Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Confirmationsunterricht

Es war am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis. Der October hatte angefangen, und die blaugefrorenen Kinder Gottes in Quislinge folgten nur mit halber Seele den gottesdienstlichen Verrichtungen; die andere Hälfte hing an den Kartoffelfeldern und schwebte zwischen Furcht und Hoffnung über die Wirkung der Nachtfröste, bis das edle Knollengewächs unter Dach war. Und die, welche hochliegende Aecker hatten und schon mit dem Aufnehmen fertig waren, die saßen in anderen Aengsten und hatten vielleicht mehr Sorgen über die fallenden Viehpreise, als um ihre unsterbliche Seele.

Der Altardienst war zu Ende, und man sang den Gesang vor der Predigt. Drinnen in der Sakristei saß Arvid Magnussen in vollem Ornat und strich mit der Hand über die Blätter des Handbuches. Er wollte das darin verwahrte Papier noch ein Mal durchsehen, auf dem er die Disposition seiner Predigt zur Leitung des freien Vortrages aufgezeichnet hatte.

Neben ihm stand Küster Helmqvist, ebenso breitbeinig wie im Frühlinge, aber etwas ehrerbietiger im Wesen. Der neue Pastor war bis jetzt noch nicht zu ihm gekommen, um Geld zu leihen oder um eine andere Gefälligkeit zu bitten, und hatte stets freundlich, aber bestimmt jede Unterhaltung in der Sakristei über Dorfklatsch zurückgewiesen.

Nun hatte der alte Hjelmqist doch deutlich Etwas auf dem Herzen, das er seinem Seelsorger durchaus mittheilen mußte, koste es, was es wolle.

»Herr Pastor ...«

»Wünschen Sie Etwas?«

»Verzeihen Sie, Herr Pastor, sind Sie kürzlich bei Barons in Hjelmskog gewesen?«

»Nein«, antwortete Arvid erstaunt und blickte den Küster fragend an.

»Hm, hm ... Sie wissen also noch nicht, daß die Baronesse ihrem Grafen abgeschrieben hat, Herr Pastor?«

Der Pastor zuckte zusammen und erhob sich zur Hälfte vom Stuhle, um das Gespräch abzuschneiden, aber – seine Kniee waren mit einem Male so wunderlich schwach geworden.

»Das kann wohl kaum wahr sein.«

»Ja, das ist so wahr wie der helle Tag. Meine Brudertochter ist Kammerjungfer da. Sie kennen Sie ja, Herr Pastor, Schuhmacher's Fina.«

»Ja so ... hm ... Helmqvist seien Sie so gut und gehen Sie auf's Orgelchor und sehen Sie nach, wie der junge Seminarist, der heute spielen und den Gesang leiten soll, damit fertig wird.«

Nein, der Priester war doch unmöglich. Einem als Antwort auf eine so interessante Neuigkeit eine Ermahnung zu geben, daß man auf seinen Dienst passen sollte!

Ach, unser Herr hat wahrhaftig Etwas zu thun, um sowohl seine Hirten wie seine Schäflein auf dieser Erde in Ordnung zu halten. In den großen, feinen Sammelplätzen, wo die Schäflein Gesellschaft spielen, und die Hirten mehr oder minder Christi Kavaliere sind, da mag es angehen, aber hier draußen in Quislinge! Ach, hier saßen die Schäflein und sorgten sich um ihre Kartoffeln, und der Hirt sah mit dem Blicke seiner Seele nur ein paar braune durchbohrende Augen unter einer breiten, niedrigen Stirn, er horte in seinem Herzen nur eine Stimme, welche jubelte: »Frei, frei!«

Und als die Predigt beendigt und der Altardienst und die Verkündigungen abgethan waren, und er mit Mutter Martha in dem kalten Winde seinem kleinen, gemüthlichen Heim zuschritt, war es ihm, als ob das sausende Laubwerk flüsterte: »Sie ist frei!«

Doch was nützte es ihm, daß sie jetzt wieder frei war? Im Gegentheil: wäre die Hochzeit im August gewesen, wie es beabsichtigt war, dann wäre sie jetzt weit, weit fort. Hätte sie nun zu Weihnachten geheirathet, wie man es später, als man Gerda gerettet wußte, bestimmt hatte, würde sie auch nicht mehr lange in seiner Nähe geblieben sein. Doch nun, nun galt es stark zu sein, sie nie mehr zu treffen, als wenn er dazu gezwungen war, ein Mal im Jahre oder vielleicht zwei. Der Kampf mit dem blinden Gotte blieb ebenso verzweifelt, aber er war nun gefährlicher geworden. Und doch sang der Nordwind: »Frei! frei!« und doch kreischte die Wetterfahne auf dem Giebeldache: »Sie ist frei!« Sie riefen es Beide so deutlich, daß er seine Mutter von der Seite ansah und sich wunderte, daß sie es nicht auch hören konnte.

