Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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IV

Kaspar Imobersteg, der Schulmeister von Alt-Selmatt, war kein Distelvogel wie sein Nachfolger Stünzi. Er wollte keine Lawinen verbauen und keine Wildwasser zähmen; aber er war ein in Herzenseinfalt guter, frommer Mann, der uns Jugend des Dorfes ohne viel Schelte in Zucht, Ehren und kleiner Wissenschaft unterwies. Er hatte sich im Wachstum überschossen, trug also trotz seiner Bescheidenheit den Kopf doch höher als andere Menschen, einen kleinen, mageren, klugen Kopf, in dem ein Paar kindlich warmer Braunaugen standen, die gleichen, wie sie Duglore besaß. Nur die langen unruhigen Schlenkerarme und Schlenkerbeine konnten an Schulmeister Kaspar, von dem manche behaupteten, er hätte ein Schneider werden sollen, ein bißchen stören. Der lange Mann hatte eine kleine rundliche Frau, die Schulmeisterin, der eine so stille Art des Schaltens und Waltens eignete, daß man in dem kindergesegneten Haus mehr ihren guten Geist als ihre leibliche Anwesenheit spürte. Die Kinder, die in ihrer Gestaltsbildung zwischen dem langen Vater und der kleinen Mutter blieben, wuchsen nach dem üblichen Gewohnheitsmaß der Menschen heran, am lieblichsten Duglörli, die älteste, des Schulmeisters und mein Augenstern.

»Duglore, was ist das für ein seltsamer Name?« fragte ich einmal Kaspar, den Schulmeister. »Er steht nicht im Kalender.« Da lächelte er: »Den hat mein Vater, der Soldat in napoleonischen Diensten war, der Enkelin gegeben. Er bedeutet, die einmal Ruhm haben soll vor Gott!« Da gefiel der Name auch mir.

In unserem eigenen Haus war es drückend einsam, und wenn ich unsere paar Kühe gefüttert, gemolken und getränkt hatte, erlaubte mir die Mutter, die Kränklichkeit und Husten früh zur Ruhe zwangen, daß ich den Abend bei der Lehrersfamilie verbrachte, und als sie eines Frühlings, kurz nach der Rückkehr des Vaters, wie ein Licht, dem das Öl ausgegangen ist, erlosch, da wurde in den folgenden Wintern die Schulmeistersstube vollends mein zweites Heim. Vierzehnjährig war ich, als die Mutter starb, und gern denke ich an die Abende bei Kaspar.

Selmatt war versunken im Schnee, und im Sternenglanz der Winternacht bauschte er sich mit glitzernden Kristallen wie volle Kissen auf den Dächern. Ich aber war mit ein paar Schritten in der licht- und wärmedurchströmten Oberstube des Schulhauses. Da saß seine siebenköpfige Familie um den holzgerahmten Schiefertisch beim Abendbrot. Bei meinem Eintritt schlug Glörli ein helles Lachen an: »Jost, der ist für dich gerichtet!« In der vom Licht rosig durchschimmerten Hand hielt sie einen geschälten dampfenden Erdapfel empor, und bei einer Schale bläulicher, entrahmter Milch, in der noch einige Butterkügelchen schwammen, ergänzte ich mein Abendbrot und fühlte mich in dem munteren Kreis wie der Vogel im Nest.

Vom kurzen Nachtimbiß hinweg wandte sich Schulmeister Kaspar, der im Nebenberuf Kirchenorgelspieler am Sonntag und eifriger Tischler am Werktag war, zur Hobelbank, die an einer Wand der geräumigen Stube stand. Die Säge zischte, der Hobel flog, das Stemmeisen warf seine Späne. Duglörli und ich halfen dem Lehrer bei der Arbeit, leimten die Falzen oder trieben die Stifte in die Ecken der Tafeln, die er mit erstaunlicher Behendigkeit rahmte. Er geriet über dem Abendwerk in ein erzählendes Plaudern, das ihn oft durch alle Reiche der Natur und vom Hundersten ins Tausendste führte.

