Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XXIV

Ich wurde Mitte Mai der Schüler Sommerfelds. Luft, Sonne, Freude, das heilt ein krankes Herz. Die Seele Bigs war mit jubelnder Teilnahme bei meinem neuen Berufe. Bis der Tod mir die müden Augen beschattet, werde ich das begeisterte Antlitz, den freudigen Stolz nicht vergessen, mit dem sie an meiner Seite im Korbe stand, als ich den ersten selbständigen Aufstieg des »Saturns« leitete.

Als sich Sommerfeld auf den Herbst in den Ruhestand, zu Fischerei und Jagd ins bayrische Oberland zurückzog, erwarben wir aus Dankbarkeit gegen ihn und dem besonderen Vertrauen, das wir in den Ballon setzten, den »Saturn« als eigen. Ehe wir aber mit ihm in die Welt zogen, verlebten wir einen angenehmen Winter in Paris. Was es an Theorien der Luftschiffahrt zu erlernen gab, erwarb ich mir in der Stadt, die vor einem Jahrhundert den ersten Ballon über die Dächer fliegen sah und seither ihre führende Stellung in der Aeronautik behalten hat. Unendliche Hoffnungen hefteten sich an jenes erste Luftschiff, an das mit Flügeln geborene Kind, das den Ikaruswünschen der Menschheit Erfüllung verhieß. Schon als Lernender erkannte ich aber, wie sehr der Ballon, den ein volles Jahrhundert nicht wesentlich hat zum Gehorsam erziehen können, ein launisches Geschöpf, ein trotz allen Formeln nur halb zu berechnendes Spiel der Luft ist; soweit es indessen eine allgemeine Wissenschaft und Technik der Luftschiffahrt gibt, habe ich vor den französischen Meistern die Prüfung als Aeronaut abgelegt.

Mehr als eine Wissenschaft ist die Luftschiffahrt eine Talentsache. Ich besaß das Talent, ich fühlte und spürte, worin das Geheimnis glücklicher Fahrten lag, und anfeuernd ruhten die Augen Bigs auf mir.

»Das ist nun unser Junge!« jubelte sie dem »Saturn« freudig zu. Als selbständiger Luftschiffer ließ ich ihn zum ersten Male in dem mir gar nicht, Big nur wenig bekannten Marseille steigen. Dann wandten wir uns Italien zu, für dessen Städte und Gestade Big von ihrer Wanderjugend her eine fast heimatwarme Neigung besaß, und beschlossen im Herbst in Triest zu sein, damit sie die Spur ihrer ehemaligen Dienerin Gherita aufsuchen und das ihr in der Erinnerung liebe Mädchen als Kammerfrau anwerben könne.

Nicht darauf angewiesen, von der Hand in den Mund zu leben, trieben wir unseren Beruf mit vornehmer Zurückhaltung, vermieden jeden Schein abenteuernden Artistentums und unterließen es, Passagiere durch Überredung zu gewinnen. Darum ereignete es sich im Anfang, namentlich wenn wir in einer der Städte den ersten Aufstieg unternahmen, häufig, daß ich den »Saturn« ohne Gast ins Blau der Lüfte zu führen hatte. Was verschlug's? Ruhig leitete ich meine Füllungsarbeit im Kreis der neugierigen Menge, deren Gegenwart mir stets das Nervöseste an meinem Berufe war, deren Teilnahme ich aber nicht entbehren wollte, da sie einen Teil der bedeutenden Aufstiegskosten deckte. Big, die den Aufenthalt unter den Zuschauern und Zuschauerinnen noch weniger liebte als ich, schaute mir, wenn es ging, aus den Fenstern eines Nachbarhauses zu und trat erst im letzten Augenblick mit leisem Erröten, doch als Dame von Welt, in den Kreis. Lebhafte Bewegung entstand dann stets: »Wer ist die stolze Fremde? Fährt sie wohl mit?« Sie aber kümmerte sich um die Überraschung der vielen Menschen nicht, ließ sich mit anmutsvollem Schwung, wie bei unserer ersten Hamburger Fahrt, von mir in den Korb heben und grüßte, den Sonnenschirm lässig schwenkend, vom »Saturn«, der wie ein ungeduldiges Roß ins Steigen geriet, gemessen in den Zuschauerkreis zurück. »Wer ist die kühne junge Dame, die so ruhig in die Gondel des Ballons wie in einen gewöhnlichen Kahn steigt?« Eine Stadt zerbrach sich darüber die Köpfe, und neben meiner ruhigen Kraft war es vornehmlich die fesselnde Erscheinung Bigs, die für unsere Aufstiege Teilnahme und Vertrauen erweckte und uns die ersten Passagiere gewann.

