Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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VI

Gottlobe kommt lange nicht! Der alte Hangsteiner sei nicht so wohl, telegraphiert mir Hans Stünzi, aber in einigen Tagen sei's wahrscheinlich wieder gut. Wenn nur das Wetter schön bleibt! In den Lüften herrscht die große, selige Ruhe des Spätherbstes, Altweibersommer. Wenn es auch Nachts auf meinem Gipfel schon frostet, der Lärm des Vogelzuges, der den Winter kündet, in die Stille meines Observatoriums dringt, so sind doch die Tagstunden prächtig. Der bis zum Montblanc und Großglockner, zum Monte Viso und den Vogesen gehellte Himmel strahlt wolkenlos in tiefer Bläue, die wasserhelle Glaskugel meines Sonnenscheinmessers brennt vom Morgen bis zum Abend auf das untergelegte Papier eine zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich kräftige Linie, das Barometer regt sich nicht, und die vier über dem Gipfel ausgereckten Arme des Anemometer, die mit ihren metallenen Schalen den Wind wie mit offenen Händen auffangen, spielen kaum merkbar mit der leise aus Osten drückenden Luft. Das Wetter bleibt gut. Gottlobe wird also kommen.

Sobald der Abend sinkt, zieht es mich mächtig zu meiner begonnenen Lebensbeichte, und wenn ich einmal darein vertieft bin, läßt sie mich nicht sobald wieder los. Ich schreibe oft bis in die Morgenstunden und muß selber staunen, wie frisch und lebendig die Bilder der Jugend im Spiegel der Erinnerung auferstehen. Wie ein schönes, altes Lied greifen sie mir ans Herz!

Es gibt aber Wesen, die mit meiner Schreiberei nicht einverstanden sind. Vor allen »Flock«, mein weißer Spitzer, mein Herzkamerad, nicht. Ich habe das Tier damals, als ich im Hause Melchi Hangsteiners langsam von meinem zerschmetterten Beine genas und es wieder in die Sonne spazieren führte, von einem durchs Gebirge hausierenden slowakischen Mausefallenhändler gekauft. Flock begleitete mich auf den Berg und die guten und die bösen Stunden haben wir in sieben Jahren miteinander geteilt. Wir haben schon, wenn die Vorräte gegen den Frühling knapp wurden, miteinander gehungert; wir haben uns, wenn die Kerzen ausgingen, im Dunkeln miteinander unterhalten; Flock begriff, verstand alles und war mir auch in den öden Zeiten des Drahtbruchs Tröster; vieles hat er schon erlebt, nur das nicht, daß ich ihn vernachlässige. Aber jetzt, wenn ich an meiner Beichte schreibe. Kein Wort, keine Liebkosung! Gestern abend hob er sich mit den Pfoten auf mein Knie, dann auf meinen schreibenden Arm und versuchte spielend den ihm verhaßten Federhalter mit der Schnauze aus meiner Hand zu zerren. »Leg dich, Flock!« Als er dem Befehl wimmernd folgte, da heftete er die beredten Augen wehmütig auf mich: »O Herr, was hast du für Anwandlungen!« Denn Flock ist gescheit wie ein Mensch; nur schade, daß ihm die Zunge gebunden ist.

Mit ihm trauern über ihren Herrn, der in seine Lebensgeschichte versonnen ist, »Pück«, die Dohle mit dem lahmen Flügel, die ich, ein Scheit werfend, einem über dem Gipfel aufschwebenden Weih habe abjagen können, und »Mi«, die Bergmaus, die sich von selber zu mir gefunden hat, und wenn ich pfeife, auf meine Hand springt und den Nußkern zwischen den Fingern holt.

Mein liebes, betrübtes Dreiblatt von Freunden, ich kann euch nicht helfen. Die Gestalten meiner Jugend winken mir, meine Duglörli ruft ihr silberhelles, sanftes: »Jost!« –

Der Vater war von seiner Wanderschaft so wohlgemut heimgekehrt, als es seine mürrische Sinnesart zuließ. Zur Feier des Wiedersehens besuchten wir am Sonntag den Gottesdienst, das erblühende stille Grab der Mutter, nahmen darauf in der »Gemse« einen Trunk und traten zum Mittagsimbiß, den uns eine Nachbarin kochte, wieder in unser Haus. Die kurze Frist vor dem Mahl benutzte der Vater, um durch alle Räume des Hauses zu gehen und nachzusehen, wie sie im Stande gehalten seien. Als er aber in mein Schlafgemach kam und das Bild Hans Konrad Balmers bemerkte, stieg der Ärger in seine Züge. Sein Auge schoß mit einem Blitz zornigen Mißtrauens von dem Bild, das in dem von Schulmeister Kaspar verfertigten hübschen Rahmen an der Wand hing, auf mich zurück. Ingrimmig keuchte er mir zu: »He, was soll das?«

