Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

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Die Geschwister

Johann und Peter Strömbom waren leibliche Brüder und glichen einander wie zwei Erbsen aus derselben Hülse. Der Altersunterschied betrug nur 16 Monate, so daß sie gut mit einander spielen konnten. Sie nagten an einer Brodrinde, tranken ihre Milch aus einem Becher, theilten ein Bett, spielten, schlugen sich, schliefen, bekamen gemeinschaftlich Schläge und zerrissen ihre Hosen zusammen auf den Felsblöcken. Das war zu Anfang der zwanziger Jahre.

Dann wurden sie größer, lernten lesen, eine leserliche Hand schreiben und die vier Species mit ganzen Zahlen rechnen. Ihr Papa, der ein kleines Anwesen in Småland gepachtet hatte, konnte es nicht ermöglichen, sie weiter auf der Bahn der Wissenschaften fortschreiten zu lassen, und es kam auch nicht darauf an, denn die Büchergelehrsamkeit schien nur mit Mühe in die kleinen, runden, weißblonden Strömbom'schen Köpfe eindringen zu können.

Doch Etwas mußte doch wohl aus ihnen in dieser Welt werden, und als Papa Strömbom es schließlich so weit gebracht hatte, daß er, wenn auch mit Schulden, das kleine Gut, seine bisherige Pachtung, kaufen konnte, da meinte sowohl Johann wie Peter, daß sie Beide ihr ganzes Leben auf der theuren Scholle verbringen könnten.

Doch Papa Strömbom sagte, daß das Gut für Zwei zu klein sei und ein Vöglein deshalb das Nest verlassen und sich auf etwas Anderes legen müsse. Und da Johann in den vier Species am besten beschlagen war, kam er in die Kaufmannslehre, und weil Peter beim Probepflügen einen Preis gewonnen hatte, sollte er Landmann werden. Johann kam zuerst in die nächste Stadt, aber er maß, wog ab, wechselte und ging dort so gut mit den Kunden um, daß ein Malmöer Kaufmann, der in Geschäften durch die Stadt reiste, ihm eine Anstellung hinter seinem großstädtischen Ladentisch gab. Doch zuvor sollte er noch nach Hause fahren, um von den Eltern und Bruder Peter Abschied zu nehmen. – Die beiden Jünglinge drückten sich lange die Hand, und Beider Lippen zuckten ein wenig.

»Pfui, ich glaube, Du heulst, Johann!« sagte Peter und blickte dabei aus dem Fenster und biß sich in die Lippen, um seine eigenen Thränen zurückzudrängen.

»Pfui, nicht doch, ich bin ... bin ... so froh«, schluchzte Johann und legte den Rockärmel über die Augen.

»Was kostet die Reise im Einspänner nach Malmö?«

»Zwölf Thaler ... und dann ... vier Nachtquartiere ...«

»Dann ... dann ... wird es wohl lange dauern, ehe wir uns wiedersehen«, meinte Peter.

Und es dauerte lange. Ein Jahr nach dem anderen ging dahin, und Johann konnte nicht heimreisen. Der Vater starb, aber es war gerade vor Weihnachten und da war im Geschäft natürlich mehr als je zu thun, und er mußte mehr daran denken, den Lebenden Laugenfisch auszuwägen als den Todten zu beweinen. Die Mutter starb auch, aber das war gerade im Herbst, als die Hauptzeit für den Heringshandel war, und wieder konnte Johann es nicht ermöglichen, zu kommen. Einmal hatte Peter dreißig Mark zu einer Reise nach Malmö zurückgelegt, doch der Verstand siegte über das Gefühl, und er kaufte für das Geld eine Kuh.

Aber sie schrieben sich einmal monatlich. Und Johann's Handschrift wurde immer hübscher und fließender, mit richtigen Kaufmannsschnörkeln, und Peter's Schrift immer kritzliger und seine Reihen sahen aus wie lückenhafte Zäune, denn es macht einen Unterschied in der Leichtigkeit der Hand, ob man Rosinen auswägt oder eine Dreschmaschine bedient, das kann ich Euch sagen.

Es war ein einfacher, prosaischer Briefwechsel mit wenig Worten und vielen orthographischen Fehlern; doch das mit einander in inniger Geschwisterliebe verbundene Leben zweier Menschen spiegelte sich alljährlich in diesen Briefen wieder.