Eins seiner Lieblingskapitel waren die Wildleutsagen vom Feuerstein. »Die Wildleutfrauen,« hob er fröhlichen Gesichtes an, »waren so scheu und furchtsam, daß ein Jäger alt werden konnte, bis es ihm gelang, eine zu fangen. Konnte ein Wildweiblein nicht mehr fliehen, wand es sich in sein nachtschwarzes Haar, das ihm bis auf die Fußknöchel reichte, wie in einen Mantel ein und kugelte sich darin wie der Igel zusammen. Nahm aber der Senne oder Jäger die schwarze Haarkugel mit heim, siehe, da rollte sie sich ein wenig auf, feurige Augen wie die der Wildkatzen blitzten hervor, ein liebliches Gesichtchen, Lippen so rot wie Alpenrosenblust, Zähne wie weißes Bein lächelten, und die Wildfrau fing inständig an zu bitten und zu betteln, man möchte sie doch etwas an die Sonne lassen. Das war aber Verstellung und List. Sobald sie an der Sonne war, eilte sie wie die Gemse den Bergen zu. Gab man ihrem Lächeln nicht nach, wurde daraus ein flehentliches Weinen, das die Herzen der Menschen erschütterte; gelang der Frau die Flucht nicht, begann sie zu kratzen und zu beißen, trieb Unfug und sprang die Wände hinauf und starb tollwütig am dritten Tag. Denn so war es bei den Wildleuten: die kleinen Frauen waren wilder als die großgewachsenen Männer.

Mit entzücktem Gesicht und aufleuchtenden Augen horchte Duglörli. »Grad wie ein Wildweiblein würd' ich tun, wenn mich jemand von Selmatt forttragen wollte, zappeln und strappeln, mich kugeln, bitten und beißen,« rief sie, grinste mit verzogenem Munde, stellte die Finger krumm, als wollte sie mit den schmalen Händen einen Feind überfallen, und gab sich ein gefährliches Ansehen, was ihr zwar nicht vollkommen gelang, aber einen erheiternd komischen Anblick gewährte.

Vater Kaspar betrachtete das drollige Bildchen mit zustimmendem Kopfwackeln und göttlicher Zufriedenheit.

Den Hobel wieder ergreifend, sagte er: »Gewiß Duglörli, wir sind treu wie die Wildleute, wir sind keine, die von Selmatt gehen wie mein lieber Freund, der berühmte Handelsherr Hans Konrad Balmer in Hamburg, der auch ein Selmatter Bub gewesen ist.«

Nun war es an mir, die Ohren zu spitzen. Bemerkte es aber Kaspar nicht oder beschäftigte ihn der andere Gedanke stärker, er fuhr fort: »Es hat mich zwar auch einmal der leichtsinnige Weltdrang erfaßt. Da war ich noch jung und ledig, von meinem guten Vater, der gestorben war, hatte ich ein Kapitälchen als Erbe in den Händen, und es war gerade im Anfang der Ferien. Da ergriff ich den Wanderstab und wollte bis nach Basel in die schöne und große Stadt am Rhein ziehen. Als ich aber nach Gauenburg kam, besuchte ich die vortreffliche alte Frau, bei der ich während meiner zweijährigen Seminarzeit gewohnt hatte, und als ich voll friedlicher Erinnerungen von ihr ging, da war es schon Abend. In einem Gewölbe war ein Kramladen alter Bücher, den es früher nicht gegeben hatte, und die Preise, die an den Bänden standen, schienen mir billig. Ich stieg hinauf auf das Schloß von Gauenburg. Da standen die Selmatter Berge so rot. Eine innere Stimme fing an in mir zu reden: ›Was willst du so weit fort von Selmatt? Du siehst ja schon hier etwas von den flacheren Ländern. O Kaspar, Kaspar, es steht ja alles so schön in den Büchern. Und die alten Bücher sind manchmal wertvoller als die neuen und teueren. Kaufe doch lieber die Bücher als an den Rhein zu wandern!‹ Ich ging zu der alten Frau und übernachtete in dem Kämmerchen, das ehemals mir gehört hatte. Da war mir am Morgen wie am Abend. Ich wandte mich in das Gewölbe und erstand die Bücher, die ich für einen Bergschulmeister ziemlich und nützlich erachtete: eine alte Landeshistorie, eine Weltgeschichte, ein Pflanzen- und ein Tierbuch, diese vier mit lehrreichen Abbildungen, dazu viel Annehmliches und Zuträgliches mehr, reichlich vier Tragkraxen voll. Über den Büchern verließ mich der Weltteufel, und ich kam nur noch ein einziges Mal nach Gauenburg. Das war, als die Eisenbahn von St. Jakob dahin eröffnet wurde, und ich sah, was ich sehen wollte, die Lokomotive, die schnaubend und qualmend den Zug zieht, und das mit der großmütigen Hilfe meines Freundes Hans Konrad Balmer gegründete naturgeschichtliche Museum.«

Über den etwas ausgemergelten Zügen Kaspars lag der Abglanz inneren Friedens.

