Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XIV

Ich war auf unserer Schreibstube mitten in der Arbeit, und die Uhr ging schon auf elf.

Da kam Sekretär Andreesen hastig, blaß und erregt gelaufen: »Herr Balmer lassen Herrn Wildi sofort bitten!« In meine Verwunderung fuhr die Überlegung: Habe ich mit der Ballonfahrt doch eine Torheit begangen?

Bei meinem Eintritt in das grüne Kabinett, in dem die Fäden des Geschäftes zusammenliefen, lag auf dem Schreibtisch vor dem »Gewaltigsten« ein Zeitungsblatt aufgeschlagen. Die Mundwinkel heruntergerissen, die Augen hervorgequollen, einen bitterbösen Zug im Gesicht, warf er mir einen Seitenblick zu; dann einen Rotstift ergreifend, strich er mit schwerer Hand eine kurze Stelle der Zeitung dicht sichtbar an und reichte mir das Blatt. »Lesen Sie!« keuchte er, sich mühsam beherrschend. Ich las: »Nachdem Kapitän Sommerfeld seinen Ballon ›Saturn‹ einigemal, nur von einem Gehilfen begleitet, über unsere Stadt geführt hatte, erwarb er sich gestern die ersten zwei Passagiere für seine Gondel. Diese ersten Fahrgäste aus der Bewohnerschaft Hamburgs waren Herr Jost Wildi, Beamter unserer bekannten Importfirma Hans Konrad Balmer und seine Begleiterin, eine junge Dame, deren Name uns leider unbekannt geblieben ist. Die elegante Fahrgastin, deren Ruhe und Kühnheit das amerikanische independent girl zu verraten schien.« – Die Buchstaben tanzten mir vor den Augen. Zu Tode erschrocken, legte ich das Zeitungsblatt hin. Ich wollte sprechen, aber mit einer raschen unwilligen Bewegung schnitt mir Herr Balmer das Wort ab. »Schweigen Sie!« schrie er und fuhr mit dem ausgestreckten Zeigefinger etlichemal nach dem Zeitungsblatt, als ob er es durchbohren wollte. Ein paar keuchende Atemzüge, und fürchterlich anwachsend, kam sein Donnerwetter: »Was? Die Beamten meiner Firma fahren Ballon? Muß ein nettes Schwindelgeschäft sein, dessen Beamte Ballon fahren dürfen. – Meine guten Freunde werden eins lachen. Ich höre, wie sie lachen. – Nein, nein, Sie Lausbube, Sie – Sie – –, meine Beamten fahren nicht Ballon. – Amerikanisches independent girl. – Sie machen mir wirklich Freude, Herr Wildi.«

Ich wollte erwidern, aber wie ich nur zum Sprechen ansetzte, geriet Balmer in eine zornigere, abweisendere Bewegung. Mit jedem Wort wuchs seine Wut, sein geschwollenes Gesicht wurde dunkelrot, er sprang vom Stuhl, rannte das Gemach auf und nieder, stellte sich vor mich hin und brüllte: »Ich will Ihnen zeigen, daß Sie kein Beamter sind, ein Lausbub' sind Sie, dem der Kamm geschwollen ist, ein ganz gemeiner Lausbube, der zum Beispiel für andere wieder bescheiden werden soll. Ihre Privatstunden sind Ihnen entzogen. Das Monatsgeld ist Ihnen gesperrt. Hätt' ich Sie doch Sauhirt in Selmatt bleiben lassen. Sie! Wer Ballon fährt, wird nie ein Kaufmann, das wird ein Abenteurer, ein Schwindler. Ja, ja, bei dem künftigen kurzen Futter werden Sie Ihr – Ihr independent girl wohl streichen müssen.« –

»Rohrmann – Rohrmann!« rief er dann, indem er die Kontortüre aufriß. Der Gerufene stürzte herbei. »Rohrmann, schreiben Sie doch, was ich Ihnen sage: ›Der Bericht über die sonntägliche Ballonfahrt enthält bedauerlicherweise einen groben Irrtum. Der darin genannte Herr Jost Wildi ist nicht – unterstreichen Sie das ›nicht‹ dreimal – Beamter oder auch nur Angestellter des Hauses H. K. Balmer.‹ Gut, damit eilen Sie auf die Redaktion des Blattes. Verweigert sie die Aufnahme der Berichtigung, drohen Sie mit Kreditschädigungsklage.« Der Beamte flog.

»Sie stehen noch hier, Herr Wildi!« rief der »Gewaltigste« mit schneidendem Hohn. »Sprechen möchten Sie? Hier wird aber von Ihnen nicht gesprochen. Arbeiten Sie etliche Monate still und angestrengt im Schuppen; vielleicht bin ich dann wieder für Sie zu sprechen.« Damit wandte er mir mit einer Gebärde der Verachtung den Rücken zu.

