Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XV

Der Sturm wütet um den Feuerstein! Es jauchzen und Harfen, es weinen und jammern die Geister. Es knallt um die Felsen, als gingen Kanonenschläge durch die Nacht. Mir ist, als würde eine Schlacht um den Berg geschlagen, der ich nicht zuhorchen sollte. Das Lied der verlorenen Seelen, die Stimmen, die Schreie der Verzweifelten klagen und saufen und dringen mir in Mark und Gebein. Trotzdem bin ich in meinem einsamen Observatorium vielleicht glücklicher als jene, die jetzt, den Sinnen» oder einen anderen Teufel im Herzen, durch die Lichter der Städte wandeln. Nein, ich wünsche die alten Zeiten nicht zurück!


Hoffnungslos verrichtete ich in den Balmerschen Schuppen meine Arbeiten wieder; in Heimweh und Zerknirschung wollte ich Duglore einen Brief schreiben, aber jedesmal, wenn ich ihn begonnen hatte, legte ich die Feder entmutigt nieder. Es gab leider nichts, was ich ihr mit aufrichtigem Herzen hätte berichten können, selbst davor, ihr meine Heimkehr anzukündigen, bebte ich zurück. War sie nicht das Eingeständnis eines schmählichen Zusammenbruchs? Es war nicht die Heimkehr in Ehren, die ich mir erträumt hatte, nicht das Wiederauftreten eines jungen Mannes, der auf seine Erfolge stolz sein kann. Wiewohl mich nun der Boden Hamburgs, der mir traut und lieb geworden war, unter den Füßen brannte, das Heimweh mich rüttelte und schüttelte, ließ ich den Brief an Duglore aus Scham über meinen Mißerfolg bei Valmer ungeschrieben.

Dafür erfreuten mich einige Zeilen von Big Dare. Sie lud mich zu einem Stelldichein ans Steintor.

Sie kam wie der liebe Frühling, die blauen Augen blitzten und lachten vor Vergnügen. »Ich habe mich nach Ihnen gesehnt,« erzählte sie mit ihrem schmelzenden Lächeln, »ich besuchte inzwischen den Ballon Sommerfelds, da fehlten Sie mir. Und nun kommen Sie, Herr Wildi, wir wollen einen weiten, weiten Spaziergang machen und uns ausplaudern.«

Es gelang mir nicht, auf ihren munteren, ungezwungenen Ton einzugehen. Darüber schien sie etwas bestürzt. »Hätte ich nicht wiederkommen sollen?« fragte sie mit halber Stimme. »Die Wahrheit, Herr Wildi!«

»Sie sind auf einer falschen Fährte, liebe Big«, erwiderte ich, »ich muß Ihnen ja dankbar sein, daß Sie wenigstens noch Vertrauen zu mir haben. Es geht mir schlecht.« Ich erzählte ihr kurz meine Erlebnisse, den Streit mit Balmer, den Abend in der Spielgesellschaft und die traurige Heimkehr aus der Untersuchungshaft.

Sie horchte mir aufmerksam zu; ein gewinnendes Lachen spielte um ihre kirschroten Lippen. »Ist das nun so schlimm?« versetzte sie warm. »Ich könnte mir Sie nicht ohne Abenteuer denken. Wenn ich ein Junge wäre, hätte ich auch den Drang, überallhin zu gucken; mir tut es nur leid, daß auch das freieste Mädchen nicht so frei ist wie ein Mann.« Sie war strahlender Übermut, die Abenteuerlust blitzte in ihren Augen.

»Es ist aber das Ende vom Lied,« versetzte ich bedrückt. »Der Tag nach der Gerichtsverhandlung bedeutet Heimkehr in die Berge!«

Nun erblaßte Big. »O – o –.« entfuhr es ihrem Mund. »Wir haben uns ja kaum kennen gelernt. Ich habe mich auf so viele schöne Spaziergänge mit Ihnen gefreut. Aber wozu denn heimreisen? Balmer ist doch nur eine einzige Karte im Spiel der Welt. Sie sprachen von seiner Macht über die Menschen. Diese Macht haben Sie ja selbst. Wer Sie ansieht, glaubt und vertraut Ihnen. Auch Sommerfeld hat es gesagt. Sie seien ein außerordentlicher junger Mann, dem ein großer Weg im Leben bevorstände.« Vor Eifer röteten sich die Wangen Bigs.

