Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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IX

Es ist ein heiterer Ton in das dunkle Kapitel vom Untergang Selmatts gefallen. Der Apparat klapperte; Hans Stünzi meldete mir die glückliche Heimkehr mit Gottlobe. »Ich grüße den Zauberer auf dem Berg,« telegraphierte er. »Und der Kuß?« fragte ich. »Soweit ist es freilich noch nicht gekommen,« drahtete er zurück, »zuerst muß die feindliche Burg sich ergeben: Hangsteiner. Aber gesungen haben Gottlobe und ich auf dem Heimweg wie Frühlingsvögel, und lustig hat sie über einen gespottet, der in Zweibrücken Kühe kauft und verkauft. Pläne des Lebens haben wir himmelhoch gebaut. Mir aber sitzt, was du mir wunderbar Gütiges gesagt hast, wie ein Vogel im Kopf, von dem ich stets fürchte, daß er mir davonfliege. Ich bin mit mir auch noch nicht im reinen, ob ich dein großherziges Anerbieten annehmen darf oder nicht. Ich lebe in einem Rausch der Freude, daß auf der Welt ein so großmütiger Mensch wandelt. Ich danke dir, verehrter Freund, aus überschwenglich erfreuter Seele.«

Ja, wenn's nur Frühling wäre, würdest du den Zauber erfahren, Hans! Aber die Winterszeit schneidet mich von dem brieflichen Verkehr ab, der notwendig ist, einen größeren Betrag meines Vermögens zu erheben. Telegraphisch läßt sich das nicht ordnen. Hätte ich doch gleich gehandelt, dir, Hans, die Briefe mitgegeben! Der Entschluß kam mir aber selber zu plötzlich. Und dann die Überlegungen und Zögerungen des Alters. Ich bin das wilde Blut nicht mehr, das gleich den ersten Einfall für den besten hält. Im Frühling aber, im Frühling, Hans!


Als ich nach Zweibrücken kam, fand ich Duglore bei einer Bauernfamilie, die der Unglücklichen barmherzige Liebe erwies. Da die wackeren Leute sahen, daß meine Nähe der tief im Gemüt Erschütterten wohltat, luden sie auch mich an ihren Tisch und räumten mir eine ihrer unbewohnten Kammern ein.

Ich lebte die erste Zeit wie auf den Kopf geschlagen dahin und vergaß in meiner Geistesverwirrung sogar, Duglörli zu fragen, auf welche wunderbare Weise denn sie gerettet worden sei. Ich erfuhr es erst, als wir Überlebenden in das Schulhaus von Zweibrücken vor den Landesratsschreiber geladen wurden, der unsere Rettung für die Landesgeschichte in ein Protokoll trug.

Unter Zuckungen des Weinens erzählte Duglore: »Vor unserer Alphütte sang ich aus dem Kirchenliederbuch die gleichen Nummern, die für den Bettagsdienst in Selmatt ausgelesen worden waren. Da ging das Knattern und Donnern im Hintergrund der Alpe los. Als ich mich angstvoll nach ein paar Leuten umsah, die wegen der Viehhut auch nicht zum Gottesdienst ins Tal gestiegen waren, erzitterte die Erde. Das Vieh rannte den Weg, der ins Dorf hinunterführt, wie im Hui dahin. Ich ihm nach. Mit mir einige andere Leute von der Alp. Wie wir aber erst ihren Rand erreicht hatten oder schon einige Schritte bergab geflüchtet waren, da wankte der Berg. Er begann auf der äußeren Talseite zu stürzen, und talein erbrauste ein plötzlicher Wind, der uns von dem fallenden Berg hinwegblies, als wären wir dürre Blätter. In dem Wirbeln, Sausen und Rauschen, Rollen und Donnern vergingen mir die Sinne, ich merkte aber nach einiger Zeit doch, daß ich wieder auf festem Boden war. Mund und Nase waren mir so schrecklich voll Staub, daß ich beinahe erstickte; ich versuchte die Augen zu öffnen, es gelang mir nicht, weil noch zu viel Staub durch die Luft flog. Als ich sie aber öffnen konnte, war schon alles wieder still. Ich hob mich empor; durch einen blauen Rauch schien die Sonne wie ein mattglänzendes Blech. Ich erkannte die Verheerung Selmatts und rief nach Vater und Mutter. Da kam Melchi Hangsteiner gelaufen; bei seinem Haus im Selachgrund, von dem es nur das Dach fortgeweht und die Wand eingedrückt hat, verbrachte ich mit einigen anderen Geretteten die Stunden.«