Ich bat ihn, daß er etwas von seinem Freunde, dem Handelsherrn Hans Konrad Balmer, erzähle, von dem ich nicht das mindeste wisse. »Dein Vater besucht ihn doch jeden Winter, wenn er ans Nordmeer kommt,« erwiderte Kaspar überrascht. »Er berichtet mir aber nie, was er in der Fremde erlebt,« warf ich unlustig hin. »So, von unserem Jugendfreund hätte er dir aber schon erzählen dürfen,« versetzte Kaspar mit einem für den Vater mißbilligenden Ton. Ich erwartete, er würde nun selber beginnen, in diesem Augenblick rief indes die Kuckucksuhr halb zehn von der Wand, und das war in der Schulmeistersstube unweigerlich das Zeichen zum Feierabend. Mit einem kräftigen Atemstoß blies Kaspar den Hobel aus, lobte die Menge der gerahmten Tafeln und sprach: »Nun Gott die Ehr'!« So war's jeden Abend; er schlug den Deckel des Zimmerharmoniums zurück, griff mit langen Armen und Fingern nach den Tasten und mit langen Beinen nach dem Blaswerk und präludierte ein ergreifendes Kirchenlied, die neunte Nummer unseres Kirchengesangbuches:

»Lobt den Herrn! Das Sterngefilde
Predigt laut von Gottes Macht,
Und von seiner Huld und Milde
Spricht des Frühlings Blumenpracht.
Lobt den Herrn! Lobt den Herrn!«

Im Halbkreis sammelten sich die Familienglieder, die noch wachten, um Kaspar. Stets stellte sich Duglörli so, daß ihre Augen in die ihres Vaters schauten, und in inniger musikalischer Fühlung mit ihm sangen sie andächtiglich. Wie ein vom Himmel herniedergeflogener Liederengel erhob sich die leichte wippende Gestalt des schlanken Mädchens aus dem Bild der kantierenden Familie. Hell drang ihr silberner Sopran über die anderen Stimmen vor; ohne daß sie es wußte, schlug sie mit dem vorgestreckten Zeigefinger leise den Takt, wiegte wie ein singender Vogel das Köpfchen und ließ aus den warmen Lichtern den lebendigen Gottesglauben strahlen.

Am anderen Abend aber erzählte Schulmeister Kaspar beim Tafelrahmen von seinem großen Freunde und meinem großen Unbekannten Hans Konrad Balmer.

»Ja, der war aus anderem Holz geschnitzt wie wir alle,« begann er mit wackerer Bescheidenheit, »obgleich auch nur ein Selmatter, hatte er das Zeug, in die große Welt zu gehen. Er saß mit mir im Seminar zu Gauenburg auf der gleichen Bank; während wir anderen aber den ganzen Verstand zusammennehmen mußten, um den Lehrern mühsam zu folgen, lernte er spielend und löste die schwierigsten Aufgaben wie aus dem Handgelenk. ›Woher hat er's nur?‹ fragten wir. Obgleich er uns alle an Können und Wissen, an rechnender Klugheit wie an Reife des Wesens übertraf, war er ein lieber und dienstfertiger Kamerad, und wenn er von uns einen Gefallen wünschte, besaß er ein so freimütiges, zwingendes Lächeln und Reden, daß man ihm wie von selbst zu Diensten war. Mit dem zwingenden Sprechen und Schauen beherrschte er uns völlig. Da, kurz vor dem Examen, kam eine schlimme Geschichte aus. Konrad Balmer hatte nicht nur uns Mitschülern, sondern auch einem Mädchen in Gauenburg, Berta Wegenstein, gefallen, Über der Liebschaft kam es zum Bruch mit dem Seminar und dem Lehrerberuf. Der frische, kecke, trotzige Bursch ging in die Welt hinaus, und lange Zeit, wohl an die zehn Jahre, hörte niemand mehr etwas von Hans Konrad.«