»Ich bin es meiner Verlobten schuldig, daß ich heimkehre,« erwiderte ich finster. »Es ist meine Pflicht.«

Big Dare schwieg verlegen. Erst nachdem wir eine Weile stumm nebeneinander hingegangen waren, nahm sie das Wort wieder auf: »Ich kann mir das Mädchen nicht recht denken, das den Geliebten in die Ferne hinausziehen läßt und treu und unverzagt wartet, bis er wiederkehrt. Ich wäre die Natur dazu nicht und muß vor Ihrer Verlobten hohe Achtung haben. Aber noch merkwürdiger erscheinen Sie mir. Sie geben Ihre Hoffnungen, Ihre Pläne auf; Sie verzichten auf die Welt, von der Sie doch selber sagen, daß sie Ihnen gefällt, und sprechen von Ihrer Heimkehr wie von etwas Unwiderruflichem. Darin steckt wieder das große Geheimnis, zu dem ich den Schlüssel nicht habe: ›Heimatstärke!‹«

Big brach jäh ab. Die kleine Falte in der Stirn erschien, die dem heiteren Weltkind den Ausdruck des Ernstes gab und ihr ungemein reizend stand.

»Ich bin so unglücklich,« stieß sie hervor. »Sie haben doch wenigstens einen Weg, Sie gehen in Ihr Bergland zurück; ich habe keinen. Doch, wenn Sie von Hamburg fort sind, schiffe ich mich nach Mexiko ein. Was aber später werden soll, weiß ich nicht. Ich kann doch nicht immer in Backfischpensionen leben! Ich suche wohl Gherita auf, ein ehemaliges Kammermädchen, das mir sehr lieb war und jetzt in Triest leben soll, und reise mit ihr durch die Welt.«

Mehr aus Verlegenheit als aus Neugier fragte ich: »Ja, was wollen Sie denn in Mexiko, Big?«

»Don Garcia Leo Quifort,« versetzte sie, »der Advokat, der schon der Berater und Vermögensverwalter meines Vaters war, wünscht, daß ich komme. Er hält den Zeitpunkt für günstig, den alten Verwandtenstreit durch den Verkauf der Minen, um die es sich handelt, aus der Welt zu schaffen. Er freue sich, schreibt er, daß es ihm noch als letztes Lebenswerk beschieden sei, meine Verhältnisse zu ordnen; zugleich aber wünsche er die Dokumente in meine Hand zu legen, da er mit seinen fünfundsiebzig Jahren ein zu alter Herr sei, um die Verwaltung meiner Angelegenheiten weiter zu führen. Das heißt, genau so schreibt er es nicht,« lachte sie mit erbleichenden Wangen, »sondern er rät mir feierlich und dringend zum Heiraten; er wünsche die Papiere meinem Gatten zu überreichen. Heiraten – das ist aber schneller geraten als getan. Selbstverständlich würde ich leicht einen Gatten finden – aber –«

Sie schaute plötzlich mit rätselhaftem Gesicht. Nun lachte sie hell und übermütig und spreizte die Hand: »Gewiß, an jedem Finger würde ich einen Gatten finden, der mich mit allen Launen und Unvollkommenheiten in Kauf nehmen würde, wenn er damit mein Vermögensverwalter würde, ich habe aber für die Ehe kein Talent. Was wollen Sie bei meiner verkehrten Erziehung! In dem Alter, da ich hätte mit Kindern und Puppen spielen sollen, hatte ich bereits Augen für die Männer. Ich nahm es ihnen als Kleine, die nicht höher als ein Grashalm war, schon übel, wenn sie mich übersahen, wenn sie für die Mutter mehr Aufmerksamkeit hatten als für mich: ich ließ mir als Siebenjährige von einem siebzigjährigen Prinzen huldigen, der keinen echten Zahn im Munde hatte und ein Toupet trug, mir aber jeden Morgen einen Strauß duftiger Rosen brachte. Als Vierzehnjährige schrieb ich Sonette auf den jungen, schmächtigen Mann, der mir die deutschen Dichter erklärte. Als ihn mein Vater deswegen davonjagte, beschloß ich, Hungers zu sterben! Anderthalb Tage aß ich nichts. Ich weiß die vielen Torheiten selbst nicht mehr, die ich begangen habe.«

