Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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III

Jenseit der grün und weiß erschimmernden, rauschenden Selach, über die eine gedeckte Brücke führte, erhob sich mit steilen Wänden der Tafelberg, die gewaltige Vorburg des noch gewaltigeren Feuersteins. Grau und unwirtlich stach sie wie ein halbzerfallenes riesiges Schloß aus dem Getäfel der Korn-, Flachs- und Erdäpfelfelder, welche die Sonnenhalde des Selmatter Tals bedeckten. Verkrüppelte, einseitig ausgeladene Tannen und Föhren klebten an den zerrissenen Felsen, in der halben Höhe des Feuersteins aber brach der Tafelberg flach ab. Braune Hütten und Hürden schauten von seinem Rand wie von einem hohen Altan lieb und freundlich ins Tal und schimmerten am Morgen schon lange in Sonnenglanz, wenn das Dorf noch in kühlem, blauem Schatten lag. Das war die Alpe Boden, die schönste der Gemeinde Selmatt, eine lange, fast ebene Zinne, auf der sich sommersüber das Alpenvieh in stattlichen Herden erging.

Hinter dem Tafelberg, etwas talein, stieg der Feuerstein zum höchsten seiner Gipfel auf. Mit Felsen wie Riesenorgelpfeifen, mit rötlichem, warmen Gestein ragte er in die Bläue des Himmels, eine Hochwarte, die am Morgen den ersten Strahl der Sonne empfing, am Abend noch in die Länder zündete, wenn das Licht auf den anderen Bergen schon erloschen war, ein Hort der Sage, die ihm in der Betrachtung des Volksgemütes fast etwas geheimnisvoll Heiliges gab. Es war schon damals nicht selten, daß im Sommer Bergsteiger nach Selmatt kamen, am Abend in der »Gemse« rasteten und in der Nacht den Berg erstiegen. Wiewohl es noch keine meteorologische Station auf seiner Spitze gab, war er doch der weit und breit bekannte Wetterheld des Volkes, das seine Verrichtungen im Freien nie ohne einen forschenden Blick nach seinem Gipfel zu beginnen pflegte. Aus dem Volksmunde kannte ich selber von Kindheit an die Menge der Wetterzeichen, die sich am Feuerstein im Wandel des Tages und der Jahreszeiten ereigneten, die lockeren, oft lang hingestreckten Silberfähnchen und Fahnen, die der einbrechende Westwind an seinen obersten Felsendom heftete. Ich wußte, daß das Räuchlein, das am Morgen auf seiner Spitze stand, in der Sonne verging, wieder kam, wuchs und zur Wetterwolke wurde, die Blitze nach oben und unten schleuderte und den ganzen Berg in ein fahles, falsches Leuchten versetzte, und war, wenn ihn die schwarzen, fliegenden Mäntel umhüllten, dröhnend die Runsen erwachten und der Donnersturm wie mit den Posaunenstößen des Gerichts um ihn brüllte, ganz Auge und Ohr.

Ich hatte den Feuerstein lieb, weil mein Vorfahr Wildiwäldi von seinen Höhen herniedergestiegen war, und hätte in meinem Drang nach den Bildern der Welt wie die Fremden tun mögen, die seinen Gipfel erklommen, aber die Selmatter hielten diejenigen, die empor zu Berg wanderten, ohne Wildheuer oder Jäger zu sein, für Halbnarren, und mein Vater hätte an mir die Ausschweifung nicht geduldet.

In der Höhe der Gipfel wohnte die Schönheit, in der Tiefe des Tals die Häßlichkeit. An den Ufern der Selach standen vor den Fundamenten des Tafelbergs, in graudunkeln Mauern geschichtet, die im Berg gebrochenen Schieferplatten, lag in Hügeln der aus dem Werk geschaffte Schutt, der, wenn die Selach hoch lief, in den Fluß geworfen wurde, und war ein Vorrat von Sperrholz bereit gelegt, ein Haufen blanker, auf dem Wildbach hergetrifteter Hochwaldstämme. Um das Gemenge von Schiefern und Hölzern wucherte, von graublauem Gesteinsstaub überstreut, der großblätterige Alpenhuflattich, den ich wegen seiner wollig schmierigen Art nie recht mochte, und erhob der Eisenhut die prachtmäßigen stahlblauen Dolden. Im Hintergrund des Lagerplatzes gähnten aus dem Felsen des Tafelbergs die beiden mächtigen, unregelmäßig ausgehauenen Tore, ein kleineres und ein größeres, die in die unterirdischen Brüche des Werkes führten.