»Ich mag den Mann,« erwiderte ich mit der Ruhe meiner jungen Männlichkeit, »wenn du mir schon nie von ihm erzählt hast, so weiß ich von Schulmeister Kaspar« – Der Vater machte aber eine Gebärde, daß er nicht hören wolle. »Da wird ein Ränkespiel hinter meinem Rücken aufgeführt, he,« knurrte er kalt und verhärtet. »Du magst Balmer – ja, ja – und er mag dich.« Damit brach er das Gespräch und den Rundgang ab; verstimmt wandten wir uns beide in die Stube zum Mittagstisch, ich ertrug aber die stumme Spannung nicht, legte den Löffel neben meinem Zinnteller auf den Tisch und sagte: »Vater, ich habe diese Art Zusammenleben satt. Du brauchst den Ärger nicht still hinunterzuwürgen, und ich bin groß genug, daß du mit mir sprichst.«

»So, du reißest jetzt schnell den Anlaß vom Zaun, um mit mir zu brechen,« schnob er und erhob sich. »Geh doch morgen schon nach Hamburg, wenn du glaubst, es sei dir mit dem Fluch deines Vaters wohl draußen in der Welt. Natürlich hat der Schulmeister in deinem Auftrag geschrieben und Aufhebens von dir gemacht. Geh, du Unflat du!«

»Vater, ich weiß nicht, was Schulmeister Kaspar geschrieben hat, von einem Auftrag noch weniger,« erwiderte ich blaß vor Zorn und sprang empor.

Da wurde er doch stutzig, räusperte sich und knurrte: »Aber ich weiß es!« »So sprich, Vater, was ist denn?« drang ich auf ihn ein. »Nun,« versetzte er etwas gelassener, »ich hab' dir absichtlich nie erzählt, daß ich jedesmal, wenn ich dort in den Meergegenden mit Tafeln hausiere, Balmer von meiner Anwesenheit wissen lasse. Er kommt dann auf eine Stunde in mein Gasthaus, und ich muß ihm von Selmatt und Schulmeister Kaspar berichten. Dem tu ich's zuliebe und Balmer ein wenig. Wir sind ja alle drei Schulkameraden. Also, wie mich Balmer vor ungefähr zwei Monaten wieder im Gasthaus besuchte, da fragte er gleich: ,Ist's wahr, Klaus, ist dein Junge, der Jost, ein so heller Kopf? Und er erzählte von dem Brief des Schulmeisters und sagte darauf: ,Gib mir den Buben, den Jost in die Lehre! Meine Frau wünscht es auch!' Das hat er gesagt, und nun möcht' ich wissen, Jost, hast du das eingefädelt oder nicht? Das Bild hat mich auf den Gedanken gebracht.« Er blickte mich mißtrauisch an und begann wieder: ,Jost, ich habe dich all mein Lebtag zum Bauern bestimmt! Du wirst doch nicht zu Balmer gehen wollen?« Bohrend und fragend haftete sein Blick auf mir. Ich war von dem Plan Balmers, mich nach Hamburg zu ziehen, so überrascht, daß ich eine Weile stumm blieb. »Welt, Welt!« wollte eine Stimme in mir emporjubeln. Da schwebten aber die sanften Augen Duglores vor meine Seele; ich streckte dem Vater, der sich schon in wütender Kränkung von mir wenden wollte, die Hand hin. »Ich verspreche es dir jetzt vor unserem Herrgott, Vater,« sagte ich laut, »daß ich ein Bauer und Älpler in Selmatt bleibe bis an meinen Tod!«

Wir drückten uns stumm die Hände, schauten uns gegenseitig lang und stark in die Augen, dann fand der Vater zuerst das Wort. »Jost, ich habe dir die Jugend nicht leicht bereitet,« keuchte er, »aber es hat geholfen. Dein Blut ist zahm und verständig.«