Ich taumelte wie ein Betrunkener davon. Ich weiß nicht mehr, wie viel Leute ich auf der Straße angerannt habe, wohin ich vom Morgen bis zum Abend rastlos wanderte, nur daß ich einmal an der Elbe stand und dachte: Dahineinspringen mit der grenzenlosen Schmach, die dich langsam tötet. Lausbube, Lausbube hat er dich genannt! Er ist ein Tyrann, ein Tyrann! Ich schäumte vor Wut, ich stöhnte: Kein Wort der Erklärung oder Verteidigung habe ich sprechen dürfen. In einem jähen Zornanfall wünschte ich, der Journalist liefe mir in die Hände. Dann würde ich ihn prügeln. Allmählich aber kamen in mein einsames zorniges Weinen vernünftigere Gedanken. Ich begriff, daß die Ballonfahrt ein unüberlegter Streich gewesen war, daß der Zeitungsbericht darüber Herrn Balmer bis ins Herz ärgern und doppelt peinvoll kränken mußte, weil ich, sein verhätschelter Liebling, der Anlaß des Ärgers gewesen war. Ich begriff alles. Nur die Schmach hätte er mir nicht antun sollen, daß er mich mit der Zurücksetzung in den Schuppen vor dem gesamten Geschäfte züchtigte. Das war zu viel! Das war wie aus dem Haus geworfen! O, wie hatte ich diesen Mann geliebt! Wie einen Vater. Nein, mehr noch! Und nun handelte er so grausam an mir! Aus dunkelm Gefühl spürte ich auch, daß es nicht die Ballonfahrt war, die ihn so fürchterlich gereizt hatte, nein, nicht der törichte Streich, der ja wohl einigen leichten Spott, aber keinen ernstlichen Schaden auf das Haus bringen konnte, sondern die vermeintliche Liebschaft mit Big Dare. Seine Wut war die des enttäuschten Wohltäters, der seinen Beschützten wie seinen Leibeigenen betrachtete, der eifersüchtig neben sich keine Verehrung duldete, selbst nicht diejenige für ein Weib. Da saß der stärkste Stachel. Aber wie Balmer diesen Stachel aus dem Gemüte ziehen?

Ich verlebte einen furchtbar elenden Tag! Als gegen Abend wieder der Ballon Sommerfelds am Himmel zog, verwünschte ich ihn nach dem dunkelsten Afrika. Endlich suchte ich müde und zerschlagen mein Quartier bei den Sekretärsleuten auf, die sich in ein beredt scheues Wesen gegen mich hüllten, vollendete mit einer raschen Wendung meinen Brief an Duglore und schloß: »Verzeih, liebe Duglore, den schlechten Schluß; du siehst es aus der Schrift, es ist mir über Tag unwohl geworden.« Obgleich die Hoffnungen, die ich darin aussprach, kaum mehr zu Recht bestanden, trug ich das Schreiben am Morgen auf die Post. Auf dem Weg kämpfte und rang in mir die Frage, ob ich mich wirklich in den Schuppendienst wolle erniedrigen lassen. Es schien mir über meine Kraft zu gehen. Zuletzt aber stellte ich, der stolze, ehrgeizige Jost Wildi, mich meinen früheren Aufsehern. Ich mußte mit Balmer wieder zum Frieden kommen, und der erste Schritt dazu war wohl die Selbstüberwindung; doch litt ich heimlich mehr Schmerzen, als ich mir gestehen wollte. Die Abrede mit Big Dare lag mir ganz und gar quer. Ja, wenn ich noch derjenige von vorgestern gewesen wäre. Aber seit dem gestrigen Erlebnis war sie mir fremd, bitterlich fremd und trotz ihrer großen Schönheit gleichgültig geworden. Plötzlich empfand ich es als eine Unweiblichkeit, daß sie in keckem Entschluß die Fahrt mitgemacht hatte, und witterte in ihr ein abenteuerliches Blut.

Ich ging aber doch ans Steintor und dachte, wenn die fremde, schöne, geheimnisvolle Abigail Dare und ich einander auch nicht viel sein könnten, so sei der Abend doch eine kleine Auslösung aus brennender Qual. Wie ich mich eben unter die vielen Menschen mengen wollte, die lenzfroh durch die Anlagen wandelten, fuhr das Frühlingsmärchen lichtblau in einem Wagen daher und nickte und lächelte mir schon von weitem zu. Nun schritten wir durch den sonngoldenen, duftigen Maienabend unter einer Allee von Kastanien, die ihre Blütenkandelaber weiß und rosig entfalteten, und ich spürte doch wieder den Zauber ihrer unnennbar schönen Jugend.