Sie lachte schalkhaft auf, wurde aber gleich wieder ernst. »Sie glauben gar nicht, Herr Wildi, was ich mit siebzehn Jahren für ein unglückliches Mädchen war. Als ahnten meine Eltern, daß sie nicht lange zu leben hätten, setzten sie ihr Sinnen und Denken darauf, mich an irgend einen Mann mit wohlklingendem Namen zu bringen. Zweimal geriet der Plan bis hart vor die Verlobung; aus launenhafter Widerspenstigkeit, bei der doch Verstand war, zog ich aber jedesmal einen Strich durch die Rechnung. Die jungen Männer behandelten mich wie einen niedlichen Affen, der gar nicht wissen könne, was wahr und was falsch sei; daß ich etwas wie eine feine, nach Verständnis dürstende Seele haben könnte, ahnten sie nicht. Seither ist mir gegen Verlobung und Ehe ein garstiges Mißtrauen geblieben; sie kommen mir vor wie ein rotwangiger Apfel, in dem man ganz sicher auf einen Wurm beißt. Guten Appetit – aber nicht mir, sondern den anderen!« Sie lachte übermütig.

»Warten Sie, bis der Rechte kommt,« erwiderte ich mitlachend.

Darüber erglühte sie bis in die Schläfen; einen Augenblick wurde es still zwischen uns. Big suchte sich aus dem verfänglichen Gedankenkreis herauszuwinden. »Herr Wildi,« bat sie, »erzählen Sie mir doch von Ihrer Verlobten. Ich bin außerordentlich neugierig, wie das Mädchen beschaffen ist, das Ihnen gefällt. Ist Ihre Verlobte hübsch?« Am Rande eines Kiefernwäldchens weit draußen vor der Stadt, die rot, grau und blau herüberschimmerte, saßen wir auf einem Polster schwellenden Heidekrautes, und wohlig und neugierig blickte Big nach mir.

Was brauchte sie sich um Duglore zu kümmern, das glänzende Weltkind um die bescheidene Bergblume? Als sie aber den Blick der blauen Augen nicht von mir wandte, erwiderte ich gezwungen: »Ich weiß nicht, ob mir meine Verlobte im Spiegel der Stadt so reizend erschiene wie im Rahmen der Berge. In den Tälern der Heimat habe ich sie überaus lieblich gefunden. Sie spielte in der Kirche unseres untergegangenen Dorfes die Orgel. Dabei lag auf ihrem Gesicht der Glanz ihres frommen Gemüts, und sie war in meinen Gedanken der gute Engel der Heimat, der Frieden und Freude unter den Menschen verbreitete.«

Big blickte versonnen. »Mögen Sie fromme Frauen?« fragte sie.

»In meinen Bergen weiß man nichts anderes als fromm zu sein,« versetzte ich, »an meiner Verlobten gefällt mir die Frömmigkeit, weil sie ihr innerstes Wesen ist.«

»Da hat Ihre Verlobte allerdings einen großen Vorzug vor mir,« erwiderte Big nachdenklich. »Sehen Sie, da gähnt in meinem Wesen wieder einer jener leeren Räume, die meine Erziehung nicht ausgefüllt hat. In jenem Erbschaftsstreit, der das Leben meines Vaters verbitterte, war ein ihm vervetterter Priester einer seiner Feinde; das gab ihm den Anlaß, mit allem zu brechen, was Kirche oder Religion hieß. Er ließ mich in diesen Angelegenheiten wie eine Wilde aufwachsen. Ich wäre in kein Gotteshaus gekommen, wenn wir uns nicht häufig die Bilder besehen hätten, die es in den katholischen Kirchen gibt. Selbst in Hamburg ließ mich der Vater nur unter der Bedingung zurück, daß ich zu keinen religiösen Handlungen veranlaßt werden dürfe. Ich bin also eine vollkommene Heidin, ich habe zu viel Bücher gelesen, die mir den Unglauben ins Blut impften, um je davon los zu werden. Was sagen Sie dazu, Herr Wildi?«

