Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XIII

In anderen Wintern vertrieb ich mir die langen Abende oft damit, daß ich mir von Hans Stünzi einen Auszug aus den Zeitungen auf das Observatorium telegraphieren ließ und ihm durch den Draht mit einem Schnickschnack von Glossen zu den Blättermeldungen antwortete. Ich habe ihm auch dieses Jahr wieder ein paar Journale, deutsche und französische, bestellt. Jeden Abend tickt's und klappert's am Apparat; ich höre wohl auch einmal lässig zu und fange einiges auf, ich lasse aber was ich höre, zu dem einen Ohr hinein, zum anderen hinaus, und die betrachtenden Rückantworten unterbleiben. Darüber ist mein Hans ängstlich und unglücklich. Was mir fehle, fragte er an, ob ich krank oder melancholisch sei? Ich drahtete ihm, er solle sich die Mitteilung des Weltkrams sparen und um mich nicht sorgen. Ich würde immer mehr Philosoph. Nun mag er sich den Kopf zerbrechen!

Meine Beichte gärt und gärt. Ich habe heute ein eisernes Kästchen geöffnet, das sieben Jahre verschlossen war. Meine Erinnerungsheiligtümer, Briefe und Bilder! Die Bilder sind eine Galerie schöner Mädchen- und Frauengestalten. Sie stammen aber aus einer späteren Zeit, als von der ich jetzt schreibe. Aus meinen Hamburger Tagen rühren nur wenige der Bilder, darunter eins jedoch, das einen Jüngling vorstellt.

Der junge Mann ist schlank wie ein Bolz, muskelkräftig und von breiter Brust. Sein Anzug hat nichts Auffälliges, sitzt aber elegant und tadellos. Je nachdem man mehr die einen oder mehr die anderen Züge des Gesichts ins Auge faßt, könnte es einem jungen Kapitän zur See oder einem Künstler angehören. Es ist ein starker Zug impulsiver Kraft und männlichen Willens darin, doch auch eine schöne Weichheit der Seele, vor allem strahlende Gesundheit und Stärke, etwas Bescheidenes und etwas Sieghaftes! Das Sieghafte wohnt auf der hoch gewölbten Stirn, um die das dunkle, glänzende Haar in linden Wellen geht, und leuchtet aus den adlerscharfen, dunkeln Augen.

Das war ich! – Was verschlägt's, wenn ich als einsamer Mann behaupte, ich sei ein schöner Junge gewesen. Es ist erhärtet in einem Brief, in dem mich ein Bildhauer, der jetzt einen berühmten Namen trägt, inständig bat, ich möchte ihm Modell für einen sterbenden Achill stehen. Ich tat es nicht. Mit vergilbten Zügen liegen die kleinen Briefe da. Sie kamen von törichten Backfischen oder jungen Damen, die sich keinen besseren Zeitvertreib wußten und deswegen ein Stelldichein und eine Heimlichkeit mit mir suchten.

Nun sind die Briefe wieder ins Kästchen geschlossen. Vorbei – vorbei! – –


Ich war eben auf dem Weg von der Schreibstube Balmers in die englische Stunde begriffen. Da schrieen die Ausläufer und Schusterjungen von Hamburg: »Guckt – guckt in die Luft! Ein Ballon – ein Ballon!« Da und dort an den Straßenecken standen gaffende Leute und gestikulierten, lebhaft sprechend, gegen den blauen Maienhimmel empor. Ich hemmte meinen Schritt und blickte mit ihnen. Eine prächtige Goldkugel, wie Duglore, Melchi Hangsteiner und ich sie einst über das Lichtmeßloch und seine Nachbarberge hatten ziehen sehen, nur größer, schwebte in der Schau der Straße stetig und langsam wie eine feierliche Riesenampel über die rötlichen Dächer und schwarzen Kamine der Stadt. Das Luftschiff ging wohl nicht sehr hoch; man konnte nicht nur den Korb, sondern selbst die Stricke unterscheiden, an denen er von der mattleuchtenden Seidenkugel herniederhing, und erkannte leicht zwei Männer, die in dem vogelkäfigartigen Gebilde standen und hantierten. »Sie werfen Sand aus,« rief die neugierige Jugend. »Es ist der Luftschiffer Sommerfeld, der beim Zoologischen Garten aufsteigt. Tragt Sorge, daß ihr keinen Sand auf die Köpfe kriegt.« Sich sanft ausbreitend, wie ein Samenwurf aus Bauernhand, glitt ein Goldregen die blaue Luft herab; der Ballon mit den beiden Männern stieg höher und entschwebte hinter einer Giebelkante meinem Blick. Ich aber war eigentümlich gefesselt durch das Schauspiel, mit dem sich ein besonders klares Heimatgedenken verband, und ich beschloß, wenn nichts dazwischen trete, am Sonntag zu dem Ballon nach dem Zoologischen Garten hinauszugehen, um Zeuge seines Aufstieges in die Lüfte zu sein.