»Verzeihung, Herr Wildi,« war ihr erstes Wort. »Ich fürchte, daß Sie durch die Fahrt in Verlegenheit gekommen sind. Ich schloß es aus der Erklärung Ihres Geschäfts, ich lese es in Ihren Zügen. Es tut mir nur innig leid, daß ich die Schuld daran trage. Ich würde gern dafür büßen, weiß aber nicht wie!« Sie lächelte schelmisch und gütig, und ihr heiterer, herzlicher Ton tat mir wohl. »Indes hat man, wenn man Sie so betrachtet, Herr Wildi, den Eindruck,« fuhr sie scherzend fort, »daß es für Sie eigentlich keine Schwierigkeiten gebe, daß Sie alle spielend überwinden. Gewiß auch diese!«

Nun mußte ich lachen. »Sehr viel Zutrauen,« versetzte ich. »Wie kommen Sie zu dem schönen Glauben, Fräulein?«

»Ich weiß es nicht so genau,« erwiderte sie schlicht. »Es geht aber ein Strom von Kraft und Stärke von Ihnen aus, daß man denkt, Ihnen müsse alles glücken, was Sie angreifen. In Ihrer Ruhe und in Ihrer Bewegung liegt eine sichere Kraft. Das hat mich ermutigt, Ihnen in den Ballon zu folgen; ich sah es aber schon auf Helgoland, wie Sie den Falm abwärts stiegen. Sie haben eine Art, den Boden zu greifen, gleichsam im Schritt mit ihm zu verwachsen, daß ich damals dachte, Sie kämen aus einer Berg- oder Felsenlandschaft, Sie seien nicht immer Städter gewesen. Aber vielleicht hatte ich den Eindruck doch nur, weil durch Ihr Wesen überhaupt Urkraft der Erde geht.« –

Ich blickte Big Dare überrascht an und versetzte: »Nein, Ihre feine Witterung ist im Recht, ich komme von den Bergen. Kennen Sie die Berge?«

»Ein wenig,« sagte sie, »ich habe hin und wieder mit meinen Eltern ein paar Hochsommerwochen darin zugebracht. Als Kind und junges Mädchen nämlich. Jetzt leben meine Eltern nicht mehr. Sonst wäre ich nicht in Hamburg.« Sie schwieg etwas versonnen, deutete mit dem Sonnenschirm auf eine von mächtigen Fliederstauden umblühte Bank: »Wollen wir da nicht ein wenig ruhen?« versetzte sie. »Wir wissen einander wohl manches zu erzählen. Darf ich von Ihren Bergen hören?« Ein süßes Lächeln begleitete ihre Bitte, die Blauaugen blitzten ermunternd; ich bat aber sie, zu erzählen.

»Richtig, Sie wissen ja noch gar nicht, wer ich bin,« versetzte sie hell. »Denken Sie an einen Schirm, den sein Herr aus Versehen in einer Ecke hat stehen lassen, und der nicht wieder abgeholt wird. Nein, ich will Ihnen kein Rätsel aufgeben. Ich kam irgendwo in einem Hotel am Mittelmeer zur Welt; meine Kindheit habe ich mit meinen Eltern auf Reisen verbracht, und das Wanderleben gelangte erst zum Stillstand, als ich bereits achtzehnjährig war. Ich hatte damals schon meine Mutter verloren; mein Vater, ein Mexikaner, sollte wegen eines alten Erbstreites in die Heimat reisen. Gemeinsam kamen wir nach Hamburg. Da war das Meer sehr stürmisch. Mein Vater entschloß sich, die Fahrt allein zu unternehmen, und ließ mich für die Zeit seiner Abwesenheit in dem Internationalen Mädchenerziehungsinstitut Jenssen und Römer zurück, als er mich aber nach vier oder fünf Monaten wieder abholen sollte, traf statt seiner die Nachricht von seinem Tode ein. Ich war untröstlich; es kümmerte sich nun niemand mehr um mich. Auf den Rat des alten mexikanischen Advokaten, der mein Vermögen verwaltet, blieb ich in dem Institut und bin nun schon drei Jahre da. Was soll ich? Ich habe keinen mir ergebenen Menschen auf der Welt, nur solche, die für ihre Dienste bezahlt werden, und wenn ich heute oder morgen stürbe, so würde das Begräbnis gewiß sehr hübsch, aber außer ein paar lieben, kleinen Mitschülerinnen weinte kein Mensch um mich. Ich bin wirklich ein vom Schicksal stehen gelassenes Menschenkind!«

Ihre Art zu erzählen hatte nichts Wehmütiges. Es war das Geplauder einer jungen Dame von Welt, die unbewußt ihre Gefühle beherrscht.

»Und aus dem Institut dürfen Sie ohne Begleitung, frei, wie Sie wollen, ausgehen?«

»Ich schmeichle mir nicht,« lachte sie, »daß man es gern sieht, ich habe mir aber manche Freiheiten zur Bedingung meines Bleibens gemacht. Nachdem ich achtzehn Jahre wie eine Zigeunerin gelebt habe, kann ich mich doch nicht wie ein Kanarienvogel einsperren lassen. Nein, nein, ich ertrüge es nicht. Mein Vermögensverwalter, der mexikanische Advokat soll für meine Freiheit bezahlen; ich bedarf ihrer wie der Luft. Sobald ich einen Zwang auf mir fühle, erwachen alle meine schlechten Eigenschaften!«

»Haben Sie die wirklich, Fräulein, schlechte Eigenschaften?« scherzte ich.