Fällt der Tafelberg wohl einmal auf das Dorf Selmatt und was haben wir dabei für unsere Köpfe zu gewärtigen?

Seit ich mit dem Schulmeisterkind Duglörli das Gespräch der Männer in der »Gemse« erlauscht hatte, verließ mich die Frage nie wieder. Ich hielt das Ereignis bald für wünschenswert, bald den Wunsch für furchtbar verworfen; ich erlebte den Sturz unzählige Male als gruseliges Traumspiel der Nacht und dankte am Morgen Gott, daß die rotgeschnäbelten Bergkrähen noch aus den überhängenden Föhren- und Tannenschirmen des Berges ins Frühlicht flogen.

Daß ich manchmal wünschte, der Tafelberg möchte stürzen und über den Häuptern derer von Selmatt zusammenschlagen, hatte seine besondere Bewandtnis. Jedesmal geschah es nach einer jener scharfen Züchtigungen, die ich mit oder ohne Anlaß von meinem Vater Klaus erhielt. Sie ereigneten sich bei den Besichtigungen der angekauften Äckerchen und ihrer Grenzsteine. »Damit du dein Leben lang nicht vergissest, wo die Marken stehen!« begütigte er mich; doch trugen sich die Schläge auch ohne den Zweck der Gedächtnisnachhilfe zu. »Des Menschen Trachten ist böse von Jugend auf,« sagte der Vater, und unversehens wie ein Gewitter, das über die Hochgräte der Berge einherrauscht, kamen die Schläge. »Nimm's mir nicht übel, Jost! Wir stammen von den Wildleuten her. Das ist Sarassenblut, das man gar nicht genug dämmen und dämpfen kann.« Er schien eine Gefahr darin zu wittern, daß ich schlank und straff wie ein Bolz heranwuchs und unbewußt die Kunst besaß, mich mit jedermann in ein gutes Einvernehmen zu setzen; ja die Leute brauchten nur zu sagen: »Euer Jost, was ist der schön, flink und gescheit!« gleich kam als Antwort eine sinnlose Züchtigung des ahnungslosen Jungen.

In mir aber lebte ein leicht verletzlicher Stolz; voll heimlicher Wut nahm ich meinem Vater die törichten Schläge wirklich übel, und in abgründiger Gekränktheit schrie ich einmal: »Vater, ich wollte, der Tafelberg stürzte und erschlüge dich und mich.« Seine Augen loderten auf: »Da hat man deine Schlechtigkeit! Und auch die schönen Äcker sollen zu Grunde gehen, die ich gekauft habe, für dich gekauft, du Strolch!« Unter seinen schwergenagelten Bergschuhen entschwanden mir die Sinne; als ich wieder zu mir selber kam, da salbte mir die Mutter die Beulen und Wunden, als ich die Augen aufschlug, da herzte und küßte sie mich. Gierig wie einer, der neue Lebenskraft schöpfen will, sog ich ihr den Atem vom Mund, begann vor Elend herzzerbrechend zu weinen, sie mit mir, uns innig umschlungen haltend, ließen wir den Tränen freien Lauf. »Mutter, du gute Mutter, du – du – du bist lieb,« stammelte ich keines anderen Gedankens fähig und unaufhörlich; ich begrub meine Knabenfinger in ihren Nacken und meinen Kopf in die Schlangen ihres Haars, und über der schluchzenden Liebe kam Erleichterung und Erlösung über mich. Ich glaube jener Tag war schuld, daß ich später die geistige Anlehnung mehr bei der Frauen- als bei der Männerseele gesucht habe.

Der Vater schämte sich ein wenig wegen des stillen Erbarmens, das man im Dorf mit mir hatte; allmählich wurde er in den Angelegenheiten der Züchtigung vernünftiger, denn er mußte sich selber sagen, daß ich für mein Alter ein sehr brauchbarer und anstelliger Junge war, aber was Wunder, daß ich ihm nie gern nahte, daß ich keine echte Liebe zu ihm faßte und mich heimlich freute, wenn er den Wanderstab ergriff.