Nur ein einziges Mal vergingen zwei Monate ohne einen Brief von Peter. Johann war untröstlich und schrieb an ihn, daß er, wenn er todt wäre, es seinem Bruder doch wenigstens mit einigen Zeilen kund thun möchte. Peter antwortete, er sei nicht todt, sondern habe im Gegentheil eher neues Leben bekommen, da er sich nun endlich mit Pastors blondlockiger Anna verlobt habe. Er habe sie schon lange, lange geliebt, aber nicht darüber sprechen wollen, ehe er wußte, wie er in dem neunzehnjährigen Herzen, das nun nur für ihn schlüge, angeschrieben sei.

Nur ein einziges Mal war Johann nachlässig und schrieb nicht in sieben Wochen. Peter ging seufzend umher, fuhr den Knecht an und wurde erst wieder sich selbst gleich, als er endlich eine kleine Karte erhielt, die so aussah:

Johann Strömbom
Karin Andersson

Aber von da an war die Correspondenz wieder in Ordnung und wurde in den nächsten zwanzig Jahren durch Nichts unterbrochen.

Bruder Johann hatte die Tochter seines Principals geheirathet. Mit Karin's rundem Händchen bekam er die Laden- und Speicherschlüssel und im Januar schickte er einen großen Ausschnitt aus der Malmöer Schnellpost, den Peter seiner Anna mit vor Stolz und Freude vibrirender Stimme vorlas:

Prima Fetthering, Grauhering und Sprotten bei Johann Strömbom.
Tuche, Halbtuche, Seidentücher und Kleiderstoffe billigst bei Johann Strömbom.
Salz von St. Ybes, Rosinen, Zwetschen und Smyrnafeigen zu den niedrigsten Tagespreisen bei Johann Strömbom.

Peter hatte sich auch auf seinem Fleckchen Erde verbessert und hätte jetzt vielleicht ohne zu große Einbuße dreißig Mark opfern können, um Bruder Johann noch einmal zu sehen, doch ach – die Post hatte die Fahrpreise für die Station von 80 Pfennig auf 1 Mark 60 erhöht, und der Kuhstall mußte nothwendig umgebaut werden.

So wurde denn der Stall umgebaut, doch jedesmal, wenn in der Wirthschaft etwas erübrigt wurde, zog sich Frau Anna in's Schlafgemach zurück, und bald verkündete eine neue, zarte Stimme mit ausgesprochener Neigung zum Discant, daß die Strömbom'sche Erbfolge auch fernerhin gesichert war. Bald wurden zwischen neun jungen Strömbom's Grüße gewechselt, vier in Malmö und fünf in Träleboda.

Und auf dem Laufzettel, den der Pastor zu Sanct Petri in Malmö schrieb, standen stets als erste Gevattern:

Gutsbesitzer Peter Strömbom auf Träleboda.
Frau Anna Strömbom dito.

Und auf dem Taufzettel, den der Seelsorger der Strömbom'schen Herrschaften auf Träleboda sauber abschrieb, stand stets obenan:

Kaufmann Johann Strömbom in Malmö.
Frau Karin Strömbom dito.

Und regelmäßig fragte der Prediger, wenn er sich das Taufconfect in die Tasche des Talars steckte:

»Aber kommen denn Ihr Bruder und Ihre Schwägerin nicht einmal her, um sich ihre Pathchen anzusehen?«

Und regelmäßig lautete die Antwort:

»Ja, zum Sommer, hoffen wir.«

Doch an der Wand im Salon hingen sowohl auf Träleboda wie bei Bruder Johann in Malmö Bruder und Schwägerin und alle Kinder in prächtigem Rahmen. Und oft standen Peter und Johann, jeder in seinem Heim davor, und betrachteten dies kleine Mosaikbild, bis die Augen sich feuchteten, aber noch immer mußten die monatlichen Briefe das einzige Vereinigungsband bilden. Es waren auch wirklich liebe Briefe:


»Im Sommer haben wir uns oben auf dem Boden, da, wo früher die Knechtskiste stand, wie Du weißt, ein Zimmer bauen lassen. Anna hat selbst feine blaue Tapeten eingeklebt, von denen die Rolle 30 Pfg. kostete. Ach, wenn Du, lieber Bruder, doch einmal mit Deiner guten Frau zu uns kommen und uns besuchen könntest, dann solltet Ihr in dem Zimmerchen logiren!«


»Dieses Jahr habe ich gute Geschäfte gemacht. Ich hatte vierzig Säcke Kaffee eingekauft, und da stieg er um 5 Pfg. per Pfund. Deshalb soll Deine liebe Anna auch ein hübsches Kleid von mir haben.