Melchi gehörte also auch zu den Überlebenden, mit ihm seine Familie bis auf den Vater, den lahmen Flößer, der am Tag nach dem Sturz über dem ausgestandenen Schrecken gestorben war, zugleich war Melchi derjenige, der in Zweibrücken die erste Hilfe geholt hatte. Diese Mannschaft, die grub, wo sie die verschüttete Kirche vermutete, war am Montagnachmittag gegen drei Uhr durch das eingestoßene Rohr auf meine Spur geraten. Sie war die einzige, die unter den Trümmern noch auf ein Zeichen des Lebens führte. Nur einige Leichen am Rande des Schuttfeldes und die meines Vaters wurden noch entdeckt. Bis auf ein Häuflein meist jüngerer Leute lag Selmatt erschlagen und unter den Trümmern des Tafelbergs. Der Überlebenden waren wir dreiundzwanzig.

Zog man unser Seelenleid nicht in Rechnung, auch nicht, was wir von Leuten litten, die das hundertmal Erzählte immer wieder von uns zu hören verlangten, ging es uns sämtlichen gut. Eine opferfreudige Teilnahme für uns regte sich weit und breit, Hilfsmittel und Geld trafen aus der Nähe und Ferne für uns ein. Als den großmütigsten Spender nannte man Hans Konrad Balmer in Hamburg; aber der Name machte kaum einen Eindruck auf mich. Ein unheimliches Rauschen trennte mich stets noch von der Wirklichkeit der Dinge, nur wie durch einen hemmenden Schleier sah ich die Welt, und wie aus einer Krankheit genesend mußte ich die Maßstäbe des Lebens erst wieder gewinnen. Doch drängte die Frage bald von selber heran: »Was soll aus uns werden?«

Als müsse von den Waisen und erwachsenen Hinterlassenen Selmatts ein besonderer Segen ausgehen, erboten sich viele wohlangesehene Familien aus weitem Umkreis, eins oder mehrere der elternlos gewordenen Kinder in ihr Haus aufzunehmen und zu erziehen. Auch um uns, Duglore und mich, entstand ein Wettbewerb der Fürsorge, um sie, das anstandsvolle Schulmeisterstöchterlein namentlich, weil viel schönes Lob über ihr Kirchenorgelspiel im untergegangenen Dorf durch die Menschen lief, die sie doch nie spielen gehört hatten. Und die menschenfreundliche Teilnahme riß uns gewaltsam aus starren Schmerzen empor.

Unter den mancherlei Leuten, die Duglore sehen wollten, führte der alte, würdige, um unser Wohl treubesorgte Pfarrer von Zweibrücken auch ein Ehepaar namens Z'binden, das von einem Besuch der Unglücksstätte im Selmatter Tal kam, zu der Leidversunkenen. Es waren Leute, denen man die Menschengüte und den bürgerlichen Wohlstand auf den ersten Blick ansah. Frau Z'binden nahm Duglore mütterlich liebreich bei der Hand: »Nun möchten wir Sie, liebes, schwergeprüftes Kind, fragen, ob Sie nicht in die schmerzliche Lücke unserer einzigen Tochter treten wollten, die uns der Tod vor einem Jahr entrissen hat,« sprach sie. »Mein Mann und ich wüßten uns gar kein größeres Glück. Unsere Familie besteht bloß aus uns Eltern und zwei Söhnen, von denen der ältere als Student fern von Haus weilt, der jüngere daheim noch die Schule besucht. Wir wohnen in Hagenach, da also, wo die Balgenach aus den Bergen in die Ebene fließt; wir besitzen eine kleine Fabrik und ein schönes, von Gärten und Bäumen umgebenes Heim, das gegen den Feuerstein und seine Bergnachbarn schaut. Sie hätten also jeden schönen Tag den Gruß aus der alten Heimat, Duglore, und dafür, daß Sie auch in der neuen innig heimisch würden, wollten wir schon sorgen. In allem und jedem wären Sie die Nachfolgerin unserer seligen Tochter. Nun, was denken Sie dazu, liebes Kind?«

