Alfred von Hedenstjerna
Allerlei Leute – Erster Band
Alfred von Hedenstjerna

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Des Candidaten Christmette. Weihnachten!

Welcher Unterschied zwischen sonst und jetzt!

Doch er müßte ja jetzt viel glücklicher sein? Er war aus dem albernen Faseln und dem engen Gesichtskreise herausgekommen. Dort, wo das Elternhaus auf dem föhrenbekränzten Holm lag dort unter dem niedrigen Dache, innerhalb der rothen Wände, hatte er mit den Gedanken Anderer gedacht, bis er ein »alter Kerl« war, volle zwanzig Jahre alt! Vaters und Mutters Gedanken, Großtante Anna's, der Hülfslehrer und später der Oberlehrer Ansichten über Leben und Natur hatte er getheilt. Welch' ein Gefängniß! Welche Zwangsanstalt für die Seele!

Es sah gerade nicht gefährlich aus, dies Gefängniß, wie es dort im blendenden Schnee und in der Decembersonne mit seiner hellen Fensterreihe, den weißen Gardinen, dem bläulichgrauen Rauch aus dem Schornstein und den Garben für die Vögel auf dem Zaune an der zugefrorenen Bucht lag.

Und der alte Hauptmann, der Papa des Candidaten, der trotz seiner siebzig Jahre noch die große Treppe mit raschen Schritten hinaufging, und die alte Frau Hauptmann, die unruhig und beschäftigt unaufhörlich sehnsüchtige Blicke aus dem Saalfenster warf – sie sahen gerade nicht wie strenge Gefängnißwärter aus mit ihren treuherzigen, sanften, liebevollen Augen und dem grauen Scheitel.

Doch der Candidat, der mit Pelz und Bibermütze bekleidet im Schlitten saß und in raschem Trabe dahin fuhr, er wußte es besser. Merkwürdiger Weise hatte er »die Fesseln« nicht drückend gefühlt, so lange er sie trug. Er war in seiner Naivität recht glücklich gewesen. Vielleicht ... glücklicher als jetzt ... ja ... vielleicht? Aber als er dann auf die Universität kam, in den Kreis der frei gewordenen Geister, der stolzen Seelen, da erkannte er so recht »die Tiefe seiner Erniedrigung«. Zum Glück kam er noch früh genug dorthin, um mit den fünfundzwanzigjährigen Herren, die das Brod ihrer Väter aßen und in ihren Freistunden Unsern Herrgott absetzten, den Gehorsam der Kinder gegen die Eltern verlachten und die Liebe verspotteten, die den Segen des Priesters für ihr Glück zu bedürfen glaubte, Punsch zu trinken und ihren Reden Beifall zuzujauchzen.

O, nun galt es, aufzuathmen! Es war ihm, als hätte er eine Zwangsjacke abgelegt und ein weites, bequemes Gewand angezogen. Im Anfange fror es ihn freilich ein Wenig darin; es war so merkwürdig warm bei den beiden alten Herzen gewesen, die ihn in ihrem »Egoismus« und »Despotismus« sein ganzes Leben lang hatten gefangen halten wollen. Und wenn junge, vorurtheilslose Damen mit kurz geschorenem Haar und Tintenflecken auf den Nägeln sich halb beschützend und kameradschaftlich mit ihm über »freie Wahl«, »Sittlichkeit« und »Vorurtheile« aussprachen, dann trat oft zwischen sie und ihn ein kleines, den Andern unsichtbares, jungfräulich mildes Gesicht mit freier Stirn und blauen Augen, die ihm so kindlich, traurig und verwundert erschienen. Das war Julchen, die Pastorstochter von daheim, seine Spielgefährtin aus der Zeit des »Zwanges«, und er wußte, daß sie ihn liebte, obwohl es ihm Niemand gesagt hatte.