»Warum nicht?« erwiderte sie ernsthaft, »ich will kein Engel sein! Wenn man mich quält, kann ich bös und heimtückisch werden, sehr böse!« Wie zur Bestätigung ließ sie die Augen auffunkeln; ein Funke wie der harte Schein eines Diamanten sprühte aus dem tiefen Blau, und die weißen Zähne blitzten zwischen den kirschroten Lippen. Einen Herzschlag lang war Big Dare nur Exotin, unwillkürlich dachte ich an etwas Wildes, vielleicht an eine Pantherkatze, die aus den Wäldern Amerikas hervorspringt; nun aber lächelte sie schon wieder ihr hinreißendes Lächeln, das lieb und unschuldig war. »Nein, an meine schlechten Eigenschaften sollen Sie nicht zu sehr glauben, Herr Wildi, ich habe auch meine guten; die jüngeren Mädchen des Instituts hängen an niemand mehr als an mir!« Sie blickte so gütig, so übermütig und schalkhaft, daß ich es glauben mußte. Eine kleine Pause entstand. » lndependent girl. Darin hat der Zeitungsberichterstatter recht,« nahm sie den Faden ihrer Gedanken wieder auf. »Die Ballonfahrt am Sonntag beweist es. Sie war seit langem mein größtes Erlebnis, wieder einmal ein herrlicher, freier Atemzug der Seele. Davon möchte ich mehr! Ich wußte es im Augenblick des Abstiegs schon. Darum habe ich mich selber auf ein Wiedersehen zu Ihnen eingeladen. Ich wollte mit einem Plan und einer Bitte zu Ihnen kommen, mit dem Plan einer großen Fahrt, mit der Bitte, daß Sie mich als mein Gast begleiten, Herr Wildi. Es müßte doch wundervoll sein, eines Morgens, wenn noch kein gaffender Mensch als Zeuge da wäre, aufzusteigen, der Sonne entgegenzufliegen, weit durch den Tag und hoch am Himmel über die blühende Erde dahinzufahren, Sommerfeld, Sie, ich, und erst am Abend wieder irgendwo, weit in der Ferne, die Erde zu betreten. Ich fürchte nur, daß ich Ihretwegen auf den Plan verzichten muß. Ihre Stellung hindert Sie?« Sie blickte mich doch hoffnungsreich und mit einer schmeichelnden Bitte an.

»Ich danke Ihnen, Fräulein Dare, es geht aber wirklich nicht,« versetzte ich ohne Besinnen ruhig und fest. »Fahren Sie doch mit Sommerfeld allein! Ich halte ihn für den zuverlässigsten Luftschiffer, den es geben kann.«

Sie schürzte die Lippen zu einem reizenden Schmollmündchen, dachte ein wenig nach und sagte dann lächelnd: »Nein, mit Sommerfeld allein fahre ich nicht. Ich hätte nur mit Ihnen den Mut; nur wenn ich Sie neben mir sehen würde, besiegte ich die Feigheit, die nun einmal bei allem Verlangen nach Schönheit und Größe in meinem Wesen steckt.« Sie erhob sich. »Begleiten Sie mich noch ein Stückchen Weges?« fragte sie. Wir wandten uns in der Richtung gegen die innere Alster. »Warum bleiben Sie denn in einem Geschäft, in dem man Ihnen so wenig Freiheit gönnt, Herr Wildi?« hob sie wieder an. Überrascht von der naiven Frage, antwortete ich nicht sogleich. Ein anmutiges Erröten stieg in ihr Gesicht; sie versetzte: »Ich habe wohl etwas sehr Törichtes gefragt?« »Gewiß, Fräulein Dare,« antwortete ich; nun fiel sie herzlich in mein Lachen ein. »Wie köstlich Sie das sagen!« versetzte sie lustig, und dieser Augenblick brachte uns einander näher als alles, was wir bisher gesprochen hatten.

»Wenn Sie ein freier Mann wären, würden Sie meiner Bitte Folge leisten?« forschte sie.

»Ich wüßte mir nichts Verlockenderes,« erwiderte ich. »Der Ballonzauber ist wohl einer der stärksten der Welt. Da schreit in uns etwas: ›Mehr – mehr!‹ Ich spüre es selber. Dazu Ihre anregende Gesellschaft!«

Die Blauaugen strahlten. »Sie bereiten mir mit diesen Worten ein großes Glück,« lächelte sie. Während wir aber unseres Weges gingen, wandelte kaum jemand an uns vorüber, der sich nicht nach der Gestalt und den Flechten Big Dares umgesehen hätte. Einige Witzworte darüber drangen an unser Ohr. »Ich werde die Flechten kürzen lassen,« zürnte sie, »ich bin gar nicht das eitle Geschöpf, für das man mich ihretwegen hält. Es ist zwar der Wunsch der Institutsleiter, daß ich sie frei trage, aber darum kümmere ich mich nicht mehr: ich möchte wie andere Menschenkinder frei durch den Frühling wandern können. Darf ich Sie wieder treffen, Herr Wildi?«

»Ich stehe Ihnen jeden Abend zur Verfügung,« antwortete ich, vom Reiz des schönen Menschenbildes gefangen. »Ich bin in der Welt fast so heimatlos wie Sie!«