»Das ist Schicksal!« erwiderte ich. »Es kommt aber wohl weniger darauf an, was wir glauben, als daß wir überhaupt gütig gegen die Mitmenschen sind.«

Big schüttelte den Kopf. »Sie meinen, die Menschengüte könne die Religion ersetzen. Mein Vater behauptete, die Kunst! Es ist aber beides nicht wahr. Sobald man mir von einer Frau spricht, der, wie Ihrer Verlobten, ein lebendiger Glaube Natur ist, dann überfällt mich, ohne daß ich selbst fromm werden könnte, ein Neid auf sie; ich spüre, daß sie eine Stütze des Lebens hat, die ich entbehren muß. Eltern- und Heimat- und glaubenslos sein, das gibt einen Riß in die Seele. Ich, der Übermut, habe manchmal Stunden, in denen ich es recht tief fühle.«

Big hatte sich in eine heiße Erregung gesprochen. In ihrer Bitterkeit aber lag eine Seelengröße, die mir mehr zu Herzen ging, als ihr heiterstes Lächeln. Big, das Weltkind, war für mich keine so große Versuchung wie die ernste Freundin, die mir von dem, was ihre Seele bedrückte und bedrängte, und von den höchsten Lebensfragen sprach.

»Sind Sie nicht doch ein wenig undankbar gegen das Schicksal?« fragte ich auf dem Heimweg zur Stadt.

»Sie wissen nicht, wie schwer es ist, die Rolle einer überflüssigen in der Welt zu spielen!« gab sie zornig zurück.

Als ich ihr ins Auge blickte, stand darin eine klare Träne.

Die Träne hatte für mich etwas Überwältigendes. Zum ersten Male bot ich ihr den Arm. Sie nahm ihn mit stiller Dankbarkeit. An diesem Abend aber begann ich eine Gefahr in den gemeinsamen Spaziergängen durch die blühende Welt zu wittern. Ich spürte, daß es mir einmal schwer werden würde, das Bild Bigs aus dem Herzen zu reißen. Im stillen wünschte ich, der Abschied wäre schon da, schon vorüber, zugleich aber waren die Stunden, die ich mit Bieg verbringen durfte, der Sonnenschein der trüben Zeit, in welcher der kommende Gerichtstag seine Schatten auf mein Leben warf. Zum Glück war es kein Hangen und Bangen ohne Ende. Das Verhängnis schritt rasch. Ich wurde noch einmal vor das Untersuchungsamt gerufen, wo man mehr Fragen an mich stellte, als ich beim ehrlichsten Willen zu beantworten wußte, und wenige Tage später erhielt ich die Vorladung zu der öffentlichen Gerichtssitzung, in der ich als Zeuge zu erscheinen hatte. Nun wollte ich nicht mehr im Geschäft Balmer sein, wenn mein Name mit dem wüsten Prozeß verbunden in den Zeitungen genannt würde. Wozu einen letzten fürchterlichen Strauß mit dem »Gewaltigsten« herbeiführen? In herbem Leid und Kampf schrieb ich meinem früheren Wohltäter, an dem ich der übeln Erfahrungen zum Trotz immer noch mit Verehrung hing, einen für seine Güte herzlich dankenden Brief und die Bitte um Entlassung.

Ein Tag verging. Ich hatte eben einen Brief Duglores erhalten, aber noch nicht gelesen; ich stand in meinem Zimmer, sann und überlegte manches, als die blitzsaubere Frau Andreesen freudig den Kopf durch die Tür steckte. »Herr Wildi, die große Ehre! Frau Balmer besucht Sie! Sie erwartet Sie im Salon. Die besondere Ehre!«