»Und die Berta Wegenstein hat er ganz vergessen während dieser langen Zeit!« rief Duglörli mit erglühenden Wangen in die Erzählerpause des Vaters. »Das wär' aber sehr wüst von ihm.« Vor lauter Eifer, was nun weiter geschehen sei, vergaß sie die Rahmen zu leimen. Der gute Schulmeister Kaspar ließ aber auf sich warten und hobelte so emsig, als sei ihm der Faden der Geschichte ausgegangen, die er vielleicht doch etwas bedenklich für unsere Ohren fand. Bitten und Betteln unsererseits, und er erzählte.

»Es ist halt merkwürdig gegangen,« versetzte er entschuldigend. »Also nach seiner Flucht hat man lange nichts mehr von ihm gehört. Als aber seine Mutter auf dem Sterbebette lag, da kam er als ein Mann nach Selmatt zurück, dem man es von weitem ansah, daß er sein Glück gemacht hatte und unter die Vornehmen und Reichen der Welt gehörte. Er war nach seiner Flucht Kaufmannslehrling in St. Jakob geworden, dann als Angestellter in ein Hamburger Handelshaus getreten. Diesem diente er drei Jahre in Indien. Als er wieder nach Hamburg zurückkehrte, da gefiel er der Tochter des Großhandelsherrn, wie er uns allen gefallen hat. Sie wollte keinen anderen zum Mann als Hans Konrad Balmer, und nach dem Tode seines Schwiegervaters wurde er selbst ein mächtiger Handelsherr mit Schiffen, die über die Meere fahren.«

»Der Mann gefällt mir!« rief ich lebhaft, »und den kennt der Vater und besucht ihn.«

»Ja den!« versicherte Schulmeister Kaspar mit freudigem Stolz, »Hans Konrad ist halt im Glück nicht hochmütig geworden!« Duglore aber hob den Kopf mit leis zürnenden Augen. »Wie magst du nur einen rühmen, Vater, der das Gauenburger Mädchen vergessen hat. Hat sie ihn denn nicht zuerst geliebt!«

»So hör' nur,« dämpfte der Schulmeister die liebliche Entrüstung seines Kindes. »Gott hat doch alles wunderbar zum guten gewandt. Ich hab's miterlebt. Wie Hans Konrad schon als reicher Herr Selmatt besuchte, schloß er mit mir die alte Freundschaft wieder und hat mir manches anvertraut, was sein Herz bewegte. Und einmal trat er freudig zu mir. ›Denk dir, Kaspar,‹ erzählte er, ›ich komme von einem schweren Gang, ich war in Gauenburg, ich habe meine alte Liebe, die Berta Wegenstein, besucht; obgleich sie meinetwegen ums Glück gekommen ist, hat sie mir verziehen!‹ Als aber zwei Jahre später seine erste Gattin, durch die er zu seinem Weltglück gelangt war, starb und ein Jahr vergangen war, – jetzt horch, Duglörli – da kam er wieder ins Land und fragte seine Jugendgeliebte, ob sie die Mutter seines einzigen Kindes werden wolle. Sie wurde es! – Was sagst jetzt, Duglore?« fragte Kaspar mit innigem Lächeln.

