittel waren auf den Ausflügen mit Big, der ich stets als Kavalier begegnet war, zusammengeschmolzen. Sie reichten aber für mich und Duglore einige Tage. Inzwischen wollte ich Arbeit suchen. In einem bescheidenen, doch sauberen Gasthaus bestellte ich für sie, in einem anderen für mich Quartier und war eine Viertelstunde vor Ankunft ihres Zuges auf dem Bahnhof.

Der Zug pfiff gellend ein; die Reisenden verknäuelten und entknäuelten sich in eiligen Gruppen. Dort, dort stand eine Bauernfamilie, an deren Gehaben ich von weitem Heimatart erkannte, mit Reisesachen schwer beladen, Vater, Mutter, Großvater und ein paar Kinder, die eben von den Angestellten einer Auswanderungsgesellschaft in Empfang genommen wurden. In der Gruppe stand, den Rücken gegen mich gewendet, ein mittelgroßes, schlankes Mädchen in grauem Filzhut und Reisekleid. Sie hielt einen Knaben an der Hand, als gehörte sie mit zu der Gesellschaft. Unter dem grauen Filzhut hervor fiel ein rotbrauner Knoten in den Nacken. Eine zierliche Wendung des Kopfes – Duglörli! Mein Blut wallte. Ich trat näher, näher. Duglörli, die dem verschüchterten Buben, den sie führte, liebevoll zusprach, bemerkte mich nicht. Ich blickte in ein Antlitz von wunderfeiner Frische, rührender Lieblichkeit, in dunkle Augen mit der Glanzfülle einer schlichten, lauteren, warmen Seele. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dieses Mädchen könnte schutzlos durch die weite Welt reisen, es wäre nirgends der lose Mund, die freche Hand, die es wagen würde, ihre Reinheit, Feinheit und Güte zu kränken.

»Gottwillkommen, Duglörli!« rief ich leise. Sie zuckte freudig zusammen; sie ließ die Hand des Buben, ein Blick, ein zitterndes, bebendes »Jost!« Demütig und voll unsäglicher Liebe senkte sie das Haupt und ergriff mit beiden Händen meine Hand. »Jost,« zuckte es von ihrem Mund, »sei mir nicht böse, daß ich gekommen bin!«

Wir nahmen verworren Abschied von der Bauernfamilie, und ich war mit Duglore allein. Wie im Traum, den flutenden Gefühlen des Wiedersehens hingegeben, verbrachten wir den Abend ohne viele Worte. An meinem Hals weinte sich Duglore aus von ihren Schmerzen. »Sei mir nicht böse, Jost,« wiederholte sie unter Schluchzen, »daß ich gekommen bin. Was tut ein Herz, ehe es bricht!« Ich streichelte ihr Haupt und Wangen, wie man ein Kind beruhigt. »Jetzt sollst du still sein, Glörli,« flüsterte ich, »morgen sprechen wir uns aus. Ich danke dir, daß du die Reise gewagt hast, es wird alles gut!« »Jost, was soll ich dir Liebes sagen?« lächelte sie unter Tränen. »Du bist nicht mehr krank, nur etwas blaß, doch was für ein schöner, stattlicher, vornehmer Mann! Wenn ich dir aber ins Gesicht sehe, bist du doch der alte, liebe, liebe Jost. Deine Augen reden so treu!« Unter meinen sanften Liebkosungen hob Duglörli gläubig die dunkeln Lichter zu mir. Ich verließ eine Getröstete und spürte am Ende des ereignisreichen Tages ein stilles Glück. Quellen der Kindheit und Jugend sprangen lebendig in meiner Brust, und ihr Fließen und Rieseln lullte die Sorgen, die mich umgaben, in Schlaf. Ein Segen lag auf dem Wiedersehen. Von Big hatte ich mich mit der vollen Kraft meines Herzens wieder zu Duglore geschlagen.

Was war mir Big? Ein schönes, fremdes Märchen, das aus blauem Ungefähr in mein Leben hineingefaltert war, Duglore aber war mir süße Jugend von meiner Jugend, Seele von meiner Seele, Engel der Heimat!


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