Ich ging mit rotem Kopf. Das frische, rosige Gesicht der feinen Frau Balmer, aus deren Wesen mir gute Heimatluft entgegenströmte, blickte mir zuerst etwas ernst und fragend entgegen, dann aber spielte ein leises, mütterlich sorgendes Lächeln um ihre Züge, als hätte sie doch eine Freude, mich wiederzusehen. »Wildi heißen Sie,« begann sie, »und ein Wilder sind Sie! Was ist denn das für eine Art, nur so den Sack vor die Tür meines Mannes zu werfen!« Ihr Vorwurf klang aber nicht böse. »Nachdem Sie den lockeren Vogel gespielt haben, nachdem Ihnen der Brausekopf etwas unsanft zurechtgesetzt worden ist, wollen Sie plötzlich heim, heim ohne ein Lebewohl. Nun, dieses heiße, rücksichtslose Blut kennt man aus eigener Erfahrung. Ging's nach dem Willen meines Mannes, der sich wegen der närrischen Luftballonfahrt ganz an Ihnen verärgert hat, könnten Sie laufen. Aber mir liegt die Sache schlecht. Ich bedenke den übeln Eindruck, den es für Sie, für uns in der Heimat, sagen wir im Kreise der Landammannsfamilie, hervorrufen muß, wenn es nun eine Trennung in Zerwürfnis gibt. Darüber habe ich mit meinem Manne gesprochen. Er erkennt an, daß er selber ein wenig an Ihrem törichten Streich schuld ist, weil er Sie verzogen, weil er Ihnen zu viel Taschengeld zur Verfügung gestellt hat. Kurz, ich habe den verfahrenen Karren wieder etwas eingelenkt: mein Mann ist bereit, Sie zu empfangen. In Hamburg zwar kann Ihre Rolle nicht weitergehen. Sie sind durch die dumme Anbändelei mit der Amerikanerin in unseren Kreisen unmöglich geworden. Aber, mein Mann wird Ihnen eine Stellung über See vorschlagen.«

Ich hatte für die Frau, die mütterlich zürnend und mütterlich lieb auf mich zusprach, zu viel Verehrung, als daß ich den Besuch bei Balmer hätte von der Hand weisen können; es schien mir auch leichter, von der Spielergeschichte mit ihm als mit der Frau zu sprechen, vor der ich mich tief schämte. Ich versprach den Besuch; aber als ich den schweren Gang antrat, begleitete mich kein Schimmer der Hoffnung, daß es für mich je mehr eine Zukunft im bisherigen Geschäft geben könne.

In der Tat war meine Unterredung mit Balmer nur ein Abschied. Ich traf ihn eher bedrückt und wehmütig als zornig. »Sie haben ja wieder eine neue Teufelei begangen,« sagte er in jenem eigenartigen Ton, in dem er seine weichste Stimmung zu äußern pflegte. »Ich habe erst, nachdem meine Frau Sie besucht hatte, davon gehört. Jugend! Ich selber könnte Ihnen die Torheiten verzeihen, so oder anders begeht sie jeder einmal, aber als Geschäftsmann bin ich ein Sklave der Öffentlichkeit. Ein Haus muß blank sein vom obersten Leiter bis zum letzten Lehrling, es darf keinen Punkt zum Angriff bieten. Ich kann Ihnen also die Brücke nicht mehr schlagen, von der ich mit meiner Frau gesprochen habe. Wenn ich Sie jetzt halten würde, wenn ich Sie später in eine größere Stellung vorrücken ließe, seien Sie versichert, nach zehn oder mehr Jahren würde die Tatsache, daß Ihr Name einmal in einem unwürdigen Prozeß genannt worden war, wieder ausgegraben und als Waffe gegen Sie und das Geschäft verwendet. Also muß ich Sie ziehen lassen!«