Die herrlichsten Fahrten waren stets diejenigen, bei denen Big und ich allein in den Sommerstrom der Luft stiegen. Sie besaß ein blindes Vertrauen in meine Sicherheit, fühlte sich auf unseren Fahrten glücklich wie der Vogel und zagte nicht, wenn uns eine Fahrt in unvorhergesehene Abenteuer stürzte.

Das erste, eine Schnelljagd in Gewittern, erlebten wir nach einem Aufstieg in Florenz. Der sich plötzlich erhebende Wind trieb und warf uns über die Apenninen. Bald auf der Erde, bald in oder über den blitzdurchzuckten Wolken, gab sich im sausenden Sturm keine Möglichkeit zu landen. Der Versuch hätte entweder den festgehakten Anker zerbrochen, sein Tau zerrissen oder die Ballonhülle in Stücke gezerrt. Die Nacht brach herein; aus gespenstischen Wolken trat der Mond, und einen Augenblick darauf hüllte uns die Finsternis noch tiefer ein. Den Kopf auf den Korbrand gelegt, suchte ich mit angestrengten Augen die Umrisse der Landschaft unter uns zu erspähen; Big aber jubelte in den Aufruhr der Lüfte: »Jost, mein Sturmvogel!« Gegen Mitternacht warf ich den Guiderope, das Schleppseil, aus, das den Gang des »Saturns« verlangsamte. Endlich gelang die Landung; umsonst aber versuchte ich mit Hornstößen die Hirten des Gebirges herbeizulocken, damit sie uns führten und Quartier verschafften. Wir mußten die Nacht neben dem »Saturn« im Freien verbringen; erst im Morgengrauen kamen die Viehhüter vorsichtig zu uns heran. Sie hatten den Ballon, der ein paarmal im Mondlicht aufleuchtete, wohl bemerkt, erzählten sie, ihn aber für den sagenhaften Stier aus der Offenbarung St. Johannis gehalten, der die Welt auf seine Hörner spießen würde. Herzliches Lachen Bigs, welche die gute Laune keinen Augenblick verloren hatte!

Drei Tage sprach Florenz von dem jungen mexikanischen Luftschifferpaar und seiner abenteuerlichen nächtlichen Fahrt. Im Hotel, in dem wir wohnten, entstand ein Kommen und Gehen von Herren und Damen aus der einheimischen und fremden Gesellschaft, die sich nach den Einzelheiten der Fahrt und unserem Befinden erkundigten. Sie ließen sich von der liebenswürdigen Natürlichkeit und geistigen Selbständigkeit Bigs anziehen, und einige, die uns nur mit Herablassung genaht waren, mußten uns, da sie gingen, etwas größer nehmen, als sie beim Zutritt gedacht hatten. Wir wurden, ohne daß wir es gesucht hätten, in die große Gesellschaft geladen; Bekannte und Passagiere gaben sich, und als wir Florenz nach längerem Aufenthalt verließen, da waren der Händedrücke, der Wünsche: »Auf Wiedersehen hier oder anderwärts!« und der Blumen, die Big gereicht wurden, kein Ende.