»Nicht wegen deiner Schläge,« wollte ich erwidern, »sondern weil ich eine junge Liebe im Herzen trage.« Ich sah aber, daß ihm das Wasser in die Augen trat vor Bewegung und Glück. In einer Eintracht, wie sie noch nie zwischen uns geherrscht hatte, nahmen wir den durch den Streit unterbrochenen Imbiß wieder auf, und als der Vater wieder etwas Herr seiner Rührung geworden war, versetzte er weich: »Ich denke, Jost, daß wir noch viele schöne Jahre miteinander verleben; auf die Wanderschaft geh' ich jetzt nicht mehr, in den letzten zehn Jahren ist das Geschäft übers Bohnenlied schlecht geworden.« Indem er sich zusehends ermunterte, begann er ein Gespräch, das seit einem Jahr oder zweien seine Lieblingsunterhaltung war; nämlich das von meiner späteren Verheiratung.

»Nein, über den Graben bist du noch nicht, Jost. Es kommen jetzt noch die Weibergeschichten. Da hat es schon manchem die Hand in eine Mühle gezerrt, in die er nicht hätte hineingeraten sollen. Wahr bleibt aber: ein Haus ohne Weib ist wie eine Rauchkammer, in der kein Speck hängt.« Und er sprach vorsichtig darum her, daß ich einmal eine Frau nehmen solle, die er mir unter den Töchtern des Landes auswähle. Das ging mir aber schlecht in den Kopf.

»Vater, was sagtest du dazu, wenn ich ein Auge auf Schulmeisters Duglore würfe?« fragte ich keck.

»Die Duglore – die Duglore!« antwortete er, den Kopf nachdenklich wiegend. »Sackerlot, Jost. Das Mädchen ist schon recht, aber« – er machte die Bewegung des Geldzählens – »da fehlt's ein wenig. Sonst habe ich nichts gegen den Schulmeister oder das Kind; es hat mir auch gefallen, wie sie heute morgen die Orgel geschlagen hat. Schau dich aber noch zwei oder drei Jahre unter den anderen Mädchen um, Jost, vielleicht findest du eine, die dir grad so gut gefällt und reicher ist als Duglore. Gilt dann aber noch das Glörli, wohlan, so schicke ich mich drein. Das Kind ist mehr wie recht, und Kaspar ist uns stets ein treuer Nachbar gewesen.«

Ich hätte dem Vater über seiner Rede um den Hals fallen mögen, denn ich hatte gefürchtet, es würde zwischen mir und dem Manne, der nur auf Geld und Gut hielt, zu einem scharfen Strauße kommen, wenn ich von Duglore spräche; nun aber hatte er die Rede gelassen, ja halb zustimmend hingenommen, und als wir den Sonntagnachmittag mit einem weiten Spaziergang über unsere Bergäcker ausfüllten, da blickte sogar einmal eine stille Weltzufriedenheit aus seinem sonst ewig säuerlichen Wesen.

Still und friedlich lebten wir vom Frühling in den Sommer hinein; er schaute zu Korn und Acker, ich trieb mit Duglore das Vieh auf die Bodenalpe. Wenn es die Gelegenheit gab, so kam er etwa zu Besuch, um nach mir und dem Stand der Kühe und Rinder zu sehen, und lief ihm dann Duglore in die Quere, hatte er gewiß ein scherzendes und wohlwollendes Gespräch für sie, das ihm niemand im Dorf zugetraut hätte. Duglörli aber schaute darüber mit jauchzenden Augen in die Welt, litt dann und wann von mir einen heimlichen Kuß und flüsterte glückselig: »O Jost – du mein lieber Jost!«, und ich selber glaubte an viele schöne Jahre, die Duglore, mir und dem Vater beschieden wären.

Vor- und Hochsommer wandelten mit blauem Himmel, Sonne und Blumenpracht vorbei, über die Bodenalpe klang der Juchschrei der Sennen, Duglörli selber jodelte am Morgen und Abend wie ein Singvogel in die Welt, niemand war unglücklich, als Melchi Hangsteiner, der Wildheuer, der wohl spürte, daß er das Mädchen an mich verloren geben müsse, und Augen voll fressenden Neides auf mich heftete. Als aber der August kam, fiel langes, schreckliches Unwetter in die Berge ein. Gewitter mit Blitz und Donnerschlägen krachten die Lehnen dahin, eins löste das andere ab, sintflutartige Regen folgten sich Tag auf Tag, die in einen Sumpf verwandelte Bodenalpe lag im naßkalten Nebel, und wenn er zerriß, sah man an den Felsen des Feuersteins Sturzbäche wie zur Zeit der Schneeschmelze. Bald regnete es wieder unaufhörlich, brüllend und mit erhobenen Schweifen rannte das Vieh über die Alpe oder schaute, dicht aneinandergedrängt, unter den triefenden Schirmen der Wettertannen hervor, und manchmal hatten wir Mühe, die vom Blitz erschreckten Herden beisammenzuhalten.