Der ruhige, bedauernde Ton, mit dem Balmer sprach, verwirrte mich. O, hätte er bei der ersten Auseinandersetzung so verständig zu mir gesprochen, oder nur an jenem Abend noch, da ich ihn um Verzeihung bat, die Spielergeschichte hätte sich nicht ereignet! »Herr Balmer,« keuchte ich, »es tut mir unendlich leid, daß ich Ihre Hoffnungen nicht erfüllen konnte.« Die Worte erstickten mir in der tiefen Bewegung des Herzens. Die Stunde war, das spürte ich, auch für ihn nicht leicht. Er wandte sich gegen die Tür: »Herr Andreesen, ist denn der Brief, den ich an den Landammann in Gauenburg geschrieben habe, schon fort?« »Herr Balmer belieben,« antwortete Andreesen, »er ist eben abgegangen!« Das schien nun Balmer nicht recht zu liegen. »Ich habe dem Landammann natürlich Kenntnis geben müssen,« wandte er sich mit verschleierter Stimme an mich, »daß Sie aus meiner Fürsorge heraustreten. – Also, Herr Wildi, mit Gott!« – Ein Händedruck, das Band zwischen Balmer und mir war gelöst. In furchtbar wirrer Gemütsstimmung ging ich von dem geheimnisvollen Manne, dem ich, wie nie einem Menschen vorher, Einfluß auf mein Denken gewährt, und der mich, wenn auch nicht ohne Kampf, doch leichthin wieder preisgegeben hatte. Sein Brief an den Landammann quälte mich. Was hatte er wohl über mich und meinen Lebenswandel in die Heimat geschrieben? Wenn dort die paar Hamburger Abenteuer einen bösen Schein auf mich würfen! Wie streng urteilte unser Bergvolk über jede kleine Abirrung vom Weg der bürgerlich nüchternen Tugend! Und was in den Bergen einmal auf jemand saß, das saß unbarmherzig und lebenslang, das wurde nicht wieder vergessen, wie man in einer Stadt vergißt, in der ein Ereignis das vorhergehende begräbt. In meiner Gemütsunruhe las ich nicht einmal den Brief Duglores, den ich in der Tasche bei mir trug. Wo ich stand und ging, spürte ich die brennende Pflicht, ihr zu schreiben, und schrieb ihr aus dunkler Bedrängnis und Scham über den Zusammenbruch meiner Pläne doch nicht. Nur das eine war mir bei dem Namen Duglores ganz klar: Ich mußte, wie viel Überwindung es mich auch kostete, heimgehen und ihr ein stilles Glück bereiten. Das war ich unserer Liebe und der treuen Seele schuldig, die so viel um mich gelitten hatte! Frei, vogelfrei, noch ein paar Tage Hamburg, noch der abscheuliche Gerichtstag, dann trennte ich mich von Big, von meinen Weltplänen, dann würde ich in den stillen Bergen ein stiller Mann werden. Leicht ging es nicht! Mir war, ich sei gerufen, meinem eigenen Begräbnis beizuwohnen.

Je näher indes der Tag heranrückte, da ich von Hamburg loskommen konnte, desto mehr drängte es mich zu Big. Ich mochte an nichts und an niemand als an sie denken; sie war mir in ihrer lichten Schönheit, in ihrem freien stolzen Wesen und mit ihrem ungewöhnlichen, glänzenden Geiste mehr, als ich mir eingestehen durfte. Der Gedanke der nahen Trennung, der kein Wiedersehen folgte, umstrickte uns beide mit einem Gefühl gegenseitiger seelischer Nähe, wie es sich zwischen Menschenkindern wohl nur in dem Augenblick ereignet, da sie sich hoffnungslos verlieren. Duglore wirst du immer haben, raunte eine Stimme in mir. Big aber nur noch wenige Tage. Als müßte ich vom Leben noch zusammenrauben, was es bot, warf ich die Sorge hinter mich, so sehr hinter mich, daß ich selbst einen folgenden Brief Duglores ungelesen ließ.

Ich wanderte mit Big im Sonnenschein der Nachmittage in die Umgebungen Hamburgs, in die prächtigen Bauerndörfer der Vierlande. O, die schönen Stunden! In leichtsäuselnden Winden wogte um uns das hohe, von der Blumenpracht des Juni durchblühte Gras. Heuer und Heuerinnen in malerischem Trachtengewand boten uns den Gruß, heimelige Gärten und alte Bauernhäuser mit großen Strohdächern luden zur Einkehr, Big fand es köstlich, daß ich für alles, was die Bauersleute hantierten, das geschärfte Auge des Mannes besaß, der einmal auch dabei gewesen ist und wieder dazu zurückzukehren gedenkt. Ich aber ergötzte mich, wie Big sich mit den Bauernkindern unterhielt, sich mit ein paar freundlichen Worten das Vertrauen selbst der schüchternsten eroberte und mit ihnen zu spielen begann. Sie war eine vollkommene Kindernärrin, vergaß, wenn sie bei ein paar Kleinen stand, Weg und Ziel, und sogar mich.