Das gab Mut! Fast spielend wuchsen wir in unseren neuen Beruf und in das große internationale Gesellschaftsleben hinein. Niemand hätte in Leo Quifort, der fremde Sprachen und die Formen der Welt wie ein geborener Globetrotter beherrschte, Jost Wildi von Selmatt erkannt, und Big ergötzte sich stets wieder an dem Versteckensspiel, das wir mit den beiden Namen trieben. »Jost – Jost – Jost Wildi!« rief der Schelm, sobald wir aus der Welt in die Heimeligkeit unserer Räume zurücktraten, und die leuchtenden Augen in die meinen begraben, fragte sie kosend: »Jost, gehst du noch am liebsten mit mir?«

Am liebsten ging ich mit ihr! Was waren mir die vielen schönen Mädchen und Frauen, Italienerinnen und Fremden, mit denen uns das Luftschifferwanderleben in Berührung brachte, und ihre Vorzüge, die ich mit dem geschärften Blick steigender Menschenkenntnis würdigte? Meine reinste Augenweide blieb Big, der herzgute Kamerad, dem ich mit der letzten Faser meines Herzens ergeben war, das süße, wonnige Weib, dessen liebkosende Hand kein Wölkchen auf meiner Stirne duldete, die freie, stolze Seele, mit der ich mich in gegenseitiger Anschmiegungskraft der Gedanken bis ins Innerste einig wußte.

Mitten aber in den Freuden der Welt, in der schrankenlosen Hingabe an Big stieg zuweilen in meinem Gedächtnis das Bild Duglörlis wie das einer vorüberhuschenden armen Seele empor. Sogar im Ballon!

In einer wundersamen Septembernacht hing der »Saturn«, ruhig wie eine Ampel, über Neapel in der weichen Bläue, die Land und Meer, die Insel Capri, die Vorgebirge, die weißen Villen, die fernen Berghintergründe und das Sprühfeuer des Vesuvs mit geheimnisvoll lindem Ton zusammenschmolz. Big ruhte auf einem Fell, das ich über die Sandsäcke gelegt hatte. Seit einer Weile schon war unser Gespräch still geworden. Als ich wieder nach der sanft hingegossenen Gestalt blickte, war sie leis eingeschlummert. Ich störte sie nicht, freute mich nur still darüber, daß ihr der »Saturn« so sicher erschien wie dem Kind die Wiege, und träumte über ihrem Schlaf wachend in die Nacht. Da sah ich vor mir zwei traurige, große, dunkle Augen. Die Augen Duglörlis! Unendliche Wehmut umspann mich im Sternenraum. Von den Lippen der Schlummernden aber bebte ein klagender Laut, als fühlte sie schmerzhaft, wie stark ich meiner ersten Liebe gedachte. Als sie nach einer Weile die Augen aufschlug, versetzte ich: »Du hast so schwer geträumt, Kind!« Mit einem bebenden Lächeln erwiderte sie: »Ja, von den Indianerkindern in den Gruben von Marfil!«