»Wann kommt denn Herr Balmer von Berlin zurück?« fragte ich am Samstagabend Sekretär Andreesen. »Nicht vor Sonntagnachmittag,« erwiderte er. »Da hätte ich also einen freien Tag auf eigene Faust,« versetzte ich leichthin. »Gewiß, Herr Balmer wird ruhen wollen,« fügte Andreesen bei. »Herr Balmer hat sehr anstrengende Besprechungen und Geschäftstage hinter sich.« Mein Sonntagsplan war also entworfen. Da kam am Sonnabend noch ein Brief von Duglore, die mich mit innigen Glückwünschen daran erinnerte, daß morgen, am Sonntag, mein Geburtstag sei.

Der Brief enthielt aber noch eine ernste Mitteilung: »Lieber Jost, nun muß ich dir schreiben, daß Herr Otto Z'binden vom Polytechnikum nach Hause zurückgekehrt ist. Er verträgt das schwere Studieren nicht, er sieht wirklich elend und angegriffen aus. Er will sich jetzt neben seinem Vater in der Spinnfabrik betätigen und bleibt daheim. Also soll ich gehen; sonst fängt er wieder an, mir den Hof zu machen, was allen nicht recht ist, mir nicht und Herrn und Frau Z'binden nicht. Mir ist so angst. O gib mir doch einen Rat, was ich anfangen soll, lieber Jost!« –

Da war guter Rat freilich teuer. Die Antwort auf den Brief überlegend, schlenderte ich am Sonntagnachmittag über den Holstenplatz nach dem Zoologischen Garten hinaus und wandelte ein Stündchen unter seinen Baumgruppen, an seinen künstlichen Ruinen und vogelbelebten Teichen vorbei und ergötzte mich vor den Tierhäusern am Spiel und Gehaben ihrer Bewohner, am meisten an den Kunststücken Antons, des gelehrten Elefanten. Es war ein Frühlingstag, wie Gott ihn jeden Lenz nur ein- oder zweimal gibt. Durch die Sonne wirbelte der Buchfinkenschlag, eine Menge sonntäglichen Volkes erging sich. Ich traf grüßende Bekannte aus meinem Geschäft, doch keine aus der Gesellschaft, die im Hause Balmer verkehrte, denn diese mied am Sonntag die öffentlichen Anlagen der Stadt. Allmählich vergaß ich die Sorge um Duglore.