Leis erzitternd erhob Duglore das Haupt und schaute Frau Z'binden in das gewinnend freundliche Gesicht; das Mädchen aber konnte nur schluchzen: »Ich danke Ihnen.« Dann nahm ihr ein hervorbrechender Tränenstrom die Worte hinweg, und als sie sich wieder faßte, stieß sie jammervoll hervor: »Nein, nach Hagenach hinaus möchte ich nicht versetzt sein, am liebsten kehrte ich nach Selmatt zurück.«

»Aber das geht jetzt doch nicht, Duglore,« mahnte Herr Z'binden mit freundlichem Lächeln, »dort hinten ist ja keine lebendige Seele mehr,« und Frau Z'binden, die der Weinenden tröstlich das Haar streichelte und sie mit lieben Worten beruhigte, versetzte: »Ein Harmonium würde Ihnen bei uns nicht fehlen; wir wissen, daß ein schönes, frommes Lied manchmal mehr über ein trauriges Herz vermag als jedes Menschenwort.« Da horchte Duglore doch empor. Herr Z'binden sagte: »Ich begreife, Duglore, daß Ihnen unser Angebot zu neu und zu unvermittelt ist. Bedenken Sie sich einige Tage; wir kommen wieder nach Zweibrücken, dann hoffen wir auf Ihr Ja. Es ist beinahe unmöglich, daß Ihnen jemand ein angenehmeres Heim bieten kann als wir.« Damit ging das Paar, und der Pfarrer von Zweibrücken versuchte Duglore mit milder Überredung für den Vorschlag der Familie Z'binden zu gewinnen. »Ich meine halt,« sagte er im Tone sanfter Überredung, »wenn uns Gott eine so liebe Hand hinstreckt, sollten wir sie dankbar ergreifen.« Doch in Schmerzen verträumt, schwieg das Mädchen hartnäckig und eigensinnig.

Erst als auch der Pfarrer gegangen war, kam wieder etwas Bewegung in die halb versteinerte Gestalt, und belebten sich die umflorten Augen. »Jost,« zitterte ihre Stimme, »ich sehe ja auch ein, daß wir wieder mit dem Leben rechnen müssen, obgleich ich noch lieber bei unseren Eltern im Grabe läge. Nur trennen wollen wir uns in diesem großen Leid nicht, Jost! Ich habe einen Gedanken, der mir wie von meinem lieben Vater selig selber im Traum eingegeben worden ist. Wir wollen dem Pfarrer von Zweibrücken bekennen, daß wir ein Liebespaar sind, und ihn bitten, daß er uns, wenn wir nach Landessitte auch noch ein wenig zu jung sind, bald traue. Dann wollen wir wieder ins Selmatter Tal ziehen, neben der alten zerstörten Heimat aus dem Geld, das uns der Landrat von den eingelaufenen Liebesgaben geben wird, ein Haus oder auch nur ein bescheidenes Häuschen an einen schönen sonnigen Fleck bauen und da in Liebe und Frieden bei den Gräbern unserer Eltern leben. Wohl ist die Bodenalpe gestürzt, aber gegen das Lichtmeßloch empor gibt es noch einige kleine Weiden, die leicht ein paar Kühe erhalten. Mir erschiene dieser Plan als das Schönste, Jost, was wir uns wünschen können.« Zum erstenmal ging etwas wie ein sanfter Sonnenstrahl über ihre leidblassen Züge, stieg eine neue Hoffnung aus ihrer schmerzverdüsterten Seele. Ihre Hände suchten zärtlich die meinen.