Wir erlebten in Neapel den größten Erfolg unseres ersten Luftschifferjahres. Eine junge Neapolitanerin aus der Aristokratie der Stadt, ein feuriges Wesen, das eine lebhafte Zuneigung für Big gefaßt hatte, war unsere erste Passagierin. Die Fahrt endete, wie ich nicht gerade gewünscht hatte, auf dem Schirm einer Pinie inmitten der Kampagnen von Camaldoli, die junge Frau war aber davon doch so entzückt, daß sie ein paar Tage später in Begleitung ihres Gatten und eines anderen Paars auf den Ballonplatz kam und die Gondel belegte. Ich bereitete die kleine Gesellschaft darauf vor, daß der »Saturn« den Golf kreuzen würde, und mietete die »Florence«, ein Dampferchen, damit sie unserem Kurs folge. Von hundert Fernrohren beobachtet, schlug der »Saturn«, mit dem sich die Gesellschaft in höchster Begeisterung erging, die Richtung über das von Ruder- und Segelbarken belebte spiegelglatte Meer gegen das Vorgebirge von Sorrent ein. Allmählich verlangsamte sich sein Flug in der kaum bewegten Luft. Der Abend sank; ich lief Gefahr, wenn ich Sorrent, das weiß herüberschimmerte, wirklich erreichen wollte, in die Nacht zu geraten, und ließ den Ballon sachte bis in die Nähe der Meeresoberfläche sinken. Die Mannschaft der heranführenden »Florence« ergriff das Ankerseil, band es fest, und das Boot zog den stets noch schwebenden »Saturn« wieder nach dem Hafen von Neapel hinein, das im weichen Herbstabend mit einer Myriade von Lichtpunkten aus der dämmerhellen Flut stieg. Als die »Florence« und der »Saturn« gemeinsam an die Kaie glitten, erhoben die Scharen der am Ufer stehenden Menschen unendliche Freudenrufe über das vorher nie erlebte Schauspiel einer Ballonlandung auf dem Meer, schwenkten die Mützen und riefen mit der leicht entflammbaren Begeisterung der neapolitanischen Volksseele: »Eviva Leo Quifort!« Die Hochrufe ließen mich kühl; die Stadt aber stand im Banne des »Saturns«, und eine glückliche Fahrt folgte der anderen.

Nachdem es schon Oktober geworden war, wandten wir uns nach Triest, wo Big die ehemalige Dienerin ihrer Eltern, Gherita, zu besuchen und für sich anzuwerben wünschte. Es vergingen Tage, bis wir die halbverlorene Spur der Italienerin ausgeforscht hatten. Wir fanden sie als glücklich verheiratete Frau auf einem reizenden Gütchen, das eine Viertelstunde vor der Stadt am steilen Abhang der Küste lag. Es konnte nun freilich nicht die Rede davon sein, daß sie uns von ihrem Mann und ihren Kindern hinweg in die Welt folgte; aber eine rührende Freude lag in dem Wiedersehen der beiden jungen Frauen, und mir selber gefiel Gherita, die mit fröhlich dankbarem Sinn viele anmutige Züge und kleine Begebenheiten aus dem Jugendleben Bigs zu erzählen begann, und ihr von Pinien, Lorbeer- und Olivenstauden, Obst und Wein umgrüntes und eingesponnenes Heim.

»Wenn wir nur wie Gherita Kinder hätten, Jost,« versetzte meine Frau mit warmer Empfindung für das Mutterglück ihrer alten Bekannten, »dann wollten wir uns hier auch ein Landhaus bauen! Nicht daß ich Triest als Stadt besonders schätze, aber ich liebe Gherita, ich mag ihren Mann und ihre braunlockigen Jungen und der Fleck Erde ist entzückend schön: molliger Süden, lichtvolles Meer mit weißen Segeln und einem fast unbegrenzten Horizont, in den die träumenden Gedanken wie Schwäne hineintauchen können!«

Sie besuchte Gherita jeden Tag, verwöhnte ihr die Kinder, die zu ihr emporjubelten, und fand im Verkehr mit der gescheiten, frohgelaunten Italienerin ein Stück Jugend wieder, ein Idyll, in dem ihre Seele ruhiger und freudiger als je Atem holte. Mich aber trug die letzte prächtige Fahrt des Jahres mit drei Triester Herren über das öde Karstgebirge und die grünen Höhen der Krain und der Steiermark bis an die flachen Gestade des Neusiedlersees. Als ich mit meinen Gästen wieder nach Triest zurückkehrte, sprachen Big und ich bereits vom Abschied und von dem Winteraufenthalt, den wir in Venedig, Florenz und Rom nehmen würden.

»Wie, Herr Quifort, verehrte Frau,« warfen die Herren ein, »Sie wollen uns schon wieder verlassen und haben Miramare mit seinen zauberischen Gärten noch nicht gesehen, das Schloß, das so eng und so unglücklich mit der neueren Geschichte Ihres Heimatlandes Mexiko verbunden ist?« Aus Dank für die schöne Fahrt im »Saturn« veranstalteten sie einen festlichen Nachmittag- und Abendausflug nach den Schlössern Miramare und Duino, an dem auch andere Herren und Damen teilnahmen.