»übermorgen abend um die gleiche Zeit und am gleichen Ort,« flüsterte sie errötend und freudig. Wir standen am Eisengeländer der inneren Alster. Mit dem Tag stritt die Nacht, und auf der metallisch erglänzenden dunkeln Flut zogen weiße Schwäne ihre Kreise wie im Traum. Beginnende Lichterscheine spiegelten sich; die Silhouetten Althamburgs ragten wundersam ins Zwielicht, und das Leben des weichen Frühlingsabends war mit geheimnisvollen Stimmen um uns. »Also auf gute Freundschaft, Herr Wildi! Und das nächste Mal erzählen Sie von Ihrer Jugend in den Bergen. Das muß doch sehr hübsch zu hören sein. Ich freue mich!« Es war eine kleine Versonnenheit an Big Dare, und sie zog die lange schmale Hand nur zögernd aus der meinen. Nun aber fuhr sie davon, wie das Märchen unter den Rosenwolken des scheidenden Tages.

»Auf gute Freundschaft!« Das Wort klang mir nach. Wozu aber sollte die Freundschaft gut sein? Ich ging etwas schweren Schrittes heim. Was war Big Dare für ein prickelnd reizvolles Menschenbild, was für ein merkwürdiges Ineinanderspiel von Jugendschönheit, Phantastik, Freiheits- und Abenteuerdurst, von fein weiblichem Sinn, Güte, Menschenvertrauen und jenem Unsagbaren, das doch eine breite, luftige Grenze um ihr Wesen zog? Mehr noch als die Anmut ihrer Erscheinung fesselte mich der innere Reichtum, der durch ihre Worte und Gespräche schimmerte. Nur das plötzliche Diamantblitzfeuer der Blauaugen blieb mir etwas so Fremdes, daß es mich in der Erinnerung störte wie ein geheimnisvoller Rest, den ich nicht faßte und nicht begriff. Obwohl sie eine Edelgestalt, eine freie, sonnige Seele und zur Bewunderung wie geboren und geschaffen war, fühlte ich mich in Big Dare nicht eigentlich verliebt.

Die Begegnung mit ihr überdeckte aber das Leid, in das ich durch das Zerwürfnis mit Balmer geraten war, doch ein wenig und ihre Bemerkung von meiner sieghaften Kraft gab mir Mut. Ich wappnete mich mit einem kalten Stolz gegen die Beamten und Angestellten, die dem gestürzten Liebling ihres Herrn schadenfrohe Blicke zuwarfen, und bat Balmer brieflich um eine Unterredung, in der ich einiges klar zu stellen wünschte. Ich hoffte auf die Vermittlung seiner klugen und gütigen Frau; kränkte mich aber, da jede Antwort ausblieb, tiefer und tiefer und war glücklich, als ich wieder einen Abend mit Big Dare zubringen durfte, welche die quälenden Gedanken doch ein paar Stunden von meiner Seele wälzte.

Sie kam in einer wenig auffälligen Straßentoilette zu Fuß, trug das lichtbraune Haar in einem schweren Knoten und fragte drollig: »Steht es mir schlecht?« »Nein, wundervoll!« entgegnete ich. »In der Abendsonne flimmert und schimmert es um Ihr Haupt wie Feuer. Und der Bug des Nackens, diese entzückend stolze Linie!« »Genug, genug,« lachte sie fröhlich. »Sie werden dem alten Lied von meinen leiblichen Vorzügen, das man mir, als ich noch Kind war, vorgesungen hat, keine neue Note abgewinnen. Seien Sie ohne Sorgen, Herr Wildi, ich weiß, daß ich ein hübscher Kerl bin.« Sie strahlte vor hellem Übermut. »Ich darf also mit Ihnen wandern. Das ist das Wesentliche! Und nun ein anderes Lied, Herr Wildi. Das Lied von Ihren Bergen, von Ihrer Jugend! Ich freue mich darauf, wie ich mich auf die Ballonfahrt gefreut hätte, wenn sie möglich gewesen wäre.«

In einer fein burschikosen Art, die sich eher spüren als sehen ließ, ging sie mir frisch und froh zur Seite, und obgleich ich nie ein Erzähler und meine Kunst, etwas zusammenhängend darzustellen, gering ausgebildet war, brachte sie es zustande, daß ich ihr eingehend vom fernen Tal der Berge sprach. Sie hatte zuerst ein Fragen, später ein Nicken, ein ermunterndes Blickegeben, das mich unvermerkt mitriß. Ohne zu wissen wie, gerieten wir in lockerer gebaute neue Quartiere der Stadt, endlich in einen kleinen, blühenden Wirtschaftsgarten, in dessen frühlingsduftiger Einsamkeit wir in Weltabgeschiedenheit uns selbst überlassen waren. Die Zeit ging wie im Flug.