Ich konnte aber Duglore nicht helfen. »Du kommst mir mit deinem Wort wohl wie eine mutige Heldin vor,« gestand ich ihr, »ich aber bin nicht so stark wie du. Wenn ich nur gegen das Selmatter Tal blicke, kriecht es mir stets noch wie ein Schauder durchs Mark. Dort hinten leben, nie loskommen von den schrecklichen Erinnerungen, nein, ich hätte keine glückliche Stunde, ich würde schwermütig, wahnsinnig. Ich gehe nur noch einmal ins Selmatter Tal. Für meine und deine Eltern will ich dort beten, nachher mag Wald wachsen oder geschehen, was will; aber eine neue Heimat suchen und gründen, liebes Duglörli, kann ich auf der Schreckensstätte nicht.«

Sie glaubte mir ohne Einwendung, aber der hoffnungsreiche Schein auf ihrem Märtyrergesichtchen verging; sie blickte stumm betroffen wie ein Kind, wenn sein Lieblingsvogel tot im Käfig liegt. Selbst ihr Wunsch, daß wir uns wenigstens einen gemeinsamen Dienst auf einem Bauernhof suchen sollten, erregte meine stillen Bedenken. Ich, Jost Wildi, Knecht! Duglore Magd! Es regte sich doch wieder der Stolz in meinem Kopf. Auch kam niemand, der uns beide hatte dingen wollen. Als mir aber ein Großbauer vom Flachland, der das Selmatter Tal besucht hatte, eine schöne Stellung auf seinem Heimwesen anbot und von Roß und Wagen, über die ich zu verfügen hatte, sprach, da wandelte mich die Lust an, auf seinen Vorschlag einzugehen. Ich riet Duglore, ihrerseits das Angebot der Familie Z'binden anzunehmen, in der sie wohl manches Nützliche für unseren späteren eigenen Haushalt lernen könne. Der Entschluß fiel ihr schwer, es lag noch alles in der Schwebe, auch meine Stellung bei dem Großbauern. Da kam der alte Pfarrer und meldete: »Jost Wildi, der Herr Landammann wünscht Euren Besuch. Er bestellt Euch auf morgen ins Landratshaus nach Gauenburg. Um halb acht fährt der Bote von Zweibrücken ins Städtchen. Da mögt Ihr mit seinem Fuhrwerk fahren!« Duglore und ich blickten mächtig überrascht auf. Ich fragte: »Was wünscht wohl der Herr Landammann von mir?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte der Pfarrer, »die Aufforderung stand in einem Brief, den er mir über die geplante große Trauerfeier auf der Unglücksstätte von Selmatt schrieb. Kommt mit ins Pfarrhaus! Da ist vielleicht unter den Liebesgaben noch ein Kleid, das Euch besser steht und paßt, als das, was Ihr jetzt tragt.«

Durch den klaren Herbstmorgen fuhr ich der Balgenach entlang nach Gauenburg. Das Wagenfahren, das mir neu war, gefiel mir; in dem Kleide, das ich trug, fühlte ich mich wohl, und als ich die Türme des Städtchens sah, nach dem ich mich jugendlang umsonst gesehnt hatte, da war mir doch, der geistige Druck und die Niedergeschlagenheit, die mich seit dem gräßlichen Tag von Selmatt begleitet hatten, wichen langsam von mir, ich könnte wieder Teilnahme an den Vorgängen des Lebens fassen. Und daß ich nun vor dem ersten, höchstgestellten Manne unseres Landes erscheinen sollte, erfüllte mich mit Feierlichkeit. Wozu rief er mich nur?

Als ich mich eben erst im Treppenhaus und Flur des Landratshauses, in denen alte Männerbildnisse und Waffen hingen, umsah, trat ein Amtsdiener, der einen kleinen Silberschild auf der Brust trug, auf mich zu. »Sie sind gewiß Jost Wildi von Selmatt,« sagte er, »kommen Sie.« Im nächsten Augenblick stand ich bereits in einem mit alten Bildern und Fenstergemälden ausgeschmückten Gemach vor dem Landammann.