»Jost, hätt' ich dich nicht, umkommen müßt' ich auf der Alp,« scherzte Duglore trübselig und sah mir beinahe neidisch nach, als ich eine Last Käse nach Selmatt hinunterzutragen hatte. Im Dorf traf ich merkbare Unruhe, und mit ingrimmigem Humor fagte der Vater: »Nun der Schieferhandel hin ist, geht auch der Bruch zugrunde. Im Werk seufzt es und kracht und dröhnt es, daß sich kein Mensch mehr hineinwagt. Sei froh, daß du einen gescheiten Alten hast, Jost, der beizeiten Grund und Boden kaufte. Das Bauernhandwerk wird jetzt über den Tafelnhandel Trumpf!« Als ich aber mit einer wohlgeschützten Last Brot auf die Alpe zurückstieg, flog mir, einen Männerfilz auf den Kopf gestülpt, über die Schultern einen alten Soldatenmantel geworfen, Duglore durch den strömenden Regen entgegen: »Man verlangt nach dir, Jost,« rief sie bekümmert. »Es sind alle Männer der Alp aufgeboten. Hinten gegen den Feuerstein hat sich eine Spalte gebildet, da muß dem Wasser gewehrt werden, das vom Berg darein stürzt.«

Mit einem Viertelhundert anderer Männer arbeitete ich die Nacht dahin bei Laternen- und Kienfackelschein. Das ganze Dorf aber hätte nicht genug der hölzernen Kanäle bauen, zimmern und legen können, um die Wasserfluten des Feuersteins über die Spalte zu leiten. Sie klaffte breiter, sie wuchs in die Länge, die Mannschaftsaufgebote waren umsonst, in wenigen Tagen konnte man längs des Feuersteingebirgs den Erdbruch eine Viertelstunde weit verfolgen. Seine Ränder verschoben sich, der hintere schien in die Höhe zu steigen. Richtiger war aber wohl, daß der vordere sank, mit ihm die Alpe Boden und der Tafelberg, auf dem sie ruhte, nur spürten Menschen oder Vieh von der langsamen Senkung nichts, die sich bloß in mannigfaltigen äußeren Zeichen kundgab. Als ein Sonnenblick die Wolken durchkreuzte, kam Duglore voll Entsetzen zu mir gerannt: »Denk dir doch, Jost,« rief sie, »aus der Tür unserer Hütte sieht man den Turmknopf der Kirche von Selmatt, den man vorher nicht hat sehen können. Komm, blick selber hin! Mir ist himmeltodesangst!« Die Entdeckung Duglörlis bestätigte sich. »Sei nicht so kaltblütig, Jost,« jammerte sie. »Sollten wir nicht mit dem Vieh nach Selmatt hinunterziehen?« »Was hilft's?« erwiderte ich. »Wenn der Tafelberg stürzen will, ist die Gefahr im Dorf nicht kleiner als auf dem Berg. Hören wir, was die Boten berichten, die von Selmatt auf die Alpe steigen!«

Die Boten meldeten aber nur neuen Schrecken. Ein Block, so groß wie ein Kleiderkasten, sei vom Tafelberg mitten ins Dorf geflogen, habe das Kirchendach durchschlagen und liege jetzt, halb in den Boden gegraben, neben dem Taufstein im Gotteshaus. Es sei ein Anblick gewesen, wie wenn der Stein aus dem Felsen des Tafelbergs gequetscht oder gestoßen würde, und als er am Kirchturm vorüberflog, hätten im Luftzug die Glocken, zuerst die kleinen heftig, dann selbst die große mit schwerem Ton angeschlagen. Dieses Läuten ohne Menschenhand hätte einen jähen Schrecken im Dorf verbreitet, viele Selmatter hätten ihre wertvolleren Sachen zusammengepackt und sich zur Flucht nach Zweibrücken gerüstet; ja zwei Familien seien wirklich geflohen. Den anderen aber sei der Gemeinderat entgegengetreten, er habe sie beschworen, im Dorf zu bleiben, bis die Abgeordneten des Landrats und die von ihm zugezogenen Gebirgstechniker, die unterwegs nach Selmatt seien, gesprochen hätten. Je nach ihrem Ratschlag wolle man handeln, und wenn eine ernstliche Gefahr bestehe, Dorf und Alpe räumen, aber sich nicht durch eigenmächtige Entschlüsse in der Stunde der Not und Gefahr trennen.