Wie früher zog er im Herbst auf seine Geschäftsreise aus, im Schieferwerk blieben die Dinge, wie sie waren; mit befreundeten Knaben drang ich etwa in das Werk, um Haifischzähne und andere Versteinerungen des Selmatter Schiefers zu suchen, die wir gegen ein wenig Kleingeld an einen wandernden Naturalienhändler verkauften. In den Höhlen und Hallen des Bruchs glommen die Lichter der Arbeiter, durch das Labyrinth von unterirdischen Gängen knarrten und rollten die Wägelchen, an den feuchten, brenzlig riechenden Gewänden kroch der klebrige, goldgefleckte Erdmolch; die Luft zog im Sommer kühl, im Winter feuchtwarm dahin. Ich aber habe den Aufenthalt in den dunkeln, mit Holzwerk gesperrten Schlünden nie geliebt; es erschien mir so traurig, wie das Wasser von der Decke und an den Wänden in Tropfen und Tränen herunterrieselte. Ich konnte mich nicht von der Vorstellung lösen, es gehe ein leises Geisterweinen durch die Räume, und wenn aus irgend einer fernen, verlorenen Ecke des Bruchs ein geheimnisvoller Laut, als hätte das Gestein geseufzt, die Stollen daherschwebte, konnte ich mir nichts anderes denken, als das Bergwerk sei der Vorhof der noch tiefer in der Erde gelegenen Hölle. Hinaus, hinaus ans Gotteslicht! Ich begriff die Leute nicht, die im Bruch ihrem Tagwerk nachgingen, und durch meinen Kopf summte es: was sind die Selmatter für Narren; sie schaufeln sich ihr eigenes Grab! Als hätten sie sich aber das Wort gegeben, sprach in der Gemeinde niemand mehr davon, daß dem Dorf durch das Werk eine Gefahr drohe.

Sprachen die Menschen nicht, so redete dafür von Zeit zu Zeit der Berg, gaben die Geister ihre Zeichen. Die Kräfte, die den Schlamm des Urmeers mitsamt seinen Fischen und Schnecken zu Schiefer geknetet und gepreßt, mit starken Armen die zuerst wagrechten Lagen schief in die Höhe gestellt hatten, waren noch am Leben und am Werk! Unter den Gewölben, in denen die Sorglosigkeit früherer Bergleute zu wenig tragende Pfeiler und Wände des Gesteins übriggelassen hatten, knickte und brach dann und wann ein Sperrstamm, als wäre eine Alpentanne von hundert Sommern nur ein Zündhölzchen. In das Bergwerk hinab rauschten Quellen, Bächlein und Bäche, die am Feuerstein und auf der Bodenalpe geheimnisvoll aus ihrem bisherigen Lauf versiegten. Ihre Ableitung beschäftigte immer einige Männer. Aber was vermögen einige Männer endgültig gegen die Kräfte des Gebirgs? Man sieht die Geister nicht, und sie sind doch da und unermüdlich. Sie feiern den Sonntag nicht, sie schlafen nicht in der Nacht. Ihr Werktag dauert von Ewigkeit zu Ewigkeit, und was nach ihren Entschlüssen geschehen muß, das geschieht in seiner Stunde und in seinem Augenblick. Das geschieht, ob es ein törichter Junge wünscht oder nicht, groß, gewaltig, ehern und erbarmungslos! –

Im übrigen, was kümmerte mich der Schieferbruch? – Philosophische Betrachtungen stellte ich damals noch nicht an, und lieber als der Tafelberg waren mir die Sonnen- und Lichterspiele am Feuerstein, und halb unbewußt trug ich auch schon eine junge Liebe im Herzen. Die galt Duglörli, dem Schulmeisterskinde.

Es war eine etwas eckige, doch leichte und blühende Gestalt. Um ihr Gesicht wand sich rostbraunes, seidenweiches Haar, auf den Wänglein saßen ihr wie hingespritzt ein paar Sommersprossen, doch nur so viele, daß man ihretwegen grad sah, wie fein und zart das Gesichtchen gebildet war. Ihre Augen aber blickten so groß, daß man manchmal in dem Schlankoval ihres Antlitzes überhaupt nur die sinnenden, träumerischen Augen unter den dunkeln Wimpern sah.