»Ich hätt' ihn hinterdrein nicht mehr genommen!« antwortete das Mädchen mit einem an ihr sonst ungewohnten Trotz. Es war reizend, wenn das sanfte Duglörli zornig wurde, und wir beide, der Schulmeister und ich, mußten lachen über ihre blühende Heftigkeit. Kaspar aber wollte einen schönen Schluß an seine Erzählung fügen. Zu mir, dem Erbauteren, gewandt, versetzte er: »Nun leben die beiden in Hamburg und vergessen in Glanz und Ehren der Fremde die Heimat nicht. Als Hans Konrad Balmer das letzte Mal in Selmatt zu Besuch war, fand er unseren Kirchengesang etwas rauh. Da schenkte er der Gemeinde die Orgel. Ihr kennt den Dietrich Hangsteiner im Selachgrund, der beim Triften unglücklich gefallen ist, seit Jahren im Bett liegen muß und sich nicht rühren kann. Hans Konrad Balmer denkt zu Weihnachten stets an den armen Mann und seine große Haushaltung. Er läßt sich auch von allem unterrichten, was in unserem Ländchen Schönes und Nützliches geschaffen werden soll, und ist mit offener Hand dabei. Als eifrige Freunde der Natur in Gauenburg ein Museum gründeten, in dem die Gesteine und Kristalle der Alpenwelt, die schönen und merkwürdigen Versteinerungen, die Schwertfische und Delphine und die fliegenden Fische aus unserem Schieferbruch mitsamt den Tieren des Hochgebirges, der Gemse, dem Bären und dem Steinadler, aufgestellt wurden, da wollte Hans Konrad Balmer auch seinen Teil zu den Sehenswürdigkeiten beitragen. Durch seine Handelsagenten in Ägypten, Indien und Amerika ließ er die vierfüßigen Tiere, Vögel, Schlangen, Krokodile und Fische der fremden Länder jagen und sammeln und übergab sie dem Museum, die Vierfüßer in einer Menge schöner Schaukästen, die Schlangen mit Klappern und Brillen in klaren durchsichtigen Gläsern. Ja, mein Freund Hans Konrad Balmer!« – –

»Mein Freund!« kam es wie ein unterdrückter Freudenruf aus der Seele Kaspars, der sich gar nicht genug tun konnte, das Haupt des Hamburger Handelsherrn mit einer Krone der Menschenliebe und des Lichts zu umgeben.

Seine Bewunderung steckte mich an. »Hans Konrad Balmer ist nun ein Mann nach meinem Herzen, und wie er mir gefällt,« versetzte ich warm, und ließ die Schilderung Kaspars, wie ein ehemaliger Selmatter Junge sich das Glück der Welt erkämpft hatte, in meinem Kopfe weiterklingen; Duglörli aber merkte es und schmollte: »Nun schaust du mit ein Paar Augen, Jost, wie wenn du selber in die Länder hinauslaufen wolltest!«

Das hatte nun freilich gute Weil'; mein Vater nahm mich ja nicht einmal nach Gauenburg mit, wo ich das schöne naturkundliche Museum hätte sehen können, und eher noch als ich in die Welt, kam die Welt zu mir.

Über den unterhaltlichen Erzählungen des Schulmeisters, die sich noch manchmal mit Hans Konrad Balmer beschäftigten, verging der lange Winter im Selmatter Tal, Frühling und Sommer stiegen auf die Berge, und Duglörli und ich hüteten die Kühe der Eltern auf der Bodenalpe über dem Tafelberg.

Da raffte ich mich ohne das Vorwissen irgend eines Menschen zu nachtschlafender Zeit empor und klomm aus lauter Weltdrang durchs mondhelle Gebirge auf den Feuerstein. Ich stand in leis wehenden Morgenwinden, in Schmerzen und Wonnen der Jünglingsjahre auf dem freien Gipfel, und blickte im Strahl der aufsprühenden Sonne in den fast unendlichen Kreis der Berge und Länder, die, aus grauem Schlummer erwachend, sich mit Lichtern, Farben und Freuden schmückten, und meine Seele tastete und dürstete nach einem reicheren Lebensinhalt, als mir ihn Selmatt gab.

Als wäre ich selber ein Kind der Sonne, des Lichts, blieb von dieser Stunde Schauen und Leben etwas Sehnsüchtiges und Erhebendes in meinem Gemüt. Es war aber auch die Zeit, da mir der Tag leer schien, wenn ich nicht die dunkeln Augen, die rostbraunen Zöpfe Duglores sah, deren Gestalt lieblich aufzuknospen begann, und deren eckige Kinderart sich je länger, desto mehr in eine süße, mädchenhafte Weichheit der Gebärden, des Ganges und aller Bewegungen auflöste. Ich wußte indessen selber nicht, was für ein unsäglich glücklicher Bursche ich trotz mancher Härten meines Vaters in Dorf und Alphütte der Heimat war, und nur das Außerordentliche schien mir Wert zu besitzen, das etwa wie der heimliche Besuch des Feuersteins mein sonniges Stillleben unterbrach.

Daher gab mir ein merkwürdiger Gruß der Welt, der Duglörli und mich auf der wonnigen Bodenalpe überraschte, fast ein Jahr zu sinnen und zu träumen.


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