Lebt die alte Marie auf dem Waldhügel noch? Gieb ihr zwei Mark von mir. Weißt Du noch, wie oft wir bei ihr waren und Waffeln aßen, wenn wir die jungen Stiere einfingen?«


»Diesmal habe ich ein gutes Jahr gehabt. Ich bekam allein 20 Tonnen Hafer von dem Quellbaumacker und habe zwei neue Morgen im Kuhhagen urbar machen können. Da, weißt Du, wo wir am 1. Mai den kleinen Hasen griffen. Und dann sind zwei meiner Kühe auf der Thierschau preisgekrönt worden.«


Auf diese Art lebte Jeder sich in das Leben des Anderen ein, auf diese Weise wurde die Verbindung zwischen zwei Brüdern, die sich in dreißig Jahren nicht gesehen hatten, aufrecht erhalten, und sogar die beiden Schwägerinnen, Pastors Anna und die Kaufmannstochter Karin hielten sich beinahe für Jugendfreundinnen.

Da hörte man plötzlich das Dampfroß durch den nordischen Wald schnauben, und die Südbahn erstreckte ihr Eisenband über Berg und Thal. Dreißig Kilometer von Träleboda war eine Eisenbahnstation, und im Kirchspiele wußte man ganz sonderbare Dinge von diesem neuen Verkehrsmittel zu erzählen; doch das Merkwürdigste von Allem war, daß man, wenn man auf dieser Station einstieg, für nur sieben Mark in acht Stunden bei Bruder Johann sein konnte! Zuerst hatte man gedacht, daß Johann mit Frau und Kindern nach Småland kommen und das Wiedersehen im alten Heim gefeiert werden sollte, wo Vaters Sopha und Mutters Lehnstuhl schon seit sechzig Jahren auf demselben Platze standen und von wo man gerade über die Seebucht hinweg die beiden weißen Kreuze in der Stadt der Ruhe, wo die Blumen frisch in dem Garten des Todes aufsprießen und das Gras dicht auf den Gräbern der Eltern wuchs, sehen konnte.

Aber auch jetzt konnte Johann wieder so schwer aus dem Geschäft abkommen, und Frau Anna's Sinn stand auch wohl ein Bischen nach Kopenhagen, und so wurde denn beschlossen, daß Alle aus Träleboda mit der Bahn nach der großen Stadt am Sunde fahren sollten.

Seit sechs Monaten hatte Johann täglich von seinem Comptoirfenster aus den Zug über die südschwedische Hochebene in den Malmöer Bahnhof rollen sehen und war selbst schon ein langes, langes Stück mit der Bahn gefahren, sogar bis Atarp und Lund (20 Minuten). Er hielt in seiner Uebercivilisation eine Reise mit der Eisenbahn für gar nichts, aber die einfachen, fern vom Geräusch und Lärm der Welt lebenden Trälebodaer hatten bei dem Gedanken an die bevorstehende Fahrt das Gefühl, als sollten sie ein langes, schweres Examen bestehen.

Der Zug ging um 12 Uhr 15 Vormittags von ihrer nächsten Station nach Süden weiter, aber Morgens um acht Uhr waren sie schon an Ort und Stelle. Nach vielen Ermahnungen an Stall-Ola, recht langsam mit den Braunen nach Hause zu fahren, und nach ein Paar Dutzend Aufträgen, die er den Mägden bestellen sollte, zog man Hand in Hand – sieben Personen! – nach dem Bahnhofe, um genau vier Stunden vor Abgang des Zuges Billete zu kaufen. Dazumal war der Verkehr auf den kleinen Stationen unbedeutend und der täglichen Züge verhältnißmäßig nur wenige, weshalb kein Einziger des Personals, viel weniger der Inspector selbst, es für nöthig befunden hatte, sich in dieser stillen Morgenstunde auf dem Perron einzufinden.

Aber Gutsbesitzer Strömbom hatte keine Zeit, zu warten. Er suchte den Inspector in seiner Wohnung auf, um mit ihm über die Reise »abzuschließen«.

»Guten Morgen, Herr Inspector, mein Name ist Strömbom, Peter Strömbom auf Träleboda, wenn Sie von dem Gute gehört haben, und ich wollte gern mit meiner Frau und meinen Kindern zu meinem Bruder, dem Kaufmann Strömbom in Malmö reisen. Johann Strömbom, wenn Sie ihn kennen sollten.«

Gutsbesitzer Strömbom's Auftreten weckte in diesen ersten Zeiten der schwedischen Eisenbahnen nicht das Aufsehen in der Familie des Inspektors, das man heut zu Tage davon erwarten würde. So etwas kam täglich vor. Der Inspector antwortete auch sehr freundlich:

»Ja, das läßt sich gut machen, der Zug geht 12 Uhr 15.«

»Ja, aber wir müssen uns wohl über den Preis einigen. Ich habe gehört, daß Sie 7 Mark nehmen, wenn man nach Malmö fährt.«

»7 Mark 15 Pfennige, ja.«

»Nanu, die 15 Pfennige werden Sie doch natürlich ablassen; wir halten uns also an die 7 Mark. Aber nun sind wir sieben, ich, meine Frau und fünf Kinder, da wird es wohl billiger?«

»Ja, Kinder unter zwölf Jahren bezahlen nur die Hälfte.«

»Ja, das versteht sich, das weiß ich, aber wir bekommen doch etwas Rabatt auf das Ganze?«

»Unmöglich, mein bester Herr, wir müssen dem Staate den vollen Betrag für jedes Billet erlegen.«

»Na, man hängt doch unsertwegen keine Wagen an?«

»Nei–ein, freilich nicht, aber ...«

»Denken Sie daran, daß ich Carl und Auguste, meine Kleinsten, die doch nicht so großes Vergnügen von der Reise haben können, noch mit dem Knecht zurückschicken kann!«

»Ja, bewahre, das ist Ihre Sache.«

»Ja, aber dann verliert ja der Staat die Bezahlung für zwei Kinderbillete, Ihrer Albernheit wegen?«

»Die Preise sind bestimmt. Sie reisen oder Sie lassen's bleiben.«

»Nun ja, mag's denn sein, aber dann wollte ich Ihnen noch rechtzeitig sagen, daß der Zug zwischen Hästveda und Heßleholm eine halbe Stunde halten muß, während ich bei meinem Jugendfreunde Olof Holm, der dort auf einem Gute Inspector ist, vorspreche.«

»Der Zug hält nur an den im Fahrplan angegebenen Stationen«, erklärte der Inspector.

»Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, mein Herr, daß Sie der ungefälligste Mensch sind, der mir je vorgekommen ist«, meinte Herr Strömbom.

Schließlich saß man denn im Coupé, die Billete wurden eingeknippst, die Thür geschlossen, der Inspector pfiff, die Locomotive pfiff, die großen Kinder freuten sich, die kleinen weinten und Frau Anna fiel ihrem Mann um den Hals, schluchzte und flüsterte:

»Peter, wenn uns Etwas zustoßen sollte, so habe Dank für die neunzehn Jahre einer glücklichen Ehe!«

Aber es stieß ihnen Nichts zu, und am Abend waren sie in Malmö.

War dieser stattliche, grauhaarige Mann mit dem Cylinder und der goldenen Uhrkette denn wirklich Bruder Johann? War diese feine Dame in eleganter Sommertoilette die Schwägerin? Und erst die Kinder!

Hand schloß sich um Hand, Auge versenkte sich in Auge, im Halse würgte es. Freilich war es rührend und eigentümlich gewesen, aus der Hand des Präsidenten selbst die Preismedaille für Hjelma und Stjerna zu empfangen, aber, Herr Gott, dies war doch noch etwas ganz Anderes.

Die jubelnden Gedanken rangen nach Luft, die stürmenden Gefühle suchten Worte, fanden aber keine anderen als: »Bruder Johann, wer trägt unsere Koffer?«

Aber einen Augenblick später auf dem Balkon von Herrn Strömbom's großem, dreistöckigem Hause, von Kinderarmen und Sommerlüften umfangen, mit dem blauen Sund und der Limonadenflasche vor sich, da fand man sich selbst wieder und Fragen und Antworten und »Weißt Du noch? weißt Du noch?« und liebevolle Blicke und die Küsse der Schwägerinnen und das Lärmen der Kinder bildeten die schönste Symphonie.

Manchmal legte sich die jubelnde Freude auf einen Augenblick – da flogen die Gedanken zu der kleinen Seebucht, droben in Smålands Fichtenhügeln, an der Vater und Mutter so still, so still schlummerten.

Und diese dreißig Jahre, während welcher die Beiden getrennt gewesen, waren wie Nichts. Dreißig Jahre!

Es wurde kühl und dunkel auf dem Balkon; es war auch hohe Zeit, zur Ruhe zu gehen. Johann und Peter sollten im selben Zimmer schlafen. Ganz wie früher. Nach einer halben Stunde war Alles still im Hause.

Aber noch einmal, leise, vorsichtig, um nicht den Bruder zu wecken, wenn er schlafen sollte, erhob Johann sein greises Haupt und blickte nach dem Bette des Bruders hinüber. Ja, er wachte.

»Schlaf gut, Peter!«

»Danke, Johann!«


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