Dann war der Bruch mit dem Vater gekommen. Es hatte in den Zeitungen gestanden, daß Kandidat Björk auf dem Feste, das der Verein Skulda zu Ehren eines jungen, reichbegabten Volksredners gegeben, die Rede auf den Ehrengast gehalten und ihm die Huldigung der Jungen für seine genialen, muthigen Angriffe auf »Vorurtheile und Obskurantismus« dargebracht hatte. Aus den Referaten über die Vorlesungen hatte der Hauptmann gesehen, daß diese Vorurtheile, dieser Obscurantismus gerade alles das waren, was er für das Höchste und Beste des Lebens hielt; – und so war es denn gekommen, daß der junge Candidat drei Jahre lang das Elternhaus nicht betreten hatte.

Aber jetzt zu Weihnachten hatte Mama geschrieben. »Komm' heim, Gustav!« bat sie. »Papa fängt an, alt zu werden und ich bin auch nicht mehr so stark wie früher. Theueres Kind, Du willst doch nicht, daß Deine Eltern fortgehen sollen, ehe sie Dich noch einmal haben an's Herz drücken können? Nicht wahr, Du wirst fügsam und freundlich gegen Deinen alten Papa sein?«

Und so reiste er denn zum Heiligabend nach Hause.

Auf der großen Treppe stand Hauptmann Björk, so gerade und stramm wie damals, als er von seiner lieben Compagnie auf dem Manöverfelde Abschied nahm. Doch wie damals bebten auch jetzt sein Herz und seine Stimme, als er die Arme ausbreitete und sagte: »Willkommen, Gustav! Möchte es Dir ein paar Wochen bei uns Alten gefallen! Es ist lange her, seit Du zu Hause Weihnachtsgrütze gegessen hast, mein Junge!« Mama sagte Nichts, doch über die vielen Runzeln und Falten ihres alten Gesichts glitt der Lichtschein sehnsüchtiger, wehmuthsvoller Liebe, als sie ihren Sohn an die Brust drückte.

Der Abend verging. Kein Wort fiel über die Verhältnisse, die zwischen die Alten und den Jungen getreten waren. Nur eitel Liebe strahlte dem Sohne entgegen, wohin er sich auch wandte, strahlte unter Papas buschigen Augenbrauen hervor, aus Mamas mildem, sanftem Lächeln; ja, selbst die alten treuen Dienstboten strahlten vor Freude darüber, daß der Herr Candidat gekommen war und gerade wie früher mit »in die Tunke tauchte«. Und als er auf den Hof trat, um zu sehen, wie die Sperlinge sich an ihren Gerstengarben gütlich thaten, da rasselte der alte Caro an seiner Kette, erhob sich auf den Hinterbeinen und zeigte durch sein Freudengeheul, daß er sich auch Herrn Gustav's wohl erinnerte, der den alten Freund stets geliebkost hatte, wenn er an der Hundehütte vorbeigegangen war.

Da kam die Frau Hauptmann und klopfte ihm auf die Schulter:

»Gustav, Du mußt Deine alte Mama nicht für kindisch halten; aber ich möchte so gern einen Tannenbaum mit Lichtern haben, wie früher, als Du ... noch ... klein ... warst. Ich habe ihn schon in der Vorrathskammer stehen. Gustav, sag', daß Du einen Baum haben willst wie früher?« Ja, das wollte er. Es war eigentümlich; die Heimath, »das Gefängniß«, schien ihm jetzt gar nicht so eng. Es hatte sich gewiß, während er fort war, erweitert ...

Und der Baum wurde angezündet; und Gustav saß am Weihnachtstisch unter den Weihnachtskerzen zwischen den beiden Alten, und Mama pflückte ihm unermüdlich das Beste von Allem ab, und Papa that lange, tiefe, nachdenkliche Züge auf seiner neuen Pfeife, die ihm der Sohn zu Weihnachten geschenkt hatte. Eigentlich hätte es ihm bedeutend schlechter als aus der Angerauchten auf dem Pfeifenbrette schmecken müssen, doch es schien nicht so; der Hauptmann sah befriedigt aus.