»Willkommen, mein junger Herr Wildi!« Wie schweres und doch helles Erz klang die Stimme des hoch und breit gewachsenen alten Herrn, der mir wie einer jener Helden erschien, von denen uns Schulmeister Kaspar aus Krieg und Schlacht erzählt hatte. Kein Wunder, daß das der erste war im Land! Er aber streifte mich mit einem wohlwollenden Blick seiner starken, ruhigen Augen vom Kopf bis zu den Füßen. »Kernholz aus dem Bergwald unseres Volkes!« lächelte er leutselig. Mich aber, den Weltunkundigen, verwirrte es, wie ein Mann, dessen Erscheinung mich zur Ehrerbietung zwang, so freundlich schauen und sprechen konnte. »Es gereicht mir zur Befriedigung,« sagte er würdevoll herzlich, »daß ich einem hoffnungsvollen Bürger Selmatts das tiefe Leid aussprechen kann, das ich mit allen meinen Landsleuten über den Untergang der wackeren Berggemeinde empfinde.« Und unvermerkt zog er mich in ein Frage- und Antwortspiel über den Bergsturz und mein vorheriges Leben, nickte dann und wann zu meinen Bescheiden und fragte endlich: »Der Name Ihres früheren Selmatter Mitbürgers, Herr Hans Konrad Balmer in Hamburg, ist Ihnen doch bekannt? Da ist ein Brief von ihm, der Sie angeht!«

Der Landammann reichte mir das Schreiben. Als er aber merkte, daß ich in der schwer leserlichen Handschrift nicht recht vorwärts kam, nahm er es wieder zur Hand: »Ich will es vorlesen! ›Lieber Freund Landammann,‹ schreibt mir der Großkaufmann. ›Endlich erfahre ich Ausführliches über die Katastrophe von Selmatt. Keine Worte, dafür Tat! Für die Hinterbliebenen gewähre ich Kredit, so viel Dir wünschbar erscheint. Der ausgegrabene Jost Wildi interessiert mich. Schulmeister Imobersteg hat mir im letzten Winter berghoch über den aufgeweckten Burschen geschrieben. Laß ihn doch einmal auf eine Probe zu Dir kommen. Ist Dein Befund gut, eröffne ihm, daß ich ihn gern und mit den besten Plänen für seine Zukunft zu mir nach Hamburg ziehen würde. Wenn er einverstanden ist, will ich einen Mann aus ihm bilden, der unserer Heimat Ehr bereitet.‹« Ernst fuhr der Landammann fort: »In der Tat, mein lieber Herr Wildi, ich habe nach der kurzen Besprechung den Eindruck, daß Sie es wohl wagen dürfen, auf das großherzige Anerbieten meines Freundes einzugehen. Sie sind von jenem guten, starken Volkswesen, aus dem das Leben seine kraftvollen Männer schneidet, und ich bin der Ansicht, daß es kein Schaden für unser Land ist, wenn es Bürger, die sich bewähren, außerhalb der Grenzen besitzt. Im Gegenteil, wir blicken mit besonderem Stolz auf sie. Doch was sagen nun Sie selber zu der Einladung des Herrn Balmer?«

»Ich muß mich zuerst besinnen, Herr Landammann,« antwortete ich ehrlich. Er lachte herzlich über das trockene Wort. »Gut, besinnen Sie sich, aber in einigen Tagen erwarte ich Bescheid! Jetzt habe ich freilich keine Zeit mehr für Sie, aber, Herr Wildi, ich lade Sie zum Mittagstisch ein; es wird meiner Frau lieb sein, Sie kennen zu lernen, einmal als den, der aus dem Bergsturz gerettet worden ist, sodann als den, der wahrscheinlich zu Herrn Balmer nach Hamburg geht. Meine Frau ist mit Frau Balmer befreundet. Sie haben die Balmerschen Schaukästen im Naturalienmuseum noch nicht gesehen? Gut, das tun Sie jetzt. Ich gebe Ihnen jemand mit, der Sie dorthin und um die Mittagszeit in mein Haus führt.« –