Plakate wiesen nach dem Platz, einem Baugrund dicht in der Nähe des Gartens, auf dem der Ballon »Saturn« um vier Uhr steigen sollte. Musikklänge lockten in die Leinwandumzäunung, über die sich bereits eine lichtbraune Halbkugel emporbauschte, der sich mit Gas anfüllende Ballon. Als gutgestellter junger Mann löste ich eine Eintrittskarte für den ersten Platz der weiten Zuschauerrunde, war aber enttäuscht, die vordersten Bänke von nicht einmal einem Dutzend Neugieriger besetzt zu finden; nur auf den billigeren Plätzen drängte sich das Volk in Scharen. Der mehr denn halbvolle Ballon knisterte und rauschte im Wachsen geheimnisvoll; wunderfein zeichnete das ihm bereits übergeworfene Netz seine Rauten auf die Hülle, die gegen den Boden hin noch in Falten wehte. Um die Kugel wandelte, gelassen prüfend, der Luftschiffer, eine schöne, straffe, leicht bewegliche Gestalt in einer Uniform, ähnlich wie sie die Schiffskapitäne tragen, und gab den beiden Gehilfen, welche die am Netz befestigten Sandsäcke ein oder zwei Maschen tiefer hängten, seine ruhigen Winke. Es war etwas Sympathisches um die Sicherheit des Luftschifferkapitäns, dessen Haar und Spitzbart bereits eisgrau angelaufen waren. Unwillkürlich glitt mir der Gedanke durch den Kopf: »Der Mann hat wohl seine fünfzig Jahre und schreibt seine sechshundertundzehnte Fahrt aus! Also kann eine Luftfahrt doch nichts so furchtbar Gefährliches sein.« Je länger ich Sommerfeld und seine Hantierungen betrachtete, desto weniger konnte ich an ihm jenes Abenteuerwesen entdecken, mit dem die Einbildungskraft der Menschen nun einmal einen Luftschiffer umgibt; er erschien mir im Gegenteil wie das Urbild besonnener Kraft und Vertrauenswürdigkeit.

Seine grauen Augen hatten mich erspäht. Mit leichtem, höflichem Gruße fragte er mich, ob ich Näheres über den Bau und die Bestandteile des Ballons zu wissen wünsche, und fand in einem erklärenden Geplauder den Übergang zu der erwartungsvollen Frage: »Wünschen Sie an der Fahrt teilzunehmen?«

»Da wird mir der Preis schon zu hoch sein,« erwiderte ich rasch hin. »Was kostet sie denn?« Er zerdrückte ein feines, wohlgefälliges Lächeln im Bart. »Endlich wieder einer jener Seltenen, die nicht zuerst forschen, ob es ans Leben gehe,« versetzte er gewinnend. »Ich habe mir gleich, wie ich Sie sah, gedacht, Sie seien mein Mann. Sie haben etwas in den Augen, woran wir Luftschiffer unsere künftigen Passagiere erkennen, Herr« – »Wildi,« ergänzte ich. »Es kann sich heute nur um eine Spazierfahrt handeln,« fuhr er fort. »Eine Stunde in der Luft, und ich stelle Sie wieder so sanft auf die Erde zurück wie die Bäurin den Korb voll Eier. Der Preis? Sehen Sie, Herr Wildi, es ist eine mißliche Sache, wenn man vor den Zuschauern ohne Passagier aufsteigen soll; fahren Sie mit, so kommt vielleicht ein zweiter, dritter. Unter Stillschweigen gegen andere: fünfzig Mark.« –

Aus dem Zuschauervolk ertönten Rufe: »Es ist bald fünf! Wo bleibt der Aufstieg? Haben Sie keine Uhr, Herr Luftschiffer?« Ein Strampeln und Stampfen erhob sich. »Ich habe heute etwas schwachen Gasdruck,« bemerkte Sommerfeld. Auf sein Zeichen spielte die Musikkapelle irgend ein rauschendes Stück, das die Äußerungen der Ungeduld erstickte. An den Ballon zurücktretend, schob er den Holzreifen unter die langsam flügge werdende Kugel und faßte darin die Endstricke des Netzes zusammen; unterdes aber ließ er mich in einer großen Mappe von Briefen und Zeitungsausschnitten blättern. Naturforscher, Ärzte und Militärs, Kaufleute, Bankiers, selbst einige Damen beurkundeten darin ihre glücklichen Fahrten mit dem Kapitän.