Als Papa und Gustav sich zur Ruhe gelegt hatten, ging Mama noch einen Augenblick umher, räumte auf und verschloß das Eingemachte und die Kuchen. Dann öffnete sie leise, leise die Thür zu Gustav's Zimmer. Er lag noch wach und sah sie mit großen, weitgeöffneten Augen an.

»Mama!«

»Ich danke Dir, daß Du gekommen bist, Gustav! Es waren zwei lange, einsame Weihnachtsabende für Papa und mich ...«

»Ich ... ich habe oft an Euch gedacht ...«

»Das weiß ich, Gustav; das Band zwischen den Herzen der Eltern und dem des Kindes ist stark. Die Welt und die Menschen und die neuen Eindrücke müssen lange an ihm nagen, ehe es zerreißt. Gott segne Dich, Gustav! Schlaf gut im alten Heim!«

Gustav lag lange wach. Was machten sie jetzt wohl im Verein? Es war ja wahr, sie hatten ja beschlossen, sich in Olof Blum's beiden Zimmern in der Waksalastraße zu treffen, um dort diesen langweiligen Abend, »wo in den Restaurants nichts Ordentliches zu haben war«, bei einigen Achteln hinzubringen.

Früh Morgens um drei Uhr wurde es im Hause lebendig. Hauptmann Björk hatte seit seinem fünften Jahre keine Christmette versäumt und auch heute sollte das ganze Haus hinfahren. Der Hauptmann nahm das Licht vom Nachttische und ging in den Saal.

»Wohin gehst Du, Papa?«

»Ich werde Gustav wecken und ihn fragen, ob er mit will.«

»Nein ... laß sein ... laß ihn schlafen; laß mir den Glauben, daß er uns begleitet hätte, wenn er wach gewesen wäre! Ich könnte ihn nicht »Nein« sagen hören ...«

Der Hauptmann setzte das Licht nieder, umarmte seine Alte und sah ihr liebevoll in's Auge:

»Wir sind ein Paar arme, schwache Eltern, Stafva!«

»Ja, Papa, aber Du weißt, daß Gustav einen Vater hat, der stärker ist als wir ...«

Als die Schellen draußen auf dem See, an Gustav's Fenster vorbei, klangen, erwachte der junge Candidat. Ja so, nun fuhren sie zur Christmette. Daß sie ihn nicht geweckt hatten! Nun, das war doch herrlich, daß sie ihn zufrieden gelassen hatten; er wäre ja doch lieber zu Hause geblieben. – Aber es war doch eigentlich schon recht lange her, seit er die Christmette zuletzt besucht hatte. Nicht, daß er sich Etwas aus den qualmenden Lichtern und dem schrecklichen Bauerngesang machte; aber es wäre nicht so dumm gewesen, am frühen Morgen, wenn man doch nicht schlafen konnte, ein Bischen an die Luft zu kommen. Sie hätten ihm doch Bescheid sagen können!

Er sprang aus dem Bette und kleidete sich an. Den alten Oelandspony hatten sie gewiß nicht mitgenommen? Noch kam er vielleicht rechtzeitig hin. Doch was waren das eigentlich für Dummheiten? Weshalb konnte er nicht ruhig liegen bleiben? Denk', wenn Olof Blum ihn jetzt hätte sehen können?

Ja, der Oelandspony war zu Hause und der Rennschlitten auch. Der alte Kuhknecht half dem Candidaten beim Anspannen, und dann ging es fort.

Denkst Du noch an das Kirchlein auf dem Hügel bei der Christmette in Deiner Heimath? Zwischen Fichten und Föhren, über See und Bucht sah man die Kirche; von Osten nach Westen lag sie, den Sonnenaufgang bezeichnend, der mit Christus seinen Glanz über die Welt verbreitete, und den Sonntagsuntergang, der uns alle am Lebensende bestrahlt, wo wir bereit sind, uns hinter das Kirchhofsgitter zu flüchten und ein neues Geschlecht über unseren modernden Staub hinweg in's Gotteshaus eilen wird, zu Licht und Frieden, Gesang und brausendem Orgelspiel!