Als ich nach Zweibrücken zurückwanderte, da war mir von dem liebenswürdigen Empfang, von der vornehmen Güte des Landammanns und seiner ihm ebenbürtigen Gattin das Herz geschwellt. Die Bilder des Naturalienmuseums, das ich nun endlich und unerwartet gesehen hatte, gaukelten um mich; der Brief Balmers rauschte mir in den Ohren, mir war seltsam wohl und weh zumute. Die von der Kindheit an heimlich emporstrebenden Lebenskräfte regten sich wieder; in wunderbar erhöhter Stimmung spürte ich plötzlich, was doch das Leben für ein unnennbar großes Geschenk Gottes sei. Warum sollte ich, nun meine Heimat begraben lag, nicht in die Welt gehen, die mich so freundlich und mit so großen Versprechungen lockte. Ich fühlte wohl, wie mir das Wachstum im Blute lag. Aber Duglörli? – Ein Stich ging mir durchs Herz, schmerzlich wallten meine Gedanken auf, die Geister der Liebe schlugen mit denen des Lebens- und Weltdrangs eine erbitterte Schlacht.

Zu meiner Überraschung holte ich auf meiner Wanderung kurz vor Zweibrücken einen Bekannten ein, Melchi Hangsteiner. »Woher kommst denn du?« fragte ich. Eine verkniffene Zufriedenheit auf dem dicken Sommersprossengesicht, versetzte er: »Auch von Gauenburg! Der Großbauer, der dich hat zu sich nehmen wollen, ist mit den sechs Stück Jungvieh, die er von den Alpen um Zweibrücken gekauft hat, heimwärts gezogen, da habe ich ihm die Tiere bis Gauenburg treiben und in die Eisenbahn verladen helfen. Er hat sich über deine lange Unschlüssigkeit verdrossen und gesagt, du nehmest sein schönes Anerbieten nicht ernst genug, und hat mich gefragt, ob ich zu ihm kommen wolle. Nun habe ich es ihm versprochen.«

»Also viel Glück, Melchi,« warf ich leicht hin. Im stillen aber bedauerte ich diesen Ausgang; unruhvoll spürte ich, wie er mich auf die Seite Hans Konrad Balmers drängte. »Duglore hat sich heute wohl auch entscheiden müssen,« erzählte Melchi weiter, »auf dem Weg nach dem Städtchen sind mir der Fabrikant aus Hagenach und seine Frau begegnet. Sie fuhren in einem Wagen talein.« Wir sprachen noch Gleichgültiges und verabschiedeten uns am Eingang des Dorfes; je näher ich aber dem Bauernhaus kam, in dem Duglore und ich wohnten, desto schwerer wurde mir das Herz.

Ich fand meine Verlobte im feuchtwarmen Herbstabend auf einer unter Bäumen halbverborgenen Bank im Vorgarten des Hauses. Sie saß sinnend und mit gefalteten Händen; als sie mich erblickte, schritt sie mir matt und traurig entgegen. »Gottlob, Jost, daß du kommst,« sagte sie, »rate mir doch, was ich tun soll! Herr und Frau Z'binden erwarten heute noch eine bestimmte Antwort von mir. Und was bringst du von Gauenburg?« Ich setzte mich zu ihr, getraute mir aber nicht, ihr von Hans Konrad Balmer zu berichten. »Jost, nicht dieses schreckliche Verschweigen!« bat sie. Da erzählte ich ihr hastig und erregt meine Gauenburger Erlebnisse, doch ohne meine Neigung auszusprechen. Sie hörte mir eine Weile mit gesenkten Augen ruhig zu, plötzlich aber lag sie an meinem Hals. »O Jost – und du gingest gerne!« flüsterte es aus ihrem Tiefinnersten. »Du kannst es nicht verbergen. Balmer will dich mir wegnehmen, und er ist mächtig über dich, das weiß ich von Selmatt her. Ich lasse dich aber nicht, ich lasse dich nicht!« Ihre Hände wühlten und krallten sich an meinem Arme fest. »Jost – lieber Jost!« –

»Ich habe dich ja lieber als mein Leben,« flüsterte ich ihr zärtlich ins Ohr, »du bist mein Duglörli und ich dein Jost bis ans Ende der Welt. Niemand kann mich dir wegnehmen, auch in Hamburg nicht.«

