Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XVII

Nun kam der schwere Tag, an dem ich Duglore manches eingestehen mußte, was nicht leicht zu sagen war.

Als ich sie am Morgen aufsuchte, nickte sie mir frisch und lieb bereits vom Fenster entgegen. In ein paar Sätzen war ich bei ihr. »Wie hübsch du dich aber kleidest, Bergkind!« versetzte ich überrascht. »Das einfache Kleid steht dir so schön!« Die paar Worte der Anerkennung entlockten der lieblichen Gestalt ein glückliches Lächeln. »Nicht wahr,« scherzte sie, »ein wenig hat die Selmatterin bei der Familie Z'binden gelernt?« Sie setzte einen prächtigen breitrandigen Strohhut auf das reiche, rostbraune Haar. »Er hat sehr viel gekostet,« plauderte sie, »es war mir aber daran gelegen, wohlgetan vor dir zu erscheinen.« In hoffnungsreichem Ernst und stiller Freudigkeit begleitete sie mich in das Ameisengewirr der Stadt. Die zag Schreitende kümmerte sich nicht um das lärmende Leben, das uns umgab. Unter dem Hut blickte das frische Antlitz froh und traut, doch mit merklich herberen Zügen als in unseren Selmatter Tagen hervor. Duglore war das halbe Kind nicht mehr, das ich in Zweibrücken verlassen hatte; sie war das in Schmerzen gereifte junge Weib, und ihre Augen blickten groß, glanzvoll und sehnsüchtig nach dem Gelobten Land ihrer Liebe. Warm und demütig baten sie, daß ich erzähle. Ihr gesamtes Wesen bebte in der Erwartung, was ich ihr zu sagen haben würde. »Hättest du nicht an deine Arbeit gehen sollen, Jost?« fragte sie plötzlich, und je einsamere Wege wir einschlugen, desto ernster wurde unser Gespräch.

»Darum hast du mir also nicht geschrieben, Jost, weil es böse um dich steht,« versetzte sie furchtbar betroffen und mit einem herztiefen Seufzer. »Wenn du noch so vorsichtig sprichst, ich spür's ja doch! Gelt, dein Wildblut? Gott selbst hat mir die Unruhe eingegeben, daß ich zu dir habe kommen müssen. Stellenlos bist du und ohne Brot, du Ärmster! Da will ich nicht zu stark forschen und fragen, was gewesen ist, nur, was du jetzt zu tun gedenkst. Jost, gehst du mit mir in die Berge heim?« Schwer Atem holend, erschrak sie über mein Schweigen.

Draußen im morgenstillen Zoologischen Garten auf- und abwandelnd sprach ich mich mit meiner Verlobten aus. »Heimkehren kann ich nicht,« gestand ich ihr mit geschnürter Brust. »Landammann und Rat wissen um mein Zerwürfnis mit Balmer. In der Ansicht der Herren ist alles Recht auf seiner, alles Unrecht auf meiner Seite. Sie haben mir die Heimkehr befohlen, gerade aus Trotz gegen sie gehe ich nicht zurück! Ich bin vor Balmer umsonst zu Kreuze gekrochen, da habe ich mir geschworen, daß ich es vor niemand mehr tue. Nein, vor den Herren in Gauenburg demütige ich mich nicht! Was hülfe es? Wer einmal ihr Mißtrauen erweckt hat, der hat in der Heimat ein Leben wie in einer Hölle; von Gauenburg aus dem Rathaus kriecht ein Etwas in die Täler, daß man im Volksverdacht gekennzeichnet ist. Niemand traut einem mehr von Herzen, niemand gibt einem mit offenem Auge Bescheid, es ist ein stummes Schulterzucken um ihn her. Ich könnte in dieser Luft nicht leben, Duglore.«

»Jost,« erwiderte sie erschüttert, »warum solltest du nicht mit stolzem Kopf wieder in die Heimat treten dürfen? Hast du wirklich Böses getan?« Durch hervorbrechende Tränen suchte mich ihr geängstigter Blick. O, daß ich anders hätte sprechen können! Ich erzählte ihr von dem übereilten Brief, den ich in wogendem Zorn an Landammann und Rat geschrieben hatte.