Der mit den Früchten der südlichen Landschaft behangene Küstendampfer hatte sich kaum aus dem Schiffswirrsal des Hafens gewunden, als uns bereits die beiden vom Herbstsonnenglanz übergossenen Schlösser aus dem bergumkränzten Hintergrund der Adria entgegengrüßten. Helle Geigen- und zärtliche Mandolinenklänge kürzten die Fahrt über das leuchtende Meer; Big sprühte in guter Laune.

Als wir vom Meer in den weißen Traum Miramares emporschritten, gesellte sich der Vater eines unserer Fahrgäste als liebenswürdiger Führer zu uns und erzählte von den schweren Erinnerungen, die mit dem Marmorschloß auf flutumsäumter Felsenstufe verbunden sind. Mit der eindrucksvollen Lebendigkeit eines Augenzeugen und der temperamentvollen Geste eines Italieners schilderte er uns, wie Max von Habsburg, der schwungvolle ritterliche Fürst, und sein junges, schönes Weib Charlotte, die Belgierin, Ausfahrt von ihrem zauberischen Schloß hielten, um dem Ziel ihres Ehrgeizes, der Kaiserkrone von Mexiko, nachzujagen. »Sehen Sie, verehrte Frau, hier stieg das glückstrahlende Paar in das kleine Boot, das es zur ›Navarra‹, dem Ozeandampfer, hinausführte, auf dem schon die mexikanischen Flaggen mit dem Bild des schlangentötenden Adlers wehten. Der Blumenregen des Küstenvolkes überschüttete Kaiser und Kaiserin; als die Kanonen Abschied donnerten, blieb kein Auge trocken, und die Segenswünsche hallten bis über das Meer. Sie wissen, wie schrecklich dann das Blatt sich gewendet hat. Vier Jahre nur! Da lag Kaiser Max erschossen auf einem Hügel inmitten des Truppenvierecks der aufständischen Mexikaner, da sperrte man Kaiserin Charlotte als Wahnsinnige in ein belgisches Kloster, aus dem sie nie wieder treten wird. Der Übel größtes ist eben doch die Schuld, und die Frau kann sich nicht freisprechen, daß sie vornehmlich unseren Erzherzog in das blutige Abenteuer von Mexiko getrieben hat!«

Ich bemerkte wohl, wie Big sich von dem Trauerspiel von Miramare fesseln ließ und ihre Kraft zusammennehmen mußte, um die Haltung in der fröhlich durch die Gärten flatternden Gesellschaft zu bewahren; doch war sie zu sehr Dame der Welt, als daß sie sich von anderen Menschen leicht auf einer Gemütswallung hätte überraschen lassen. In einem Augenblick aber, da wir unbeobachtet miteinander sprechen konnten, flüsterte sie mir erregt zu: »Ich ertrug die Erzählung von Max und Charlotte kaum. Sie führt uns die Abgründe des Schicksals zu erbarmungslos vor die Augen. Kann man sich noch des Lebens freuen? Mir ist, hinter jedem Baum lauere ein Weh, schwarze Fäden flögen durch den sonnigen Tag, über Berg und Meer, von Erdteil zu Erdteil spannen sich die Foltern dunkler Macht. Was hat diese Charlotte von Belgien verbrochen? Sie hat ihren Gemahl auf der Sonnenhöhe des Lebens sehen wollen, wie jedes Weib den Mann, den es vergöttert! Ob ich im alten Duino auch wieder eine so schmerzliche Geschichte mit anhören muß?«