»Wunderbar schön muß es ja sein,« dachte ich. »Und der Preis! Nein, bei dem bescheidenen Preis ist es doch gewiß kein Übermut. Geburtstag, Jost! Da darfst du dir nach langer, strenger Arbeit schon etwas Besonderes gönnen.« Unruhvoll überfiel mich jenes Heimweh nach Höhe, das mich auf den Nikolaiturm getrieben hatte, und der Wunsch, mir selber zu beweisen, daß es keine Prahlerei gewesen war, als ich mich vor Schulmeister Kaspar selig und Duglore rühmte, ich würde es wagen, mit einem Luftschiff durch die Bläue des Himmels zu segeln. Ich ließ die Augen prüfend durch den Zuschauerraum gehen, ob nicht doch irgendwo ein philisterhafter Bureaukrat aus dem Hause Balmer versteckt sei, der plaudern und mir nachher unangenehme Neckereien bereiten könnte. Keiner!

Ich kämpfte noch hin und her. Wahrscheinlich hätte ich doch auf das luftige Abenteuer Verzicht geleistet, da – wer saß, wie von einem Zauber plötzlich hergetragen, nicht weit von mir in den vordersten, fast leeren Bänken? Von drei Backfischen umringt, mein Märchen von Helgoland in entzückend duftigem Frühlingskleid. Ich spürte, daß auch sie mich auf den ersten Blick wiedererkannte. Gleich war ich wieder im Banne der blauen Augen und der lichtbraunen Flechten. Ich wollte, daß diese Augen Anteil für mich fassen sollten. Mit pochendem Herzen, doch entschlossen, näherte ich mich Sommerfeld, der eben den großen, weidengeflochtenen Korb unter den Holzring schob: »Herr Kapitän, ich fahre mit!«

Ein vergnügliches Lächeln glitt um seinen Mund: »In fünf Minuten gilt's!« Ich stand beim Korb und beobachtete mit Spannung die letzten Vorbereitungen, das Abbinden und das Aufrollen des Gaszuleitungsschlauches und das Einlegen des Sandballastes in den Korb. Dann und wann warf ich einen Blick nach der schönen Fremden. Sie hatte sich von ihrem Sitz erhoben und sprach mit ihren Gespielinnen rasch und lebhaft. Fast schien es, als handle es sich um ihre Mitfahrt, von der sie die jungen Mädchen zurückzuhalten versuchten. »Einsteigen,« winkte mir der Kapitän. Schon stand ich in der Gondel; über mir bewegte sich die straff gewordene Seidenkugel wie ein ungeduldiges Pferd, das sich bäumen will. Da kam die hohe, schlanke Fremde mit raschem, leichtem Schritt auf den Ballon zu, fragte Sommerfeld nach dem Preis für die Mitfahrt, gab ihm aus einem Täschchen die Goldstücke und streckte mir bittend die behandschuhte Rechte hin, damit ich ihr in den Korb helfe. Ein Schwung der schmiegsamen Gestalt, die sich mit ihren Händen auf meine Hände stützte: da war sie! Keine Spur von Furcht! Sie sagte nur: »Wie abscheulich ist es, von so vielen Menschen beobachtet zu werden!« Die Sprache ging ihr so rein und perlend vom Mund, daß ich einen Augenblick dachte, sie käme wohl von der Bühne; aber dazu stimmte ihre Bemerkung nicht. Künstler und Künstlerinnen des Theaters lieben es ja, gesehen zu werden. Zu ihren ängstlichen Gefährtinnen zurückblickend, klatschte sie in kindlichem Übermut in die Hände, und die Augen blitzten ihr vor Freude.