Stark war er und Widerstand leistete er wie ein Mann.

»Besuchen Sie uns doch einmal in unserer Einsamkeit«, bat der Baron, als sie einmal zufällig zusammentrafen.

»Ich danke Ihnen vielmals, aber leider haben die Hausverhöre jetzt meine ganze Zeit in Anspruch genommen.«

»Aber Arvid, wenn nur Baron's nicht böse auf Dich werden, weil Du Dich nie mehr bei ihnen sehen läßt?« fürchtete Mutter Martha.

»Ich mag nicht daran denken, Mutter, Dich hier so die ganzen langen Herbstabende allein zu lassen.«

»Ach, Arvid, nicht will ich, alte Kreatur, daß Du hier sitzest und um mich Deine freie Zeit vertrödelst. Nach Sjöreda fährst Du auch nicht mehr. Die können Dir Eva bald wegschnappen. Lotte ging so schnell ab, ja, das that sie!« brummte die Alte.

Es wurde Advent.

Wenn Schnee vom Himmel fällt in leichten Flocken,
Die Seele ab sich kehret von der Sünde Locken,
Aus Eden's Thür ein heller Lichtschein brennt,
Erstaunet nicht, das ist Advent, Advent.

Wenn durch die klare, winterkalte Luft –
Im Windesrauschen eine Stimme ruft:
»Bald kommt das Kind, das uns der Himmel send't!
Wacht auf zur Freud', das ist Advent, Advent! –

Doch in dem kleinen Hirtenzelte in Quislinge war es nur Mutter Martha, die sich voll und ganz in die Bedeutung der Adventszeit hineinlebte. In Arvid's Innerem wurde der Klang der himmlischen Chöre von zwei irdischen Stimmen übertönt, Von denen die eine in Dur sang: »Sie ist frei!« und die andere in Moll: »Dir wird sie doch niemals, niemals angehören!«

Der erste Schnee fiel, und er hatte noch nicht lange gelegen, als stattliches Schellengeläute am Stackete des Quislinger Pfarrhofes erklang. Baronesse Stålsköld kam mit der kleinen Ellen, um diese bei dem Pastor als Confirmandin anzumelden.

Gerda war ernster geworden; aber der Ausdruck von Schwäche, den die Krankheit zurückgelassen hatte, das neue, dunkle, weiche Haar, kurz wie auf einem Knabenkopfe, das an Stelle des im Fieber ausgegangenen langen Haares wieder wuchs, ließ sie weiblicher und reizender erscheinen als je zuvor. Sie glich noch mehr der Gerda im Krankenzimmer als Gerda der Salondame.

»Danke für den Krankenbesuch, Herr Pastor! Jetzt werden Sie es vielleicht besser verstehen, was mich ängstigte und mir im Sinne lag, als ich es Ihnen damals klar zu machen vermochte?«

»Ja, ich verstehe ...«

Es ist nicht leicht, mit einem jungen Mädchen über ihre zurückgegangene Verlobung zu sprechen. Ist es dazu noch ein Mädchen, das man liebt, da ...

Nun kam die kleine schüchterne, unausgesetzt erröthende Ellen an die Reihe, und ihr Name wurde zu oberst auf die Confirmandenliste geschrieben.

»Papa und Mama wollten Sie bitten, einmal wöchentlich nach Hjelmskog zu kommen und Ellen dort zu unterrichten, aber ich glaubte, es würde meinem Schwesterchen gut thun, mit den anderen Kindern zusammen zu sein, und bat sie deshalb, davon abzustehen.«

»Ich danke Ihnen, Baronesse, Sie haben mir dadurch die Unannehmlichkeit erspart, zu dem Herrn Baron »Nein« sagen zu müssen.«

Gerda blickte zu ihm auf. Er war doch ein Mann. Das reichliche Honorar, auf das er für den besonderen Unterricht des »Herrenkindes« selbstverständlich hätte rechnen können, galt dem armen Prediger augenscheinlich für Nichts.