Die Lichter beschienen dichtbesetzte Bänke. Alte, wetterharte Bauern, von den Jahren und der Arbeit gebeugt, einfache, ärmlich gekleidete Frauen aus dem Volke, die das ganze Jahr lang hart gearbeitet und gedarbt hatten, alte, runzelige Weiber, die wohl kaum wieder in einer Christmette ihre trüben Augen auf die Nummertafel richten werden, um den Choral zu suchen, blonde, blauäugige, dünn gekleidete Kinder aus den Hütten der Armuth; sie Alle saßen da mit ruhigem, friedlichem Ausdrucke in den Gesichtern. Es war, als hätte der Weihnachtsengel alle Unruhe aus ihrem Leben und alle Sorge aus ihren Herzen für einen Augenblick mit seinem Flügel fortgeweht.

Der Kandidat setzte sich auf's Orgelchor. Da vorn saß Papa neben dem alten Pastor. Wie sein Haar, von hier aus betrachtet, weiß aussah! Hatten die sorgenschweren Gedanken an den einzigen Sohn es schneller gebleicht? Da, an der andern Seite des Ganges beugte sich Mama über das Gesangbuch. Wie war das theure Antlitz runzelig und alt geworden! Hatte ihr einziges Kind die Furchen so dicht und tief gezogen?

Und zur Seite der Mutter saß Julia, die Freundin aus den Spiel- und Frühlingstagen des Lebens, das Mädchen mit dem jungfräulich reinen Blick, mit der freien, hohen Stirn, die sicher nicht eines der modernen »Frauenprobleme« der Zeit lösen konnte; – vielleicht nur das altmodische Problem, dem Manne, dem sie Treue gelobt hatte, ein lebenslanges Glück zu bereiten. Um den lieblichen Mund zogen sich ein paar ernste, scharfe Linien, die dort früher nicht gewesen waren. Waren sie während der Gedanken an das lange Schweigen des Jugendfreundes entstanden?

Und die Orgel brauste und jubelte ihr:

»Sei uns gegrüßt, Du schöne Morgenstunde!«

Schöne Klänge! Du bist ja ein richtiger Virtuos, alter Dorfküster! Oder kommt es vielleicht daher, daß Dein Instrument heute einen so guten Accord mit dem Saitenspiel in unserer eigenen Brust giebt?

Drunten im Chorstuhle drohten zwei Frauenherzen ihre Bande zu sprengen. Ein altes und ein junges. Das alte bat den Sohn der Jungfrau von Nazareth, er möge ihr den unaussprechlich theuren Sohn zurückgeben, befreit aus den Schlingen des Unglaubens, der Lästerung und des Hochmuthes. Das junge sehnte sich nach dem Jugendfreunde, der ihm theurer als Alles auf der Welt geworden war.

Da auf einmal wandten Beide ihre Blicke nach dem Orgelchor ... Da stand Gustav und blickte sie Beide an, als wollte er sie mit dem Blicke in sein Herz schließen, während große, warme, helle Thränen über seine glühenden Wangen rieselten.

Da erbebten die beiden Frauen dort vorn im Schiff der Kirche vor jubelnder Freude. Die Alte gedachte des Tages, als ihr der Sohn zuerst geschenkt worden, als er klein und hülflos an ihrer Brust lag, und sie meinte ihn jetzt noch einmal als Weihnachtsgabe von Ihm bekommen zu haben, der mehr als Mutter und Vater ist. Die Junge sah plötzlich des Lebenslenzes schönste Rosen trotz Schnee und Kälte erblühen und verbarg ihr liebliches Gesicht tief erröthend im Gesangbuche.

Und beide, das junge Herz wie das alte, begegneten sich bei dem Gottessohne auf dem Stroh in der Krippe in brünstigem Gebet, in einem innigen:

»Sei uns gegrüßt, Du schöne Morgenstunde, als Anfang eines neuen Lebenstages voller Frieden und Liebe!«


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