Nein, Duino, das gewaltige, altersgraue Schloß, hoch auf den Felsenzinnen über grauer See, brauchte meine sensitive Big nicht zu fürchten. Aus der schlafversunkenen Feste ist kein hochsinniges Liebespaar gezogen, das sich die Flügel an der Größe seiner Pläne gebrochen hätte! Wir genossen nur das sinnenauflösend schöne Stimmungsbild der Landschaft. Um die finsteren Türme des Schlosses, die sich selbst im Sonnenstrahl nicht erhellen, um die Felsen, an denen die Agave mit ihren spitzigen Dornen klebt, schwebten die weißen Seevögel und die dunklen Raben und spiegelten sich in der zitternden Meerflut, die von den Lichtschirmen der gesellig ziehenden Quallen wie von bunten Lichtern durchglüht war. In Höhen und Tiefen zog friedliches Leben seine Ranken um den versteinerten schweren Gedanken entlegener Jahrhunderte.

Big aber war ganz im Banne eines benachbarten Bildes, der Ruine Alt-Tybein. »Möchte man da nicht Maler sein?« rief sie. »Aus dem Azur des Meeres steigt die wilde, lotrechte Klippe; nur ein zerbröckelndes Riff hält sie mit dem Festland zusammen. Auf ihrer Höhe ragen die Tore, die Bogen, die Türme. Lichtes Blau des Himmels strömt durch sie dahin. Eine weibliche Gestalt noch! Sie hat den Arm auf das Gemäuer gestützt, das Kinn in die hohle Hand gelegt und sinnt in die Meerferne. Das wäre in voller Stimmung das Motiv für ein Bild, das ›Hort der Frau Sage‹ heißen müßte.« Der greise Triester Herr, der meiner Frau wohlgefällig zuhörte, nickte: »Ja, sie wandelt in den Trümmern von Alt-Tybein!«

Da holten uns aber schon Barken ans Land. Unter breitschirmigen Terebinthenbäumen lagerte die Gesellschaft eine reichliche Stunde bei Abendbrot und Spiel, und allgemeines Bedauern regte sich, als der in einiger Entfernung wartende Dampfer mit gellenden Pfiffen zum Aufbruch mahnte. Die Abendröte stand am Himmel, und als das scheidende Boot noch einmal unter den Ruinen auf hohem Riff dahinglitt, brach sie durch die Türme, die Bogen und Tore wie Feuer und rinnendes Blut. Die Blicke Bigs hingen an dem düsterschönen Gemälde.

»Die gnädige Frau hat die Trümmer wohl benannt: ›Hort der Frau Sage‹. Jetzt würde sich kein Fischer mehr in die Nähe des Felsens wagen,« wandte sich der alte Triester Herr zu uns. »Zuweilen soll am Fuß der Klippe die Flut im Mondlicht so traurig aufrauschen, daß der Fischer, der es hört, in spätestens drei Tagen erkrankt und siech bleibt sein Leben lang. Das Volk heißt die gespenstische Erscheinung ›il sospir' del mar‹ – ›das Seufzen des Meeres‹! Auf dem Klippenschloß saß Ritter Ulrich von Tybein. Seinem jungen Weib Jugunde kaum angetraut, wurde er in den Kampf gegen die Türken gerufen. Auf der Altane ließ Jugunde die Lieder der Sehnsucht durch die Harfe klingen. Ein Fischer, jung, braun und schön, trieb den Kahn, senkte die Ruder, vergaß die Netze, lauschte dem Lied und schlug die dunklen Augen zu Jugunde empor. Ein böses Verlangen erfaßte das junge Weib. Vielleicht liegt Herr Ulrich tot und begraben. Sie ließ die Strickleiter über den Felsen hinab ins Meer gleiten. Da war's um die Ruhe des Knaben geschehen; er ruderte heran, stieg und küßte Jugunde den Saum des samtenen Kleides. Über das Schloß aber wachte der treue Vogt und warnte Frau Jugunde in herzlicher Betrübnis. Sie spottete: ›Denkt doch nicht, daß ich wegen eines braunen Fischers meinen hohen Herrn und Gemahl verleugnete!‹ Sie lockte jedoch den Knaben und sprach: ›Warum küssest du mir nur die rosigen Finger, küsse mich lieber auf den rosigen Mund!‹«

Big machte eine Bewegung, wie wenn sie der Sage entfliehen wollte; es ging ihr aber wie mir: wir standen beide im Bann des gewandten Erzählers, und die Höflichkeit gegen den liebenswürdigen alten Herrn forderte, daß wir seiner Geschichte zuhörten.

