Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundzwanzigstes Kapitel

Emanuel trat in den Garten hinaus, der in der lauen Fruchtbarkeit des Pfingstregens dampfte. Nachdem Dominik und die übrigen alle Angelegenheiten im Gasthaus geordnet hatten, folgten sie ihm. Sie fielen, vor das Gartenpförtchen gelangt, alsbald, durch Quint geführt, in den üblichen Wanderschritt, der aber nicht in der Richtung auf Breslau einsetzte.

Nach ruhigem Gleichmaß, während man noch im Dorfe ging, beschleunigten sich die Schritte Quints. Bald waren, außer Dominik, alle hinter dem Meister zurückgeblieben. Auch Elise Schuhbrich ging still für sich, um die Eröffnung nicht zu stören, die der Primaner Quinten zu machen hatte. Über den Feldern hing Lerchengesang.

Emanuel sprach:

»Man füllt nicht neuen Wein in alte Schläuche, sonst zerreißt der Most die Schläuche und geht verloren. Was ich vor diesen getan und geredet habe, habe ich getan als Menschensohn. Haben sie nicht begriffen, was ich als Menschensohn getan und geredet habe, wie hätten sie erst begreifen wollen, wenn ich als der Sohn Gottes vor ihnen geredet und gehandelt hätte. Das Fleisch ist willig in ihnen, aber der Geist ist schwach.

Ich habe dich lieb, und ich weiß, was du vorhast«, sagte Emanuel zu Dominik. »Siehe, ich bin in Gott neu und jung, aber in der Welt bin ich müde. Ich habe geredet vor tauben Ohren, und der Lärm der Welt ist wie ein Meer, das eines verschlagenen Schiffers Stimme verschlingt. Ich bin ihr fremd, und sie ist mir fremd geblieben.

Mein Leben in dieser Welt ist unnütz, nur mein Leben in Gott ist nicht unnütz. Ich habe des Rufes gewartet, der da ergehen sollte, vom Vater an des Menschen Sohn, damit er seine Bestimmung vollende. Ich habe immer wieder gefragt: wann soll ich mein Blut ausgießen, meine starke Liebe in die ewige Glut des Hasses dieser Welt? Ich habe gefragt: jetzt? jetzt? Doch mein Opfer wurde nicht angenommen.

Mit dir wird Gott sein, denn wo du auch hingehst, treibt dich die Sehnsucht zu Gott! Aber mich jammert derer, die ich liebhabe und die ich im Ungewissen zurücklasse.

Aber alles ist müßig! Meine Worte sind ohne Kraft vor ihnen. Sie hafteten an Gewalttat, Aberglauben und knechtischem Götzendienst.«

Er schwieg, und Dominik fing nun erst mit Vorsicht, dann in bestimmteren Ausdrücken zu berichten an, was sich inzwischen im Wirtshaus zum Grünen Baum ereignet hatte. Emanuel rief Martha Schubert und die Katzmarek heran, aus deren Mitteilungen es ihm wahrscheinlich wurde, daß das vermißte und möglicherweise getötete Mädchen niemand anders als Ruth Heidebrand sein könne und daß es ihre Eltern, der Obergärtner und seine Frau, gewesen sein möchten, die ihn im Grünen Baum gesucht hatten.

Mittlerweile hatte der Weber Schubert, gegen die Abrede, den Verdacht, der auf Quinten lastete, ruchbar gemacht und wie die Volksmenge sich Rache heischend um das Gasthaus zum Grünen Baum zusammengerottet habe, und als nun Emanuel nach den Seinen zurückblickte und sie herbeiwinken wollte, sah er bereits in großer Entfernung einige Männer quer über Feld davonlaufen und erkannte, wie ihm, außer Dominik und den Frauensleuten, nur noch Martin und Anton Scharf geblieben waren.

Diese traten an Quinten heran, dessen Antlitz, man könnte sagen, einen Ausdruck bitterer, mitleidvoller Güte zeigte. Sein Auge verfolgte die Fliehenden kummervoll. Zu den Scharfs aber, die geblieben waren, sprach er die Worte: »Wie denkt ihr: vermögt ihr den Feinden das zu glauben, wessen ich jetzt beschuldigt bin?« Die Scharfs aber schienen in Angst verstört und kaum noch, vor Furcht, Herr ihrer selbst zu sein. Sie ließen Emanuel ohne Antwort.

Da lächelte Quint, nahm jeden von ihnen in einen Arm und drückte sie mehrmals an sich, zwischen ihnen mit einem traurigen und fast väterlichen Lächeln dastehend. »Was habt ihr doch«, rief er mit einer gewissermaßen rührenden Lustigkeit, »so viel Liebe, Treue, Glauben, Hoffnung und Tätigkeit an einen Narren in Christo vergeuden müssen!« Darauf sagten sie nur mehrere Male: »Fliehe, Emanuel, fliehe!« zu ihm.

»Wollt ihr nicht euer Kreuz ebenfalls auf euch nehmen und mit mir gehen?« fragte Quint, und sie zitterten, statt zu antworten. Er zog seine Arme von ihnen zurück, wendete sich zu Dominik, sagte die Worte: »Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich!« und schloß, abermals zu den Brüdern gewendet: »Packt euch! Geht! und laßt mich allein!«

Allein noch konnten die beiden nicht schlüssig werden. Zwar sahen sie in Emanuel nun wirklich beinahe nur noch den Höllenfürsten, den Antichrist, der sie, statt an die Pforte des Himmels, an den Rand des höllischen Abgrunds gelockt hatte. Sie schauderten, sie entsetzten sich. Noch hielt sie jedoch die alte innige Zuneigung, die sie zuerst an Quinten gebunden hatte. Nachdem sie jedoch eine weitere Viertelstunde in der Gefolgschaft Quintens geschritten, vergrößerte sich der innegehaltene Abstand zwischen den Brüdern und ihm immer mehr, so daß, als Emanuel später sich umwendete, auch von diesen, seinen ersten und letzten Jüngern, keine Spur mehr zu finden war.