»Nein, recht ist es nicht, Herr Wildi,« scherzte sie. »Sollten wir nicht jeden Augenblick für uns zusammennehmen? Ich darf Sie ja nicht einmal bitten, daß Sie mir, wenn Sie wieder in Ihren Bergen leben, Nachricht geben, wie es Ihnen geht. Nein, das will ich nicht; es würde Ihre künftige Frau beunruhigen. Aber ohne Andenken sollen Sie nicht von mir sein.« Sie zog ein kleines Bild aus der Tasche und schenkte es mir. Das Porträtchen war ein quergestelltes Viereck, aus dem, von einer Wolke von Locken und Flechten umgeben, ihre Augen, ihr Antlitz in träumerisch süßem Reize schauten. Darunter stand: »Ihrem lieben Jost Wildi, Big Dare!« Ich streckte ihr mit stummem Dank die Hand entgegen. Sie lächelte: »Ich darf mir doch das gleiche Geschenk von Ihnen erbitten, ein Bild und ein Wort des Gedenkens?« »Morgen, Big,« erwiderte ich. »Wir sehen uns, wenn ich meine Zeugenpflicht erfüllt habe.« Sie nickte. Mit einer Zärtlichkeit der Stimme, die ich nie zuvor an ihr gehört hatte, sagte sie: »Ich wünsche Ihnen herzlich, daß Sie mit Ihrer künftigen Frau sehr glücklich leben. Ich soll und werde für Sie eine Tote sein! In einem Lied aber heißt es: ›Ein Tag im Jahre ist den Toten frei!‹ Bewahren Sie mein Bild, wo es den Frieden Ihrer Frau nicht stören kann, meinetwegen in einem hohlen Baum im tiefen Wald, aber einmal im Jahr gehen Sie hin, betrachten Sie still die – Tote – Ihre Freundin Big.«

»Big, sprechen Sie nicht so; es tut mir unsäglich weh,« rief ich, erfüllt vom Trennungsschmerz. »Sie werden für mich eine Lebendige bleiben!«

Sie wagte es nicht, mich anzusehen; sie streifte ein paar Halme am Weg, dann gab sie mir in süßer Verwirrung doch wieder einen Blick. »Jost Wildi, eigentlich ist es ein Unglück, daß wir uns begegnet sind,« flüsterte sie, »wir werden uns doch nicht vergessen können, einander die langen Jahre dahin vermissen.«

»Gewiß, Big,« keuchte ich, »es ist ein Unglück, das sagt mir mein Herz auch.«

Sie lachte gezwungen, wie um sich von einer Last zu befreien. »Geben Sie mir einen guten Rat,« versetzte sie in weichem Scherz. »Wo läuft ein anderer Jost Wildi durch die Welt? Ich will mein Zigeunerleben von ehemals wieder aufnehmen und ihn suchen, wo immer auf Erden er stecke. Meine Bedingungen: Er darf noch keinem anderen Mädchen gehören. Er muß aber gerade sein wie Sie. Die dunkeln, furchtlosen Augen muß er haben wie Sie, die kühne Stirn und das gesunde, goldene Lachen wie Sie, die Frische, die Urkraft, die Echtheit wie Sie! Er darf über seinen Streichen noch stärker ins Wanken gekommen sein als Sie, wenn nur sein Herz noch frei ist.«

»Sie sind grausam, Big,« stammelte ich. »Ich muß doch den Weg der Pflicht und Ehre gehen, sonst würden Sie die erste sein, die mich verachtet.«

Sie antwortete nicht. Sie trat an einen Heckenrosenstrauch, der eben im Aufblühen begriffen am Feldpfad stand, und versuchte einige der Knospen und Rosen zu brechen. Sie standen aber so hoch, daß ich ihr zu Hilfe eilen und die Zweige zubiegen mußte. In diesem Augenblick rief sie: »Herr Wildi, sehen Sie, dort gerade über dem Heufuhrwerk, auf dem die Vierländerleute sitzen, schwebt der Ballon Sommerfelds!«