»Ritter Ulrich kam unerwartet aus fremdem Land,« fuhr unser Nachbar fort. »Als der Ritter am Tor den Vogt traf, war die erste Frage: ›Wie geht es meinem holden Gemahl, nach dem ich mich in Liebe gesehnt habe all die Zeit dahin?‹ Der Vogt aber begann geheimnisvoll zu reden: ›Herr –‹ Da unterbrach ihn der Ritter: ›Nur nichts Böses von meinem Weibe, das nach der Not des Krieges mein Ergötzen sein soll!‹ Liebe und Verdacht stritten sich in seinem Herzen. Stürmisch eilte er Jugunde zu begrüßen. Als er in ihr Gemach trat, war sie wohl allein, aber im Hintergrund der Stube rauschte der Vorhang des Gewölbes. Er starrte. Erbleichend lächelte Jugunde: ›O mein lieber Herr, es ist nur der Wind aus dem Kamin, der mit dem Tuch vor der Nische spielt!‹ Ritter Ulrich erwiderte schwer: ›Wenn es nur der Wind ist, will ich den Vorhang nicht lüften. Was dort hinten liegt, sei begraben und vermauert. Gibst du es zu, dann sollst du als mein treues Gemahl die Lust und die Wonne meines Herzens sein!‹ Jugunde antwortete: ›Warum sollte ich nicht mit dir wünschen, daß die Nische vermauert werde, in der sich der Zugwind fängt?‹ Mit einem grimmen Lächeln der Befriedigung rief der Ritter in den Hof: ›Vogt, die Maurer!‹ Die Handwerksleute kamen und mauerten Tag und Nacht, bis Vorhang und Gewölbe hinter den Steinen begraben lag. Jugunde aber wunderte sich der Treue des Knaben, der lautlos für sie den Tod erlitt, und dachte, sie würde das Geheimnis wohl tragen.«

»Gräßlich, gräßlich!« stöhnte Big. »Ich bin gleich zu Ende,« versetzte der Erzähler.

»Drei Tage blieb es hinter der Mauer still. Da drang aus dem Gewölbe ein wimmernder Laut: ›Liebste!‹ Geisterleis und immer leiser kam die Klage neun Nächte lang, dann ein fast unhörbarer Schrei, als ob ein junges Herz bräche, zuletzt nur noch das windhauchfeine Seufzen einer gestorbenen Seele. Jugunde fuhr empor; mit einem Beil wollte sie die Mauer zertrümmern, die Steine wichen nicht. Ein Seufzer – da wandte die Unglückliche die Axt gegen den schlafenden Gemahl – ein Seufzer – da warf sie die Brandfackel über den Erschlagenen ins Schloß – ein Seufzer – da stürzte sie sich ins Meer, und mit der brennenden Burg rollte der Seufzer in die Flut – ›il sospir' del mar'‹! Von Jahrhundert zu Jahrhundert stöhnt er durch die Wogen, schlägt die Fischer mit Verderben, der Seufzer eines Geheimnisses, der nicht ans Licht der Sonne hat kommen können!«

Big wußte dem Erzähler keinen Dank. Von der düsteren Sage wie zerschmettert, saß sie stumm. Der liebenswürdige alte Herr aber erschrak über die Blässe meiner Frau. Entschuldigend versetzte er: »Gnädigste Frau, nehmen Sie die Sage nicht zu tief. Il sospir' del mar' ist doch nur die volkstümlich poesievolle Auslegung der alten Wahrheit, daß Geheimnisse die Seele eines Weibes zermürben und töten!«

Keiner Erwiderung fähig zitterte Big, als hätte sie selber den Geisterlaut des Meeres gehört.