»Wie sonderbar,« rief Big Dare plötzlich in meine Erzählung, »von dem Bergsturz von Selmatt und dem jungen Manne, der gerettet wurde, habe ich gelesen. Nun sitzt er da! Natürlich mit Teilnahme habe ich von Ihnen gelesen, aber jetzt ist die Teilnahme doch größer. Es muß furchtbar traurig sein, die Heimat zu verlieren.« Sie schwieg mit tief versonnenem Antlitz, und von ihrem feinen kirschroten Mund glitt ein Seufzer. Eine Unruhe erfaßte mich, sie aber blickte warm und ruhig auf. »Sie haben aber doch einmal eine Heimat besessen,« sagte sie schlicht. »O, wie beneide ich Sie! Es muß etwas Herrliches um eine Heimat sein. Alle Dichter loben und preisen ihre Heimat, und von uralters her ist es der nämliche Saitenton: ›Heimweh, du süßes Weh!‹ Ich aber weiß nicht, was Heimat, was Heimweh ist. Ich habe nie eine Heimat gekannt, kann mich nach keiner sehnen und verstehe weder den alten griechischen Heimwehsang der Odyssee, noch den Schweizer, der sich in den Strom stürzte, als das Alphorn blies, oder den Juden, der sich im Tode die Füße nach dem Sonnenaufgang der Heimat kehren läßt. Etwas Wundersames muß es um eine Heimat sein!«

An Big war keine Spur des heiteren, sorglosen Weltkindes mehr zu erkennen; eine senkrechte Falte stieg zwischen ihren schöngerundeten Brauen in die Stirn empor, und die ernste Abigail war unendlich ergreifender als das fröhliche Mädchen von vorhin.

»Meine Jugenderinnerungen sind ebensoweit über die Erde zerstreut,« versetzte sie nachdenklich, »wie die Ihrigen in einem schmalen Bergtal gesammelt.« Es wäre nicht einmal nötig gewesen, daß ich sie gebeten hätte zu erzählen; sie ergriff von selbst das Wort.

»Der Streit um ein altes Erbe,« begann sie, »trieb meinen Vater aus seiner mexikanischen Heimat. Verbittert, weil er sein volles Recht nicht finden konnte, wandte er sich vom praktischen Leben künstlerischen Studien zu, die ihn in die Alte Welt lockten. In Deutschland führte er eine junge Schauspielerin zum Altar, und als ich in die Welt zu blicken begann, waren wir in Italien. Die Eltern blieben nie lange in demselben Hotel, in derselben Stadt; die Mittel, die aus der halbbestrittenen Erbschaft flossen, waren für ein rastloses Reiseleben immerhin groß genug; die Veranlassung zu der unsteten Wanderschaft aber war die Eifersucht meines blassen, kränkelnden Vaters auf die Mutter. Sie war blühend, sehr schön, liebte geistvolle und künstlerische Unterhaltung, und alle Menschen, mit denen sie sprach, hatten sie lieb. Der friedlose Geist meines Vaters aber gönnte ihr keine Ruhe; rastlos ging es von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, namentlich um das Mittelmeer her, doch schweiften wir gelegentlich auch einmal in die nordischen Länder ab. über der großen Unruhe verlor sich indes die Kunst des Vaters, der vortrefflich zeichnete und malte, in eine Menge von bloß angefangenen Bildern. Stets auf Reisen, stets in Hotels, bin ich zwischen Eltern emporgewachsen, die sich unendlich liebten, aber oft Zwistigkeiten miteinander hatten. Beide verzärtelten und verwöhnten mich, und doch war ich ein unglückliches Kind!«

Als ich sie nur mit einer stummen Bewegung zum Weitererzählen aufforderte, sagte sie bitter: »Durch das Reisen kam ich um mein Jugendglück. Ich hatte mich kaum an einen Spielplatz, an ein bißchen Gartenecke oder etwas Meerstrand gewöhnt und sie liebgewonnen, ein bißchen Freundschaft mit anderen Kindern geknüpft, flugs zogen wir weiter. Nach einiger Zeit hielt ich es nicht mehr der Mühe wert, ein Plätzchen liebzugewinnen, mich mit anderen Kindern zu befreunden; die gesponnenen Fäden zerrissen ja doch wieder. Die Welt hatte für mich nichts Neues oder Überraschendes; sie erschien mir wie eine Flucht von Hotelzimmern, wie ein Wechsel, in dem nichts als meine Eltern und unsere Koffer Bestand hatten, oft auch ein oder zwei Jahre die Bonne und die Erzieherin, später das Kammermädchen und der Erzieher, die mit mir von Kurort zu Kurort geschleppt wurden. Ich war ein zierlicher und kluger Affe, dem alle Welt schmeichelte, meine Eltern aber hofften, ich würde ein Wunderkind. Die Mutter horchte nervös auf jedes meiner Worte, weil sie glaubte, ich erwache zur Dichterin, und der Vater wollte in jeder kleinen Zeichnung die Künstlerin erkennen. Sie übersahen aber beide, was die kindliche Seele zuerst zur Entfaltung braucht, ein wenig Ruhe und Sichselbstüberlassensein. Wie herb es klingt, seit ich älter und vernünftiger geworden bin, überrasche ich mich oft auf dem Gedanken, daß es eigentlich ein Glück für mich gewesen sei, die Eltern früh verloren zu haben; sie hätten mich sonst mit ihrer sonderbaren Erziehung in den Grund geritten oder in eine törichte Frühehe gehetzt. Ich kam mit meinem Vater tief abgespannt nach Hamburg, und wenn mir Stadt oder Institut auch keine Heimat geworden sind, so verdanke ich ihnen doch einen kleinen Nachfrühling der Kindheit durch den Verkehr mit den Schülerinnen, den Backfischen. Wir verstehen uns sehr gut!«