 

An einem gewissen Meilenstein, der zwischen alten Pappeln nicht weit von der Mauer eines Gutshofes stand, sagten sich Dominik und Quint mit einer Umarmung, Quint und Elise Schuhbrich mit einem Händedruck Lebewohl. Das Mädchen wollte von Quint nicht ablassen. Dominik aber sagte: »Er will es so, und wir müssen dem Sohne Gottes gehorsam sein.« – »Lebe wohl«, sagte Quint, »und doch kommt die Zeit, da wird auch diese alte, herrliche, von knechtischem Ungeziefer entehrte Erde von Söhnen und Töchtern Gottes bewohnt werden.«

Nach diesen Worten veränderte, ja verfinsterte sich Emanuels Angesicht, und die Strenge seiner Mienen sowie sein gebieterisches Wort scheuchten, als Dominik und die Kellnerin ihn verlassen hatten, nun auch Therese Katzmarek und Martha Schubert dermaßen zurück, daß sie ihm nur aus der Ferne nachschleichen konnten. Dabei rückten sich seine Schultern zurück, er trug seinen Nacken, wie niemals bisher, gerade und trotzig aufgerichtet und schien von der Stadt, der er sich mit entschlossener Wendung wiederum zugekehrt hatte und wo doch sein schwerstes Verhängnis wartete, wie von etwas lange Ersehntem angezogen zu sein.

Es war ein ungeheuer mysteriöser Triumph in ihm, als er sich ungeduldig, fast eilend Breslau annäherte. Es sprach in ihm: Ihr Lauen im Lande, wißt ihr nicht, daß der Heilige Geist mit Brausen kommt? Und als er in das Bereich der Gassen kam: Feinde, Feinde, wohin ich blicke! Ich bin als Opfer gewürdigt worden! Kurz, ihn erfüllte die Wollust über die Ohnmacht der Welt, angesichts des Schreis, den seine Seele tat, nach Peinigung, nach dem Martyrium.

In diesem Zustand wurde der Narr in Christo, als er am Tore eines wundervollen Gartens vorüberging, unerwartet von dem Maler Bernhard Kurz und von Hedwig Krause festgehalten. Er war, kaum wußte er wie, alsbald ins Innere des Gartens eingeführt und an einem Teetisch, der unter einer gewaltigen Buche stand, einem bebrillten Herrn und einer schöngekleideten Dame in mittleren Jahren vorgestellt. Es war das Ehepaar Mendel, das auf diese Weise seinen Wunsch verwirklicht sah, den »neuen Messias« kennenzulernen. Aber es schien in dem Manne, den sie sahen und der mit Freiheit sich der grünen Wiesen, der wandelnden Perlhühner, der Rosenhecken und der flammenden Blumenbeete freute, keine Spur von angemaßtem Messiastum und Fanatismus vorhanden zu sein. Es entwickelte sich, auf eine Zeit von höchstens zwanzig Minuten zusammengedrängt, ein Gartenidyll, das in diesem Kreise später noch oftmals besprochen wurde. Es war eine kleine Dohle da, die mit ihren gestutzten Flügeln in unerhörter Neugier um Quint herumhüpfte. Quint trank etwas Tee, und Mendel erzählte ihm aufgeräumt, wie Hedwig Krause wohl die beste Schwester seines Krankenhauses sei. Es war zu bemerken: sie sahen die Gegenwart Hedwigs gern, und der junge und kluge Maler Kurz nahm womöglich ein noch größeres Interesse daran. Frau Mendel führte Emanuel Quint in den mit guten Malereien behängten Räumen ihres Hauses herum, und nachdem sie ihm manchen Kunstgegenstand ihrer reichen Sammlung heiteren Herzens gezeigt hatte, brachte sie eine kleine goldene Dose auf die Wiese unter die Bäume des Gartens heraus.

Das Döschen, in dessen kunstvollem Goldfiligran die Sonne funkelte, barg ein kleines Wunder in sich, das Quinten alsbald in Entzücken versetzte. Nämlich ein winziges, buntes, kaum über erbsengroßes Vögelchen erschien auf der goldenen Oberfläche des Kästchens, nach einem geheimen Fingerdruck der Besitzerin, und fing sogleich, da- und dorthin komplimentierend, in melodischer Lustigkeit frühlingshaft zu flöten und zu trillern an, bis es blitzschnell verschwand und ein Golddeckelchen zuschnappte.

Oft sprachen später der Maler Kurz und Hedwig Krause, die ein Ehepaar wurden, davon, welchen Eindruck das Döschen und der künstliche kleine Sänger auf Quinten gemacht und warum es ihn so gerührt haben mochte. Er konnte nicht müde werden, immer wieder den kleinen, flügelschlagenden Stieglitz erscheinen zu sehen und seinem tapferen Liedchen zu lauschen. Es war, als horche er mit einer besonderen Spannung darauf hin, als wäre etwas vom Inhalt des allertiefsten Geheimnisses in diesem Döschen und Liedchen verborgen gewesen.

 


 << zurück weiter >>