Sie ließ das Haupt wie eine geknickte Blume hängen. »O, wie traurig, wie gräßlich!« stöhnte sie. »Gegen die Regierung hast du dich aufgelehnt! Das tun doch sonst nur die abgründigsten Menschen. Jost, ich flehe dich an, schließe Frieden mit der Heimat. Ohne Heimat kann es ja keinem Menschen gut gehen.« Die leis singende Stimme, das angstvolle Flehen der blassen Märtyrergestalt, die in der Fremde neben mir wankte, ergriffen und schmerzten mich; das Geschehene aber ließ sich nicht ändern. Meine Redekünste verfingen in der klaren Seele Duglores nicht. Sie versank in ein peinigendes Schweigen; sie berührte keinen Bissen des Mittagsmahls. Tief in sich kämpfend saß sie mit nassen Augen und gefalteten Händen. Mir selber wurde schwerer und schwerer zu Mut und es war mir wie Befreiung, als sie mich aufgelöst in Weh bat, daß ich sie an den Hafen führe, damit sie den Reisegefährten von gestern, den Bauersleuten, Lebewohl sagen könne.

»Duglore,« versetzte ich unsicher, »Amerika ist auch das Ziel, das ich für dich und mich denke. Jenseit der Wasser wollen wir uns eine stille neue Heimat gründen.«

Sie starrte mit blutleeren Lippen. »Nein, Jost,« stammelte sie wie erwachend, »Amerika bräche mir das Herz!« Ein Schauer ging durch ihre Gestalt.

Nun wurde ich selber ratlos und spürte des Lebens Sorge rings um mich. Stumm schritten wir durch die Gassen und erreichten den Hafen. Da lag der schon angeheizte große Auswandererdampfer und stieß aus seinen Schloten die dunkeln Rauchwolken in den blauen Sommertag; auf dem Riesenschiffe und darum her krabbelten die geschäftigen Menschen. Unsere bäuerlichen Landsleute kamen schweren, müden Ganges. »Siebzig Jahre in den Bergen und nun muß ich über das Meer sterben gehen,« knirschte und jammerte der Großvater zu Duglore gewandt. »Hätt' mich vor dieser Reise nicht eine Tanne erschlagen können! Mir wär' wohler! Und nötig wäre sie nicht, hätte mein Sohn zu seinem Heimwesen geschaut.« Um den knorrigen weißhaarigen Alten drängten sich die Enkel wie Vögel, die im Sturm nicht wissen, was werden will, und trüb und kleinlaut reichten die Eltern den Schiffsleuten ihre Habseligkeiten hin.

Endlich, endlich wurde es fünf Uhr! Der Dampfer stieß noch mächtigere Rauchwolken aus, sie verfinsterten Kai und Flut und die sonnigen Giebel der Stadt, Brücken wurden zurückgezogen, Ketten rasselten, Salutschüsse dröhnten, und mächtig aufrauschend wogte das Schiff. Die gefalteten Hände über dem Haupt erhoben, stand verzweifelt der Alte. Letzte Grüße, letztes Winken!

Das Trennungsbild hatte Duglores Kraft erschöpft. »Führe mich in mein Gasthaus«, bat sie. Fassungslos stützte sie sich auf meinen Arm. »Die armen, armen Leute!« stöhnte sie unterwegs ein paarmal wie entgeistert. »Nein, Jost! An Amerika wollen wir nicht denken.«

In ihrem Zimmer, einem Raum von abgestorbener Altmodigkeit, ließ Duglore den Tränen freien Lauf. Mit einem jähen Ruck umschlangen ihre Arme meinen Hals: »O, Jost,« schluchzte sie, »ich bin über alles, was du mir gesagt hast, furchtbar unglücklich. Jost, gehe nicht von mir, bleibe bei mir!« bat sie mit leidenschaftlicher Wärme. Ein Beben, Schütteln und Rütteln lief, als ginge es ans Sterben, durch ihre Gestalt; die Hände in die meinen verkrampft, flüsterte sie: »Lieber Jost, oder sollte ich nicht still, still wieder in die Heimat fahren und keinem Menschen sagen, wo ich gewesen bin? Aber nein, ich kann dich ja nicht lassen! Ich bereite dir so viele Schmerzen, und du hast für dich selber genug zu kämpfen. Gelt, du mein Jost?« Das klang wie eine Kinderstimme.