»Ja, dein Duglörli!« versetzte sie zögernd. »Aber die Mädchen in der Fremde haben auch Augen. Sie werden sehen, was ich gesehen habe. Wie du der schönste Bursch im Bergland bist, so wirst du der schönste am Meer sein. Und dein Lachen und dein Reden und dein Schweigen wird jenen Mädchen in der Ferne gefallen, wie es mir gefällt. Den dunkeln Glanz in deinen Augen werden sie sehen und, ob sie wollen oder nicht, dir zufliegen müssen wie die Mücken dem Licht. Und es kommt der Tag, da bist du nicht mehr mein Jost, und ich kann nicht mehr dein Duglörli sein. Aber wisse, lieber Jost, was sie dir sagen mögen, du wirst nie eine finden, die dich mehr liebt als ich – Jost – kein treueres Herz!« In glühender, wunderlicher Beredsamkeit strömten ihr die Worte. Nun schwieg sie. Die Gestalt weit vorgeneigt, ließ sie die Arme auf den Knien ruhen, der letzte Tagschein spielte um ihre Flechten, Stirne, Brauen und Wimpern, in wunderfeiner Linie zog sich's von den Löckchen hinab zu Kinn und Hals; der Mund aber zuckte in Leid, und das Trauergewand ließ sie so feierlich erscheinen, daß ich etwas wie eine heilige Ehrfurcht vor ihr empfand. Ich war vor ihrem Schmerzensbild bereit, meinen Welttraum zu begraben.

Da hob sie aber die Augen zu mir. »Schau mich nicht so düster an, Jost!« sagte sie. Ich glaubte einen Vorwurf in dem Klang ihrer Stimme zu hören. »Also, Duglore, ich gehe nicht nach Hamburg!« versetzte ich knirschend, und wunderte mich selber, wie kalt, schneidend und scharf das Wort des Verzichtes von meinen Lippen kam. Duglore zuckte zusammen; wie ein getroffenes Wild sprang sie auf, glitt aber wieder auf die Bank zurück. Eine bange, schwere Stille war eine Weile zwischen uns. Dann kam es fast tonlos von ihren bebenden Lippen: »Jost, geh nur nach Hamburg! Vielleicht verliere ich dich; aber Verlieren ist lange nicht so schlimm, wie wenn du noch einmal in diesem Ton, der das Herz gefrieren macht, zu mir sprechen würdest. Verlieren ist nicht schlimmer, als wenn ich mit deinem Vorwurf leben müßte, ich sei dir vor die Sonne deines Glückes getreten, als wenn ich diesen Vorwurf vielleicht selber in der Seele trüge – geh nur, Jost!« Das letzte Wort klang unsäglich weich und süß, aber auch unsäglich traurig.

»Nein, Duglore, ich bleibe bei dir,« wollte ich rufen. Da kamen aber Schritte über den Weg. Das blasse Mädchen schwankte Frau Z'binden entgegen und gab ihr beide Hände. »Ich komme zu Ihnen nach Hagenach und will Ihnen eine fleißige, brave, treue Tochter sein!« sprach sie leise, doch vernehmlich. Wie eine demütige Magd stand sie zitternd im Dämmerschein; Frau Z'binden aber, die den Kampf in der Brust des Mädchens ahnte, schloß sie mütterlich in die Arme und küßte sie auf die Stirn. »Duglore,« sagte sie, »nun bist du unser Kind – unser liebes Kind!« Ich wollte mir einreden, nun habe Duglore selber ihr und mein Schicksal entschieden, aber es war mir dumpf und schwer bei dem Gedanken. Wir sprachen diesen Abend nicht mehr miteinander; nur mit einem bebenden Kuß sagten wir uns, daß wir in Liebe vereinigt seien, wenn wir uns auch Schmerzen bereiteten.