Die Jugend hat aber ihre seltsamen Liebeserklärungen. »O, wie bist du häßlich,« rief ich Duglore zu. »Du hast gestielte Augen und bist eine Rote obendrein!« Worauf sie weinte und mit den schmalen Füßchen stampfte, bis ich nach einer Weile bat: »Glörli, sei wieder gut! Du bist nicht fuchsrot, sondern nur ums Merken ein wenig rot.« Lassen konnten wir uns nie.

Bei ihr und in ihrem gemütvollen Elternhaus habe ich die reinsten Tage meiner Jugend verlebt, und wenn in meinem Wesen, wie der Vater meinte, etwas Abgründiges stak, das unterdrückt werden müsse, so begleitete es mich doch gewiß nicht in die Stube meines herzgütigen Lehrers und seines lieblichen Töchterleins. Die gesamte Familie, Vater, Mutter und Kinder, waren stillfrohe, treuherzige und grundbrave Menschen, bei denen nur gute und liebe Gedanken Raum hatten. Und die junge Liebe, die zwischen mir und dem Nachbarsmädchen emporwuchs, war rein und fein wie Bergblumenerwachen am schmelzenden Schnee.

Von meinem lieben Duglörli will ich jetzt erzählen.


Nein, drei Abende hat die Feder geruht.

Hans Stünzi, mein junger Freund aus Selmatt, und Doktor Wilhelm Gutleib, der Assistent der Meteorologischen Landesanstalt in St. Jakob, waren bei mir auf Besuch. Sie hielten Inspektion und Inventarisation der Wetterwarte. Bis auf ein paar leicht auszugleichende Kleinigkeiten sind die Hütte, das Viertelhundert von Instrumenten und die mannigfaltigen Uhrwerke der Apparate, die ihre Beobachtungen selbst aufschreiben, für den Winterdienst wohl im Stand. Auch die Vervollständigung des Proviantvorrats hat begonnen; acht Träger sind an der Arbeit, vier schaffen die Lasten von Selmatt bis an den Bösen Tritt, vier andere bringen die Büchsen, Schachteln und Kisten in das Observatorium hinauf. Hans Stünzi ist mein Kurier, treulich hat er alles nach meinen Angaben besorgt; von hunderterlei Dingen, die mir nach siebenjähriger Erfahrung für das Winterleben notwendig sind, fehlt nichts, was so groß wäre wie der Punkt eines i. Das meiste mußte die Landesanstalt vergüten, einiges ist persönliche Angelegenheit; ich mag in der Einsamkeit nicht ohne manche jener kleinen Bequemlichkeiten sein, an die ich mich in der großen Welt gewöhnt habe! Sie sind da!

Achtung vor meinem treuen Hans Stünzi. Mit Doktor Gutleib aber habe ich mich gezankt und mich beschwert, daß sommersüber jenes Stück der Drahtleitung von Selmatt nach dem Observatorium, das immer noch den Lawinen ausgesetzt ist, nicht unterirdisch gelegt worden ist, wie es die Meteorologische Landesanstalt auf meine Bitte in Aussicht genommen und versprochen habe. »Die Herren Tal-Meteorologen mögen doch einmal kosten, wie es tut, wenn man bei gebrochenem Draht von jeder menschlichen Mitteilung abgeschnitten wie ein Häftling im weißen Schneekäfig sitzt!« zürnte ich.