Ihre bebenden Finger streichelten meine Wangen, singend und klagend woben ihre Töne um mein Ohr. Selber bis in die tiefsten Tiefen der Seele erschüttert und elend zog ich Duglore an meine Brust und erwiderte ihre zitternden Liebkosungen mit heißen Küssen. In Wallungen hoffnungsloser Schmerzen und auflodernder Liebe fand sich im Schicksalssturm der Gemüter Jugend zu Jugend. Leiden und Qual des Tages gingen unter in einer Liebesnacht, in der es kein Bedenken, keine Überlegung, kein Flehen und Wehren, nur ein seliges Sichineinanderneigen der Seelen gab. Es war kein Leichtsinn, kein Übermut dabei, nur das letzte, höchste Bedürfen eines jungen Paars, das sich nicht mehr Steg und Weg auf Erden weiß, das nichts mehr besitzt als seine Liebe und sein heißes Blut. »Jost, was haben wir getan? Ich schäme mich ja vor Gott und den Menschen,« flüsterte Duglore in strömender Zärtlichkeit. »Aber, wenn du lebst, lebe ich mit dir, wenn du stirbst, sterbe ich mit dir, wenn du nach Amerika gehst, gehe ich mit dir. Nur bei dir bleiben will ich. Du bist meine Heimat, ich bin dein getreues Weib und will nicht von dir weichen als im letzten Atemzug!«

Süßes und Liebes, Hohes und Heiliges ging von Stammelmund zu Stammelmund, bis der frühe Sommertag ergraute.


Entmutigt und traurig ließ ich vorgestern nacht die Feder sinken. Ich habe auch gestern nicht geschrieben. Die Blätter reißen ja nur alte Wunden auf! Ich weiß nicht, ob ich sie vollende, und nicht, was ich mit ihnen beginne, wenn sie vollendet sind.

Fallen sie einmal dir, lieber Hans Stünzi, in die Hände, dann bitte ich dich inniglich: Wirf keinen Makel und keinen Stein auf Duglore! Suche mit redlichem Herzen die Stunde, da sie, wie die Krämer des Lebens sprechen, »fiel«, aus den Tagen und Jahren zu begreifen, in denen sie schmerzenreich gewandert ist wie die dürstende Hagar. Da rauschte aus dem Sande die Quelle! Sie hat getrunken nicht nach menschlichem, aber nach göttlichem Recht. Für einen Lechzenden gibt es keinen verbotenen Brunnen, ein Hungriger darf sich an heiligen Broten vergreifen. Gedürstet und gehungert hat Duglore nach ein wenig Glück!

Ich selber trage für jene Stunde die Rechtfertigung in mir. Ich war meiner Verlobten, die unter dem Blitzstrahl des Unglücks leidverzweifelt in meinen Armen lag, das Höchste schuldig; weniger wäre eine Herzlosigkeit, eine Erbärmlichkeit gewesen!

Hans Stünzi hat übrigens, wie er mir gestern abend durch den Draht sagte, selber seine quälenden Sorgen. Der junge Viehhändler Böhninger von Zweibrücken, der seine Augen auf Gottlobe geworfen hat, weilt bei Melchi Hangsteiner auf längeren Besuch, angeblich um dem Alten, der einen schlechten Winter hat, in Scheune und Stall zu helfen, in Tat und Wahrheit wohl, um Gottlobe in den Abenden am surrenden Spinnrad mit bäuerlicher Galanterie zu umwerben.

Ich fürchte, sie erlebt schwere Tage. Der Alte wird sie zwingen wollen! Es wäre für ihn ein ingrimmiger Triumph, wenn er mir durch den verliebten, trostlosen Hans Stünzi melden könnte, daß ihre Heirat mit dem Viehhändler festgelegte Sache sei. Nein, mein zagender Hans, Gottlobe gehört nicht zu denen, die das Glück ihres Lebens um ein Linsengericht verschenken. Ihr liegt der Witterungssinn für Manneswert ja im tiefsten Blut, darüber bin ich ruhig.

Täuschung! Ich bin nicht so ruhig, wie ich sein sollte. Wie ein Löwe möchte ich aus meinem Schneekäfig brechen und handeln! O, daß es doch erst Frühling wär'! – Still, still, wildes Herz! Ich will schreiben, sonst werde ich vor Unrast toll auf meinem Berg!


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