Sommerfeld aber sprach noch hurtig mit einem Herrn, an dem mir das blasse Gesicht und die lange Haar- und Bartmähne auffielen. Der Kapitän wandte sich an die junge schöne Gastin seiner Gondel: »Der Herr ist Berichterstatter einer großen Zeitung und läßt höflich um Ihren Namen bitten, Fräulein!« Schnell gefaßt, eine herrschende Gebärde in den feinen, jugendlichen Zügen, erwiderte sie kühl: »Wozu meinen Namen? Die Fahrt ist bezahlt. Das genügt!« Ich stutzte ein wenig über das Auftauchen des Journalisten, fand die Antwort der jungen Dame sehr klug und wollte mich versichern, daß auch mein Name nicht in die Zeitung käme; aber in diesem Augenblick zog mich die Fremde ins Gespräch. »Nicht, daß Sie ein Geheimnis um mich vermuten sollen,« sagte sie leichthin. »Ich heiße Abigail Dare und bin Pensionärin der Internationalen Erziehungsanstalt Jenssen und Römer.« Kaum hatte ich mich dem Fräulein selber vorgestellt, da erhob die Musik ihre Fanfaren, sprang der Kapitän auf den Korbrand, umschlang mit der Linken die Stricke und rief, die Mütze schwenkend: »Los!« Und über dem großen Augenblick und dem heldenmütigen Bild meiner schönen Begleiterin war der Journalist vergessen. Die junge Dame erblaßte zwar, als der Korb, wie er von der Erde stieß, etwas schwankte; rasch darauf aber ergriff sie ihren Sonnenschirm, schwenkte ihn über den Rand hinaus und winkte damit den Gefährtinnen Abschied zu. »Ich bin beruhigt,« lächelte sie. »Dort sitzt ja mein braves Dreiblatt bereits im Wagen und fährt mit erschütterten kleinen Herzen heim!« Ein frohmütiger Spott klang in ihren Worten.

Wie auf Flügeln hob sich der »Saturn«. Der Platz, auf dem wir noch eben gewesen waren, sank mit der winkenden und Lebewohl rufenden Menge, die sich zu zerstreuen begann, tief zurück. Wie eine Nuß, die plötzlich aufgesprungen ist, wie eine breitoffene Schale lag die Welt, und wunderbar löste sich die Enge in die Weite auf. Unter einem bläulichen durchsichtigen Brodem schimmerte Hamburg wie die Häuschen einer Schäferei, auf den Linien zwischen den Blöckchen rieselte es von dunklem Sand. Das waren die Spaziergänger in den Straßenzügen. Fernherüber blitzten im Abendstrom des Lichts wie eine Silber- und Goldschlange die Elbe und traumduftig ein Stück des Meeres. Mir war bei dem unendlich sanften Schweben und Planen, in dem tiefen Schweigen der Luft und des Lichts, als wüchsen mir selber Flügel; erhöht rauschte das Daseinsgefühl durch die Seele, und in feierlicher Stimmung wünschte ich, der Flug möchte recht lange, lange dauern. Auch die Nähe meiner Gefährtin empfand ich wie ein zartes Glück!

Wir waren eine Weile schweigend nebeneinander gestanden, sie und ich in ein staunendes Empfinden versunken. Da begegneten sich unsere Augen. Ein warmes Feuer stand in den ihrigen. »Ich muß Ihnen doch danken,« sagte sie, »daß Sie mir durch Ihr Beispiel die Ermutigung zu der Fahrt gegeben haben. Ich habe zwar früher einmal eine Spazierfahrt in einer Ballongondel gemacht und weiß daher nichts von der abergläubischen Furcht, die die Menschen gegen das Luftschiffwesen empfinden. Es war in Nizza mit meinem Vater; ich war damals ein Mädchen von erst sieben Jahren. Es ist beinahe meine liebste Jugenderinnerung, und seither hat mich stets der Wunsch begleitet, die schönen Eindrücke noch einmal durchzukosten. Ich hatte wohl die lebhafte Begierde, auf den Ballonplatz zu gehen, aber an die Fahrt selber dachte ich nicht; Ihr Beispiel bestimmte mich plötzlich zur Teilnahme am Aufstieg.«

»Wird man Sie in Ihrem Institut wegen Ihrer Kühnheit nicht tadeln?« fragte ich. Sie lachte: »Man wird ja schon sagen: ›Die verrückte Big‹, und wird mich den jüngeren Mädchen hinter meinem Rücken als ein abschreckendes Beispiel der Unweiblichkeit hinstellen. Mir einerlei. Aber was sagen denn Sie zu meinem plötzlichen Entschluß?« forschte sie mit dem Ton des heiteren Weltkindes, das durch eine Schule feiner Geselligkeit gegangen ist.