Wir spähten beide nach der Kugel im Blauen. Auf den roten Lippen Bigs lag eine Bitte, die ich wohl verstand, mit deren Beantwortung ich aber zögerte. Sie war wieder im Zauber des Ballons; die gemeinsame große Fahrt lockte sie wieder, von der sie einst gesprochen hatte. Sie nahm meine Hand mit einem weichen zärtlichen Druck und flüsterte: »Was tut's, ob Sie einen Tag früher oder später in die Heimat gelangen! Und ich habe bereits Ihr Wort. Wie wir gegen die Alster gingen, haben Sie mir ja gesagt. Sie würden mich begleiten, wenn es Ihnen die Umstände gestatteten. Jetzt ist kein Hindernis mehr da!« Berauschend streifte mich der Hauch ihrer wie zum Kuß geschaffenen Lippen; wonnig, sonnig und überredend sprühten die Blitze der blauen Augen.

Da, meiner selbst nicht mehr mächtig, umarmte ich die gertenschlanke Gestalt. »Ich komme. Big – ich mache die Fahrt mit dir – aber einen Kuß muß ich von dir haben, du herrliches, herrliches Weib! – Ich weiß ja erst durch dich, was Liebe ist! Ja, ich will mit dir in Gottes hohe Lüfte steigen, ich will ein schönes, großes, unvergängliches Gedenken an dich haben!«

Die junge Gestalt fügte sich zitternd meinem Kuß, sanft und schmiegsam lag sie an meiner Brust. »Es ist ein Raub, Jost,« flüsterte sie, »aber – ich habe dich so lieb, so unendlich lieb! Ich kann doch nicht wie eine Verstoßene von dir gehen!« In leidenschaftlicher Hingabe erwiderte sie meine Küsse; vor Wonne versank um uns die Welt. »Big,« stieß ich hervor, »du entzückendes Weib, ich fasse es nicht, daß ich dich lassen soll. Ich kann ja von dir nicht scheiden. Ich ginge mein Leben lang am liebsten mit dir!«

Ich blickte in ein wundersam verklärtes Gesicht, in die sonnenhaftesten Augen. »Was sagst du?« flüsterte sie dürstend. »Ich ginge am liebsten mit dir!« wiederholte ich stammelnd. »Ist es dein voller Ernst?« fragte sie in bebender Leidenschaft, als würde sie des Wortes nicht satt. »Big, ich ginge am liebsten mit dir,« wiederholte ich zum zweitenmal. »Und ich mit dir,« flüsterte sie, und gegenseitige wilde Küsse besiegelten das Wort.

Ich weiß nicht, wie lange wir im Liebestaumel unter der Heckenrosenstaude verharrten; als wir aber wieder des Weges gingen, da hing Big erschöpft, gebrochen und willenlos an meinem Arm. »Ich möchte jetzt am liebsten in deinen Armen sterben!« hauchte sie und neigte das schöne Haupt mit leisem Schluchzen auf meine Schulter. »Ich mit dir, du süßes Weib!« stöhnte ich und streichelte ihr die glühenden Wangen.

Da ließ sie jäh meinen Arm los. »Du mit mir, sagst du,« versetzte sie rauh und schneidend und ein kaltes Blitzfeuer in den Augen, »du mußt ja leben – leben für eine andere!«

Wilde Herbigkeit, abgründiger Hohn standen in ihren Zügen. Langsam aber meisterte sie sich. Sie begann von der Ballonfahrt zu sprechen, die wir noch miteinander unternehmen würden; das Gespräch und die Erwartung eines neuen schönen Tages verdeckte ein wenig die tiefe Traurigkeit, die unsere Seelen erfüllte.

Ich war froh, als ich mit Big die Stadt erreichte; aber zum vollen Bewußtsein, wie furchtbar die Flamme der Leidenschaft von Herzen zu Herzen gelodert war, kam ich erst, als wir uns getrennt hatten. Ich empfand ein abgrundtiefes Mitleid mit Big, mit ihrer jäh flammenden Liebe. Du hättest dieses Feuer nicht sollen ausbrechen lassen, schrie eine Stimme in mir, du darfst Big nicht mehr sehen, sonst, sonst – Mächtiger noch schrie die Stimme: Wie hast du Duglore verraten – dein liebes, armes Duglörli!

Und nun kommen Blätter, die ich nur mit zitternder Hand schreiben kann!


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