Nun waren die Abgeordneten und Techniker da. Über die gefahrdrohende Spalte spannten sie Papierstreifen, die Streifen strafften sich und rissen nach einigen Stunden. Der Berg »lief« also noch stetig, er senkte sich, wie die Sachverständigen sagten, auf der schiefen Ebene einer Schieferschicht des Feuersteins, an die der Tafelberg angelehnt war. Und des Beratens war kein Ende.

Da fiel aber mitten in die Untersuchungen ein Trost, der die Fachleute wie die Laien beruhigte. Aus den Wolken trat, vom Neuschnee, der in den Gewittertagen gefallen war, frisch versilbert, der Feuerstein hervor. Aufatmend begrüßten die verängstigten Gemüter das von einem Windwechsel begleitete Gutwetterzeichen, in der Nacht fegte der Ost die Regenwolken aus dem Gebirge, über die vor Nässe triefenden Berge leuchtete die Sonne. »Die augenblickliche Gefahr ist vorüber,« ging's von Mund zu Mund, »und mit dem guten Wetter kommt die Bewegung der Alpe langsam zum Stehen. Da sei Gott gepriesen, wir können doch in Frieden Dank-, Buß- und Bettag feiern.« Denn das stillste, feierlichste Fest im frommen Gebirgsland stand bevor.

Am Vorabend des Tages wanderten die Abgeordneten und Techniker mit dem Versprechen wiederzukehren, talaus, um den Feiertag mit den Ihrigen zu begehen; am Berg und im Dorf wurden einige Mann Wache aufgestellt, und Schulmeister Kaspar brachte uns die Abrede der Väter wegen der Viehhut am heiligen Fest.

»Jost,« versetzte er, »du gehst am Morgen mit deinem Vater zur Kirche; du,« wandte er sich zu Duglore, »bleibst bis zur Mittagszeit beim Vieh auf der Alp, dann kommt Jost wieder, und du steigst ins Dorf hinab.« »Und das Orgelspiel?« fragte Duglore beklommen. »Ich spiele zum Morgen-, du zum Nachmittaggottesdienst,« antwortete der Schulmeister.

Obgleich Duglore gern Einwendungen erhoben hätte, blieb es bei dieser Abrede. In der strahlenden Sonntagsfrühe begleitete sie mich noch ein Stück Weges und brachte es fast nicht übers Herz, sich von mir zu trennen. »Es ist mir stets, ich sollte dir noch etwas sagen, Jost,« versetzte sie kleinlaut, »ich bleibe in dieser gefährlichen Zeit nicht gern ohne dich auf der Alpe zurück,« und zerdrückte eine Träne. »Aber sei kein Närrchen, Kind,« erwiderte ich, »wozu Furcht? Sieh, was ist es für ein ruhiger, stiller Tag!« »Ich will Lieder aus dem Kirchengesangbuch singen,« tröstete sie sich selbst und nahm endlich Abschied. Winkend weilte sie aber noch lange am Berghang. –

»Ich gedenke also bei diesen ernsten und bösen Zeiten nicht auf Reisen zu gehen,« sagte der Vater beim Morgenbrot. »Im übrigen hat man wieder Zuversicht in das Schicksal des Dorfes. Selbst die beiden geflüchteten Familien sind zurückgekehrt.«

Da erhoben die Glocken von Selmatt ihr Feiertagsgeläute. Die niedersteigenden Bergwege und die Dorfstraße daher strömte das dunkelgekleidete Volk in die Kirche: die eisenharten Selmatter Bauern und Älpler, die sich vor nichts beugten als vor den Gesetzen des Landes und dem Geheimnis des Glaubens, die Frauen und Mädchen, die Betbuch, weißes Tüchlein und irgendein wohlriechendes Gartenkraut in den Händen trugen. Unter dem Ahorn sammelte sich das von sonnigem Gipfel überleuchtete Bild und bewegte sich in die geöffnete Kirchentür. Mitten im Volk gingen im besten Sonntagsstaat mein Vater und ich. Es verhallten im Turm über uns die Glocken.

Es verhallte das Grabgeläute des Dorfes Selmatt.


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