Nur langsam belebten sich die Nasenflügel Big Dares, die blaß geworden waren, wieder mit einem feinen Rosa, hellten sich die Züge, denen die Stirnfalte einen Ausdruck edler Bitterkeit gab; mir aber war, sie habe mir die Schlüssel gereicht, manches Rätselhafte ihres Wesens zu begreifen, vor allem die freie Selbständigkeit, die mich zuerst an ihrer Jugendlichkeit befremdet hatte. Sie gefiel mir besser denn je. Ich spürte aus allem, was sie sprach und wie sie blickte, das wundersame Wetterleuchten einer großen, heißen, in ihrer Weise ringenden Seele.

Ausatmend sagte sie: »Wir wollen uns heimwärts wenden! Das Schönste am Abend waren doch Ihre Wildleutsagen aus Ihren Heimatbergen. Ich finde sie zauberisch! Und Ihre arme Mutter! Es tut weh, zu denken, daß eine Mutter nicht ganz glücklich gewesen ist! Noch etwas wollte ich fragen, Herr Wildi. Sie sagten. Sie hätten jenen Ballon, der über das Gebirgsland schwebte, mit dem Schulmeisterstöchterlein gesehen. Hat dieses Mädchen den Bergsturz überlebt?«

»Wir wurden, bevor ich nach Hamburg ging, Verlobte,« versetzte ich mit einem kleinen Würgen im Hals, war aber mit mir selbst zufrieden, als das Wort gesprochen war, und froh über das Zwielicht, das mein Erröten weniger wahrnehmen ließ. Ich sah nicht, ob sich die Züge Bigs bei dem Bekenntnis veränderten. »Ich danke Ihnen für die Mitteilung,« erwiderte sie mit einem kühlen Lächeln. »Wir werden um so bessere Freunde sein.« Ich begleitete sie bis vor das ansehnlich große Erziehungsinstitut, das in der Stille einer vornehmen Straße lag. Sie reichte mir wie eine gute Kameradin die Hand. »Sehen wir uns am Sonnabend?« fragte ich. »Nein,« erwiderte sie, »am Sonnabend habe ich einem Schülerinnenkonzert beizuwohnen; ich werde Ihnen ein Briefchen schreiben, wenn es mir möglich ist, Sie wieder zu begrüßen. Die stolze Gestalt ging raschen, leichten Schrittes zur Tür, klingelte und verschwand im hellen Tor; mich aber bewegte auf dem Heimweg die unbestimmte Furcht, sie käme wohl nicht wieder, ich hätte sie zum letztenmal gesehen. Die Mitteilung, daß ich verlobt sei, hatte sie doch wohl etwas ernüchtert. Es tat mir leid um sie.

Tiefer aber quälte mich, daß ich von Herrn Balmer keine Antwort auf meine schriftliche Bitte um eine Unterredung erhielt. Die traurige Woche ging schon zu Ende. Den ganzen Samstag war mir, es müsse etwas geschehen. Es geschah etwas, nur nichts Erfreuliches. Kurz vor Feierabend ging der »Gewaltigste« durch die Magazine, warf da- und dorthin einen Blick, sprach mit dem und jenem ein kurzes, geschäftliches Wort, blieb, als er in die Nähe meiner Arbeitsstelle kam, stehen und schaute mir bei meiner Hantierung mit jener undurchdringlichen Gebärde zu, die seine Macht über die Menschen war. Meine Hände begannen unter seinen Blicken zu zittern. Weiß Gott, aus welcher törichten Einbildung, riß es mich zu ihm hin: »Herr Balmer, ich erbitte mir Ihre Verzeihung! Ich halte es im Schuppen nicht aus, ich ertrage diese Schmach nicht länger!« Aber seine geheimnisvollen Augen blieben kalt. »Ob Sie es aushalten oder nicht,« knurrte er mißgünstig, »das ist Ihre Angelegenheit.« Eine herrisch abweisende Handbewegung, ein grausames Genügen im zerknitterten Gesicht ging er, als sei er nur gekommen, um mir seine Verachtung zu beweisen!