»Ich finde die Fahrt so wunderbar schön,« erwiderte ich begeistert, »daß ich allen Menschen einmal eine Stunde in den freien Hochlüften gönnen möchte. Mir ist, es wäre unendlich weniger Kleinkram auf der Welt; allen bliebe etwas Helles, Sonniges, Erhabenes zurück, das ihnen über manche staubige Sorge hinweghelfen würde. Wie mich als einen Glücklichen, betrachte ich Sie als eine Glückliche, daß Sie die Fahrt erleben dürfen und nicht aus kleinen Vorurteilen darauf verzichteten.«

Die Blauaugen leuchteten und blitzten zu dieser Antwort. »Das haben Sie sehr schön gesagt!« lachte sie freudig auf. Schnell war die kurze Stunde unter dem Himmelsblau verträumt. Sommerfeld, der schweigsam und sorgfältig zu seinem Fahrzeug gesehen hatte, spähte in die Tiefe. »Sehen Sie dort die Eisenbahnstation in der Nähe des Waldrandes? Auf die Wiese, die daneben liegt, stelle ich Sie ab,« sagte er gelassen. »Noch nicht, Herr Kapitän,« baten Fräulein Dare und ich aus einem Munde, aber schon zog er mit kräftiger Hand die Leine, die durch das orange erstrahlende Innere der Kugel emporlief; die Klappe öffnete sich, und rauschend strömte das Gas in die Luft. Unter dem in Birnform zusammenfallenden »Saturn« schwebten die Felder, Wälder und Gehöfte empor; sanft und leicht, ohne den leisesten Ruck oder Stoß, gewannen wir ein paar hundert Schritte von der Bahnstation den Boden. »Wo ist jetzt die Gefahr?« lächelte Sommerfeld. Ein paar Augenblicke des Harrens, bis sich der Ballon noch mehr entleert hatte und sich auf die Seite zu neigen begann, dann hob ich die elastische Gestalt Big Dares aus dem Korb. Sie drückte mir mit einem sanften Erröten die Hand: »Ich danke Ihnen,« versetzte sie herzlich. »Es war wunderbar schön, nur zu kurz – allzu kurz!«

Eine Stunde später saßen wir im Eisenbahnzug, erreichten Hamburg beim Einbruch der Nacht, und ich begleitete meine Gefährtin noch an einen Wagen. Da ließ sie die Hand wie ermüdet in der meinen ruhen und eine stille Bitte lag in ihren unendlich reizvollen Zügen, und leise fragte sie: »Gibt es ein Wiedersehen?« »Kommen Sie übermorgen abend um sechs nach den Anlagen am Steintor,« erwiderte ich erfreut. »Ich werde Sie dort erwarten.« Sie nickte. Da fuhr mein Märchen durch den lichterhellen Abend und verschwand. Ich aber überlegte in gelinder Schwärmerei und wohliger Erschöpfung, daß ich meinen Geburtstag gar nicht genußreicher hätte begehen können als mit dem Luftspaziergang in der Gesellschaft des schönen und merkwürdigen Mädchens.

Wozu aber sie wiedersehen? – Ich beantwortete mir die Frage an diesem Abend nicht mehr; am Morgen jedoch erinnerte ich mich, daß ich um Duglore sorgen sollte, die im Begriffe stand, wieder eine Heimatlose zu werden. Im Nachklang des schönen Tags begann ich ihr frisch und aufgeräumt einen Brief zu schreiben, nichts vom Ballon und nichts von Big Dare, aber mit dem Rat, daß sie zunächst eine Unterkunft bei den gütigen Bauersleuten in Zweibrücken suche, bei denen wir nach dem Bergsturz von Selmatt gewohnt hatten. Ich fügte bei, daß ich mich bei Balmer bald sehr gut stelle, und fragte, ob sie sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen könne, wenn ich sie rufe, selber nach dem Norden zu kommen. Es könnte uns für unser späteres gutes Fortkommen vielleicht dienen, wenn wir zuerst einige Jahre in Hamburg lebten. Aber meine Gedanken verwirrten sich doch ein wenig über diesen unsicheren Zukunftsbildern. Die Geschäftsstunde rief; ich brachte den Brief nicht fertig.


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