Ich rang die ganze Nacht und konnte mir nicht helfen; der Weltdurst fraß sich wie ein süßes Gift stets tiefer in meine Seele; mir war, ich würde mein bestes Selbst mit Füßen treten, ein Paradies verlieren, wenn ich die Einladung Hans Konrad Balmers nicht annehmen würde. Ich war aber am Morgen fast noch unsicherer als am Abend. Umsomehr überraschte es mich, als mir die bleiche Duglore einen lieben guten Tag bot und, etwas traurig zwar, aber gefaßt, von meiner Reise nach Hamburg wie von etwas Feststehendem zu sprechen begann. »Wie denkst du dir denn deinen Aufenthalt in der fernen, fremden Stadt, lieber Jost?« fragte sie beim Morgenbrot. »Wann wird man dich denn wieder in der Heimat sehen?« Ich wußte, was es der treuen Seele kostete, so zu sprechen, und war gerührt, daß Duglore es mir so leicht machte. »Ich denke,« versetzte ich zögernd, »daß ich etwa eine dreijährige Lehre durchmachen muß. Diese Zeit will ich in starker Arbeit ausnutzen, damit ich sehr viel lerne. Dann komme ich wieder heim, und in Gauenburg oder sonst in einem hübschen Ort gründe ich mit dir, liebes Duglörli, ein eigenes Geschäft, und du hast unterdes in der Familie Z'binden auch manches gelernt, was uns das Leben verschönern kann. Dann wohnen wir wenigstens bei den Menschen und nicht in einem einsamen Tal, in dem es nur ein schreckliches Erinnern und ein trauriges Dahinleben gäbe.« Ich ergriff die Hand Duglörlis, die schweigend horchte. »Es ist ja im letzten Grund dein Vater, der mir diesen Weg aufgetan hat. Erinnerst du dich seines Briefes?«

»Ja,« sagte sie tröstlich. »Und weil das Los von meinem seligen Vater kommt und dein Vater auch noch gesagt hat, du sollest nach Hamburg gehen, so wird es mir weniger schwer, mich darein zu fügen. Von den lieben Toten kann ja nur Segen kommen, und wie sich das Schicksal wende, werden wir in ihrem Schutz vor Gott und den Menschen bestehen mögen. Das habe ich diese Nacht in heißem Gebet überlegt – und noch vieles andere. Ich weiß, daß du nicht anders handeln kannst, Jost! Es liegt dir im Blut! Was dich in die Ferne treibt, ist das nämliche, warum ich dich so unsäglich liebe. Es ist dein großer, freier Mut! So lasse ich dich in Gottes Namen ziehen und will Gott bitten, daß er mir die Kraft gebe, die Trennungszeit zu überstehen!«

Sie sah mich ernst, friede- und ergebungsvoll an; durch mein Herz zuckte der Gedanke: Du bist ein Tor, daß du von diesem Mädchen hinweggehen willst. Schöneres, Edleres, Besseres als Duglore findest du doch nicht auf Erden. Stumm neigte sich meine Seele ihrer selbstüberwindenden Liebe. Und wenn du gehst, sprach die Gewissensstimme in mir, so darf Duglore weder offen noch heimlich das kleinste Leid geschehen. Ich brach endlich das Schweigen. »Duglore, jede Woche schreibe ich dir in einem Brief alles, was ich tue und denke.« –

Ihre Augen leuchteten freudig und dankbar auf. »O, du lieber Jost,« sagte sie, »ja, schreiben sollst du mir! Ans Schreiben habe ich noch gar nicht gedacht. Ich werde dir stets ausführlich antworten. Dann ist es, wie wenn wir miteinander reden würden. Ja, es kann doch noch alles schön und gut werden!«

»Und was die fremden Mädchen und Frauen angeht,« flüsterte sie leis und zärtlich, »so vergiß nie, daß dich keine lieben würde, wie ich dich liebe, daß es kein treueres Herz gibt.« »O, Duglore,« stammelte ich, »das steht ja wie mit Feuerbuchstaben in meiner Brust.« Mit einem heißen Kuß schloß ich ihr den Mund. Hand in Hand blickten wir stumm in den heiteren Herbsttag und spürten in unseren Seelen das Gotteswunder, daß zwei Menschen einander nie mehr und inniger lieben, als wenn sie vor dem Scheiden und Meiden stehen.

Glücklich und beruhigt bin ich, daß mein Paar, Gottlobe und Hans, noch bei mir gewesen sind. Cirrocumuli, feine, weiße Schneeblütenwolken, schweben im Westen, die Berge trüben sich, die Quecksilbersäule im Barometer stürzt. Bald wird mein Feuerstein eine reine blitzende Krone tragen!


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