Die neue Zurückwerfung brachte mich außer Rand und Band. Ich hätte viel gegeben, wenn ich an diesem Abend Big Dare hätte erwarten dürfen. Aber die saß ja im Konzert. Ich sehnte mich nach irgend jemand Liebem, der mir mit ein paar guten Worten über die Wut und das Elend dieses Abends hinweggeholfen hätte. Ich lief an den Hafen, um den treuherzigen Rungholt zu suchen, der so viele Seemannsspäße mit köstlicher Trockenheit zu erzählen wußte. Er hatte aber die Arbeitsstätte schon verlassen. Ich ging in eine Weinstube, die ich durch Leglu kennen gelernt hatte, und las die Zeitungen, wußte aber nach ein oder zwei Stunden so wenig, was darin stand, wie vorher! Da schlug eine bekannte Stimme an mein Ohr: »Lernen Sie eigentlich die Blätter auswendig? Es ist sehr schön, daß man Sie wieder einmal sieht!« Leglu, mein abgedankter Französischlehrer! »Herr Wildi, was ist Ihnen?« fragte er ernst. »Sie scheinen krank zu sein. Gehen Sie doch heim!« Ich weigerte mich; je mehr ich aber meine Ruhe künstlich zu bewahren versuchte, desto mehr schrie mein Herz nach irgend einer Tollheit, die mich die Schmerzen vergessen ließe. Der Schlingel mit seinen prickelnden Witzen kam mir eben recht. Ich folgte ihm in die Spielspelunke und traf das gleiche Bild wie vor einem halben Jahr: erhitzte Gesichter, einen aufreizenden Klang von Geld und Würfeln und die weiblichen Geieraugen. Ich spielte nicht, in allem Elend dämmerte mir der Gedanke, die Zeit könnte nahe sein, wo ich knapp mit jedem Pfennig rechnen müsse.

Irgend eines der Weiber höhnte: »Sie haben sich einen eigentümlichen Ort für Ihre Spekulationen ausgesucht, Herr Philosoph.« Ich sah auf. In diesem Augenblick wurden die Gasflammen des Raumes von unsichtbarer Hand abgedreht. Ein rauher Seemann schrie: »Was ist das für ein Schwein von Wirt!« Eine Bewegung wollte unter den Gästen entstehen; ein leises Geflüster mahnte: »Ruhig sitzenbleiben!« Man hörte das Knacken von ein paar Revolvern, Worte: »Wer an dem Geld rührt!« In lautloser Stille verharrte die Gesellschaft einige Herzschläge lang. Da ging die Tür auf, eine Stimme rief: »Ich erkläre sämtliche in diesem Raum Anwesenden für verhaftet!« Im hellen Vordergemach blitzten die Helme und Uniformen der Schutzmannschaft. Die überraschten knurrten und fluchten, und die wieder angezündeten Gasflammen beleuchteten eine leichenblasse Gesellschaft.

Als uns ein Wagen durch die morgenstillen Gassen zur Untersuchungshaft abführte, da war mir übler als unter dem Bergsturz von Selmatt. Indes konnte ich noch von Glück sagen; die verhörenden Beamten schenkten meiner Darstellung, daß ich nur zufällig in die Spelunke verschleppt worden sei und mich am Spiel überhaupt nicht beteiligt habe, Glauben. Im Laufe des Sonntagvormittags kam das befreiende Wort: »Sie können gehen!« Aber wie eine Kette begleitete mich das andere: »Sie haben sich dem Gericht als Zeuge zur Verfügung zu halten!«

Inmitten der zahlreichen Spaziergänger, auf deren Gesichtern die Freude über den schönen Sonntag lachte, erschien ich mir wie ein Auswurf der Menschheit. Mir war, durch die wonnigen Mailüfte rausche von allen Seiten Unheil heran; es wunderte mich nicht, als mich Frau Andreesen mit verweintem Gesicht empfing. »Jesus, Jesus,« rief sie. »Der Schrecken, die Schande! Wir waren kaum aufgestanden, da kamen zwei Schutzleute in die Wohnung. Alles haben sie nach Ihnen ausgefragt, alles aufgeschrieben. Wir haben natürlich gesagt, wie Sie ein fleißiger junger Herr sind und nur dann und wann 'mal Ihren wilden Tag haben.« Während die Frau an mich hinsprach, kam Sekretär Andreesen in geschniegeltem und gebügeltem Staat aus der Kirche und blickte etwas unsicher, aber mit stummem schwerem Vorwurf nach mir. Wie beneidete ich den höflichen Mann, den ich bereits heimlich über die Schulter angesehen hatte; wie rein stand er in seiner vornehmen Spießbürgerlichkeit vor mir!

Ich saß mit wüstem Hirn im Zimmer am Bettrand. Eine tiefe Traurigkeit erfüllte meine Seele. Urmächtig sprangen im Herzen die Quellen des Heimwehs auf. Solange es uns gut geht, ist es leicht, in der Fremde das Haupt stolz zu tragen, aber wenn uns die Erde unter den Füßen zu schwanken beginnt, da möchten wir in die Heimat wie ein Kind in den Schoß der Mutter flüchten. »Duglörli! Duglörli!« An ihre Brust hätte ich meinen Kopf lehnen mögen. Da ist Heimat, da ist Treue, da ist Liebe! Wie glühendes Eisen bohrte sich der Gedanke in die Seele: Du bist, wenn auch nur als Zufallszeuge, in einen schmutzigen Prozeß wegen falschen Spiels verwickelt. Das bricht dir, deinen Hoffnungen und Plänen vollends das Genick! Hätte ich der Eingebung des Augenblicks folgen können, so wäre ich Hals über Kopf in die Heimat abgereist. Ich war aber der Gefangene meiner Zeugenpflicht, die ich nicht zu verletzen wagte, weil ich davon neues Unheil befürchtete.


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