Ich geriet in Eifer und wurde dem blondbärtigen, rosenwangigen Doktorjüngling unheimlich. Mit einem Seidentuch seine Brillengläser fegend, an denen schon vorher kein Stäubchen war, erwiderte Doktor Gutleib stammelnd: »Sie wissen ja, Herr Quifort, Sie wissen ja, man studiert auf der Landesanstalt die Verlegung der meteorologischen Talstation von Selmatt nach Tusswald, von der Gebirgs- auf die Flachlandseite des Feuersteins. Es wären Vorteile dabei. Der neue Touristenweg von Tuffwald auf den Gipfel ermuntert dazu. Sobald die Talstationsfrage erledigt ist, wird es unsere erste Sorge sein, daß das Observatorium sein vollständig sicheres Kabel erhält; aber bis zur Entscheidung der Stationsfrage müssen wir Sie um Geduld bitten, Herr Quifort – wir wollen hoffen, daß Sie diesen Winter« –

»Selmatt ist die einzig richtige Talstation«, fiel ich dem Assistenten ins Wort. »Der Weg an der Sonnenhalde des Berges, mag er etwas schlechter sein als der von Tuffwald her, ist drei Wochen im Frühling früher schneefrei, und dann haben wir am jetzigen Lehrer von Selmatt einen Talwart, der zuverlässig wie Gold und mit Einsicht und Eifer bei seinem Amte ist. Darum halte ich die Frage der Stationsverlegung für ein Stück müßiger Bureaukratie.«

In diesem Augenblick trat Hans Stünzi ins Observatorium; er hörte eben noch das Lob, das ich ihm bereitete. Darüber erglühte er freudig.

Herr Assistent Doktor Wilhelm Gutleib, der rosenwangige, verweichlichte Stubengelehrte, stelzte am zweiten Tag mit geputzter Brille, tadellosem Überzieher und seinen Ledergamaschen nach Tuffwald hinunter. Er wird der Meteorologischen Landesanstalt die Mitteilung bringen, der Wetterwart Leo Quifort sei ein ruppiger Herr. Die Stadt habe den Doktor selig und gebe mir, daß ich ohne Drahtbruch über den Winter komme.

Hans Stünzi blieb zum anderen Tage und bis gegen Sonnenuntergang. Er ist blond wie der Doktor. Aber welch ein Unterschied! Während die Blondheit des Doktors etwas ungemein Fades, Ungesättigtes hat, verrät diejenige Hans Stünzis erdgeborene Urkraft. Freilich, wie kühn sind ihm die Stirnecken gebaut! Und wie ihm die Augen herzerquickend sprühen! Es ist gerade, als breche ein Strahl starken, schaffenden Geistes aus ihnen hervor. Ich glaube es ihm gern, daß die kleine Schulstelle in Selmatt mit ihrem Dutzend Kindern und das bißchen meteorologischen Dienstes seinem Tätigkeitsdrange nicht genügt.

Nun habe ich meinen jungen Freund tüchtig ausgeforscht und ausgelauscht. Er ist ein lieber, gescheiter Mensch!

»Herr Quifort, könnte ich mir mein Leben so gestalten, wie ich wollte,« gestand er mir, »so wäre ich jetzt mit meinen vierundzwanzig Jahren wohl Zögling einer polytechnischen Schule; ich spüre es, die Ingenieurkunst wäre mein innigster Lebensberuf. Dürfte ich dieser Neigung folgen, würde ich nicht ruhen und rasten, mich Werken von Landeswert widmen, Bergstraßen anlegen, Lawinenzüge verbauen, Wildwasser zähmen, die lebendige Kraft unserer Ströme in schaffende Elektrizität verwandeln, unsere Dörfer mit Licht und Kraft ausrüsten, irgend etwas Großes wollte ich für die Heimat tun. Aber da balle einer die Faust, wenn er keine Finger hat! Meine Mutter ist eine kleine Ellenwarenhändlerin im Städtchen Gauenburg, die schon die Kosten meiner Lehrerbildung fast nicht hat erschwingen können!«

Es war ergreifend, wie er von seinem Glauben, seinen Plänen, seinem Ehrgeiz sprach. Die Worte kamen ihm mit bebendem Metall der Stimme wie aus elektrisch geladener Seele, die den Überschuß ihrer Kraft weitergeben muß, zugleich aber mit der Verhaltenheit und Bescheidenheit eines Menschen, der die Unzulänglichkeit seiner äußeren Mittel auch im Augenblick der Begeisterung nicht vergißt. So sehr mich aber seine Herzensentladung fesselte, sprach ich nicht viel dazu und habe ihn damit wahrscheinlich enttäuscht. Ich dachte an Gottlobe, wie früher übrigens auch schon, wenn ich mit Hans Stünzi zusammenkam. Die zwei prächtigen Menschenkinder wären es gegenseitig einander wert, daß sie einen Bund fürs Leben schlössen. Ich wüßte für Gottlobe keinen treueren Schützer als Hans Stünzi. überhaupt, wen anders als Hans soll sie in Selmatt, dem verlorenen Weiler und Winkel, finden, der ihr Lebensgefährte werden könnte?