»Störe ich, wenn ich Ellen zuweilen begleite? Es würde mir eine so theure Erinnerung an meine eigene Confirmationszeit sein, die glücklichste Zeit, die ich durchlebt habe. Ich werde ganz still sitzen.«

Der Pastor gab ihr die Versicherung, daß sie willkommen wäre, aber er log. Half es denn gar nichts, daß er ihren gefährlichen Anblick vermieden hatte? Und außerdem genirte ihn diese unbewußte Censur über seinen Unterricht

Doch das Menschenherz ist schwach. Nach einigen Wochen überraschte es ihn selbst, wie niedergeschlagen und enttäuscht er sich fühlte, wenn Ellen allein kam, und neues Leben, neue Kraft ergossen sich in seine Worte, wenn er wußte, daß »sie« hinter der angelehnten Thüre saß, sie, der er niemals seine Herzenspein gestehen durfte, aber bei der er doch so hoch und gut stehen wollte, wie es ein geringer Prediger bei einer Weltdame von hohem Rang nur konnte.

»Ich darf wohl nicht so dreist sein, ein Täßchen anzubieten? Der Kaffee ist nicht so schlecht, das ist er wirklich nicht, da ist nur ein klein Bischen Cichorien drin«, fragte Mutter Martha manchmal nach dem Schlusse der Stunde.

Und dann saßen sie alle Vier in der kleinen, guten Stube, und die echtsilbernen Theelöffel und die Tassen mit den blauen Blumenranken wurden hervorgeholt.

Wenn sie dann wieder nach Hjelmskog zurückfuhr, strahlten Gerda's Augen und ihre Wangen brannten. Sie wurde wieder mehr und mehr die frühere, gesunde, starke Gerda, die der Typhus aus den goldenen Banden erlöste, indem er sie in seine eigenen schlug.

Sie genoß Arvid's gesunde, lichte, frohherzige Darstellung der religiösen Wahrheiten, ohne zu wissen, wie das Wort und die Stimme, die Rede und der Prediger in ihrer Seele zusammenwuchsen.

So wurden es zwei Confirmationen, zwei »Wiedergeburten«: des zarten Herzens, das sich Gott aufschloß, des jungen, starken, freien Herzens, das sich der schönsten Gabe öffnete, die Gott den Menschenkindern gegeben hat, der Liebe!

Es war ein überlegenes, geringschätzendes Wort in ihrem Elternhause über den Pastor, das Gerda den ersten Lichtstrahl über ihr eigenes Innere gab.

Der Baron war von einem Kirchenrathe heimgekommen, auf dem Magnusson und die minderbegüterten Bauern sich durchaus nicht dem Willen des »Gemeindeherrn« hatten beugen wollen. Nun, der Baron und der Schulze hatten die Sache abmacht, aber ein wenig Verstimmung war da.

»Das ist ein steifer Caplan! Fährt der noch einmal mit der Präpositur des Alten in Sjöreda ab, so wird sich mit diesen Bauerbengeln gewiß gar Nichts mehr aufstellen lassen«, hatte der Baron spöttisch beim Mittagstische geäußert.

Oh, wie schnitt es ihr in's Herz, den Vater so sprechen zu hören! Gerda litt immer unter dem Hochmuth und der Geringschätzung ihrer Eltern gegen Alle, die unter ihnen standen. Diese Ansichten machten sich oft im Familienkreise geltend, denn sie waren viel zu weltgewandt und gaben viel zu sehr Acht auf die neue Zeitrichtung, um solchen Gefühlen im Gesellschaftsleben Luft zu machen. Gerda hatte eine Empfindung, als sei sie persönlich verletzt worden; ihre Wangen brannten und sie fiel heftig ein.

»Aber, Papa, ein gebildeter, selbstständiger Mann darf doch wohl seine eigene Meinung haben.«

»Ja, Gott bewahre uns, herzlich gern. Und was den langen Quislinger Pfaffen betrifft, so hat er sie auch, und das aus dem ff! Aber noch bin ich, Gott sei Dank, Herr in der Gemeinde, mein Töchterchen.«

»Der lange Quislinger Pfaffe« traf sie wie ein Peitschenhieb, und sie mußte sich in die Lippen beißen, um die hervorquellenden Thränen zurückzudrängen. Ach, sie hätte ihn so hoch stellen mögen, so hoch, daß die ganze Welt sehen könnte, wer der »Quislinger Pfaffe« war, und Niemand mehr wagen dürfte, ihn gering zu achten ...

Sie hätte ...

Drinnen in ihrem eigenen kleinen Zimmer brach die Thränenfluth aus. Und das Bad der heißen, warmen Thränen spülte Alles fort, was noch zwischen ihnen lag. Im Glanze der brennenden, träufelnden Diamanten stand das Bild des »Quislinger Pfaffen«. Er war ihr der Höchste, der Beste unter allen Männern und sie sah ein, daß sie ihm so allmählich allzu nahe getreten war.