Da erklangen die Geigen und Mandolinen mit sanften und glühenden Weisen über das mit farbigen Laternen umhängte und geschmückte Schiff. Einige junge Paare begannen zu reigen, und plötzliches Leben fuhr in mein fröstelndes, halberstarrtes Weib. »Jost,« rief sie, alle Vorsicht vergessend, »tanze mit mir!« Nur einige Takte, durch die hohe, schmiegsame Gestalt strömte das Feuer wie in elektrischen Schlägen, und in ihren Augen blitzte der Diamantfunke. Ich versuchte ihre jäh aufsteigende Lust zu hemmen, jener wilde, fremde Zug aber, der dann und wann einmal aus den heimlichsten Urgründen ihres Wesens wetterleuchtete, riß sie mit fort. »Welch ein Satanszauber geht um die Mexikanerin?« flüsterten Stimmen, die ich nicht hören sollte und doch hörte. Mir tat es unendlich leid um Big, um deren fiebrig gerötetes Gesicht die Schlangen ihres halbaufgelösten Haares spielten. Sie tanzte wie eine Bacchantin und als sei ein siedendes Gift in ihre Glieder gefahren. Die angeregte Gesellschaft aber erhob die Gläser auf Abschied und Wiedersehen. Jauchzend rief Big: »Leben und Liebe, sie leben!« und ließ ihren Kelch hell an den meinen klingen. Von der Heftigkeit ihrer Bewegung brach das Glas über dem Fuß und rollte über das Verdeck ins Meer. Da kam sie erschreckt und in jäher Verlegenheit über ihr ausgelassenes Wesen zur Besinnung.

Am Morgen wand sie sich in Fiebern. Der Arzt sprach von einer starken Verkühlung. Von ihrem zuckenden Munde bebten abgerissen die Erzählungen vom vorigen Tag: »Sie wurde als Wahnsinnige in ein Kloster gesperrt, aus dem sie nicht mehr treten wird. › II sospir' del mar'. – Von Jahrhundert zu Jahrhundert rollt er durch die Wogen und schlägt die Fischer.« – Woher die Sensivität Bigs gegen nur gehörte Erlebnisse, die sonst die Menschen nicht tiefer zu ergreifen pflegen.

Sie war aber eine jener starken Naturen, die sich stets wieder emporraffen. Unter der hingebenden Sorge der treuen Gherita, die mehr zu Big als den Ihrigen sah, überstand sie die Fiebertage, und als ich eines Morgens an ihr Lager trat, bebte ein liebliches Lächeln um ihren Mund.

»Ich muß ja wieder gesund werden,« flüsterte sie »um deinetwillen, lieber Jost! Habe ich dir nicht auf Helgoland versprochen, daß ich dich zu vielem führen werde, was groß und schön ist in der Welt, und mit dir durch die geweihten Gefilde der Kunst wandeln wolle.«

Der erste Sommer unserer Luftschifferei schloß wegen der Erkrankung Bigs, die mich mit dunklen Gedanken beunruhigte, nicht so harmonisch, wie ich hatte erwarten dürfen, aber der Kunstwinter in Venedig, Florenz und Rom verfloß uns wie ein schönes, aus heiteren Tagen gesponnenes Lied, an das ich nur mit unendlicher Wehmut zurückdenken kann. Mehr feiner Lebensgenuß, als manche Menschen von der Jugend ins Alter zusammenzuraffen vermögen, war uns beschieden. Mir wenigstens! Big nur mit Einschränkung. Sie trug einen ruhelosen, nagenden Kummer im Herzen. Es erschütterte mich ja gewiß auch bis in alle Tiefen des Seins, als uns Nachrichten über Duglore aus Selmatt erreichten; aber so abgründig wie mein Weib erschrak ich darüber nicht.


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