Ich lenkte das Gespräch auf Gottlobe hinüber. Während wir so plauderten, bemerkte ich, wie die frisch lebendigen Augen Stünzis ungewöhnlich scharf prüfend über die Züge meines Gesichtes liefen. Als er sich ertappt spürte, wurde er purpurrot. Ich aber lachte: »Sitzt mir eine Fliege auf der Nase, oder suchen Sie den Totschläger in meinem Gesicht, von dem die Leute sprechen?«

Er spürte, daß er eine Antwort geben müsse, also stotterte er tief verlegen, aber wahrheitsmutig: »Ich sah in Ihrem Gesicht eben – eine große Ähnlichkeit mit Gottlobe. Sie gleicht Ihnen mehr als ihrem Vater oder ihren beiden Geschwistern!«

Daß ich bei diesem Wort nicht vom Stuhl fiel, war alles; doch habe ich in meinem Weltleben die Kunst gelernt, mich nicht überraschen zu lassen. Das war in diesem Augenblick ein Glück. Schalkhaft lachend wandte ich den Spieß: »Die physiognomische Entdeckung macht der Stärke Ihrer Einbildungskraft volle Ehre, aber, mein lieber Herr Stünzi, Gottlobe hier, Gottlobe überall, selbst in meinem verwitterten Gesicht, da gestatten Sie mir doch auch eine Entdeckung – Sie sind närrisch verliebt und verschossen in das Mädchen!«

Nun war er unendlich verwirrt. »Die Liebe ist hoffnungslos,« warf er gequält und düster hin, »noch hoffnungsloser als die Ingenieurkunst. Ich würde gern Lehrer in Selmatt bleiben, wenn wenigstens daraus etwas werden könnte. Nicht Gottlobe ist mir abgeneigt, aber ihr Vater, Hangsteiner, haßt mich wie einen Erdkrebs, von dem er merkt, daß er in seinen Garten dringen möchte. Ich habe früher jede Woche einmal einen Abendbesuch in seiner Familie machen und mit Gottlobe ein paar Lieder singen dürfen. Jetzt nicht mehr. Hangsteiner hat mir das Haus verboten. ›Warum – darum!‹ sagte er schulterzuckend, als ich ihn um Auskunft über die harte Wegweisung bat. Der Mann ist aus lauter Mißtrauen zusammengesetzt. Er wird Gottlobe diesen Herbst auch nicht mehr mit mir auf den Feuerstein auf Besuch zu Ihnen steigen lassen.«

Hans Stünzi schaute mit wahrhaft trostlosen Augen.

»Doch, doch, Gottlobe wird mit Ihnen kommen,« erwiderte ich. »Ich gebe Ihnen einen Brief an Hangsteiner mit, der ihn an ein altes Versprechen erinnert.« Darüber war mein junger Lehrer wieder sehr verwundert. Genug, ich weiß jetzt, daß er sie liebt, und wenn sie ihn wieder liebt, dann...

Nachdem Hans Stünzi gegangen war, faßte ich den ganzen Abend Pläne für die beiden. So wahr ich Jost Wildi von Selmatt bin, soll es, wenn sich die beiden lieben, kein Ehehindernis geben. Hans Stünzi soll Ingenieur werden und Gottlobe seine Frau. Ich habe die Mittel, gegen die granitene Bauernhärte Hangsteiners Minen springen zu lassen, die gegebene Versprechen nicht verletzen.

Unglaublich gefährliche, scharfe Augen hast du, mein lieber Hans Stünzi, aber du magst forschen und kombinieren, wie du willst, du wirst den Faden, wie alles zusammenhängt, nicht finden; dafür ist er in ein zu verworrenes Gewebe menschlicher Schicksale hineingesponnen. Ich ergreife ihn wieder und erzähle von deinem Vorgänger Kaspar Imobersteg und seinem Kinde Duglörli.


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