Und dies, war dies die Liebe, deren Wesen sie nie verstanden hatte?

Nein, nein, so war es nicht. Eine krankhafte Nervenüberreizung war es, und weiter durfte es nicht gehen. Ihre Eltern waren so gut gewesen und hatten so bald von ihren Bitten, daß sie nicht mit Axel brechen sollte, abgestanden; nie wieder wollte sie ihnen Kummer bereiten.

Und im Frühlinge, als die Wege wieder schon trocken waren, als die Sonne schien und die Wogen lächelten, wischte und rieb Mutter Martha vergebens ihre blumenverzierten Kaffeetassen und sah umsonst über den Zaun nach ihrer lieben, guten Baronesse aus. Gerda begleitete Ellen nie mehr.

Die Confirmanden fanden den Pastor immer ernster; vielleicht weicher und liebevoller als vorher, aber mit wehmüthigerem Tone. Sie schoben dies auf den bevorstehenden Schluß des Confirmationsunterrichtes, auf das feierliche Sacrament des Altars und auf die Leidensgeschichte des Herrn, die er gerade mit ihnen durchnahm.

»Kommt denn das gnädige Fräulein nie mehr mit?« fragte Mutter Martha.

»Danke, liebe Mutter Martha, sie hat so schrecklich viel zu thun.«

»Nein, Kreuz, sie macht wohl furchtbar schöne Sachen? Stickereien und so was?«

»Oh, nein, meistens sitzt sie und trennt die Grafenkronen aus ihrer Aussteuer aus«, erklärte die kleine Ellen ganz naiv.

Das Laub war ausgeschlagen, die Inseln prangten in Grün, und der Sommer war da, als Gerda Arvid zuerst wieder sah. Es war Pfingsten, und er stand vor dem Altar, umgeben von der Jugend, die confirmirt wurde und ihn während des Unterrichts lieben gelernt hatte. Die Sonnenstrahlen lächelten durch das große Chorfenster und spielten im Sammet und in den Silbersternen der Altardecke, in den weichen Locken der jungen Köpfe und in dem hohen, schwarzen Haupte, das über sie Alle hervorragte. Seine Stimme klang so warm und mild, als er die Gedanken der Jungen aus dem Säulengang der Dogmatik in den Schooß der Natur führte und sie lehrte, auch dort den Freund zu finden, den wir überall suchen. Er wandte sich zu Ellen Stålsköld und fragte sie, ob sie sich einer der Stellen aus unserem schwedischen Gesangbuche erinnerte, die unsere Gedanken besonders auf Gott in der Natur lenken.

Mit erröthenden Wangen und anfänglich kaum hörbarer Stimme gab Ellen ihre Antwort; aber die Stimme wurde lauter und die kleine Elfengestalt richtete sich frei auf, als sie die Schlußstrophe begann:

»O, wenn sich uns in jedem Lebensborn,
So viel des Großen zeigt, in jedem Erdenkorn,
Wie herrlich muß die ewige Quelle sein,
Wie schön und rein!«

»Wirklich ein Entzücken, das Kind anzuhören«, murmelte der Baron ganz gerührt in seinem Stuhle.

Gerda saß und sah Arvid und ihr Schwesterchen unverwandt an. Es kam ihr in den Sinn, wie Graf Axel einmal während ihrer kurzen Verlobungszeit mit Begeisterung geäußert hatte: »Nächsten Sommer nehme ich mein Weibchen mit zum Manöver. Und Dein Herz wird sich mit Stolz füllen, Gerda, wenn Du mein Regiment wie einen Wirbelwind dahin brausen siehst, Steigbügel an Steigbügel, so daß es in jedem Gelenke knackt und in jedem Nerv zuckt, und die Luft kaum Zeit hat, den Uplandsdragonern aus dem Wege zu gehen!«

Nun war der Sommer hier, aber ihr Held brauste nicht wie ein Sturmwind an der Spitze rascher Reiter dahin. Er trat auf wie das leise Säuseln der sommerlichen Luft in den Wäldern des Nordens, und sein Regiment schwor mit Thränen in den blauen Kinderaugen zu der Fahne des Lammes. Und trotzdem – nie hatte sie es deutlicher gefühlt – würde sie strahlend stolz und jubelnd glücklich gewesen sein, wenn sie ihn »ihr eigen« hätte nennen dürfen. – –

Einige Tage darauf fuhr der Baron mit seiner ganzen Familie nach Wiesbaden.

Fräulein Gerda bedurfte einer Nachcur.


 << zurück weiter >>