Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Siebzehntes Kapitel

Um neun Uhr des Abends, als man dem Narren in Christo sehr viele Male vergeblich entgegengezogen war, kam endlich Martha Schubert gelaufen und richtete mit dem unzweideutigen Ruf »Er kommt!« zunächst die ärgste Verwirrung an. Sie erklärte den Scharfs, sie erklärte dem Vater, sie erklärte es viele Male diesem und dem, Emanuel käme den Feldweg, der hinten über das Brückchen führte, in den Mühlhof herein.

Als nun nach einigen bangen Minuten die allgemeine Erregung verstummte und, unter dem Schweigen einer Erwartung, die das Herz eines jeden fast stillstehen machte, eine dunkle Gestalt in den offenen Torweg der Mühle trat und dann in jenem Bereich des Gewölbes erschien, der durch das vorn einfallende Mondlicht erleuchtet wurde, kam für Quinten selbst und alle übrigen ein ebenso verhängnisvoller wie erschütternder Augenblick. Quint – und er war es –, langsam und forschend nähertretend, sah, wie eine schweigende Menge mitten im Hof, einige die Stirn auf der Erde, einige das Gesicht im Mondschein emporgerichtet, einige weinend, andere mit Beben Gebete murmelnd, – wie eine Menge vom Wahnwitz betörter Menschen, sag' ich, reihenweis, mit gefalteten Händen, vor ihm auf den Knien lag.

Sogar der Müller Straube erklärte – dem sonst in Sachen des Glaubens wenig zu trauen war und der sich dazu auch wenig äußerte –, er habe, bei dieser Ankunft Quints, vergeblich mit seiner ganzen Vernunft gegen die Mächte, die ihn zur Erde niederzwangen, anzukämpfen versucht.

Ein Doppelbetrug dieser Art, ja ein eigentlich dreifacher – womit die Menge sich selbst und den Narren, der Narr aber nur sich selber betrog –, ist aber vielleicht trotzdem nicht schlechthin verwerflich noch lächerlich: erstens waren sie alle betrogene Betrüger, und zweitens lag doch im Innersten dieses nächtlichen Vorgangs verborgen, wenigstens Augenblicke lang, etwas wie ein Mysterium. Gott ist ein Geist: Jesus, der Nazarener, gilt nicht so sehr als Gottes Inkarnation, sondern er wird für sein Gefäß gehalten. Quint wußte in sich, oder glaubte in sich, den Gottesgeist, den Geist des Herrn. Die tölpelhaften und derben Gemüter sahen in ihm zwar nicht diesen Geist, aber das längst zerschellte Gefäß: den Zimmermannssohn aus Nazareth. Was sie indessen mit bebenden Schauern vor Quintens Erscheinung niederzwang, war eine tiefe Erfahrung von Geist und ward vom Geiste Quintens empfangen. Wer könnte nun mit Gewißheit behaupten, Gott, Christus wäre in diesem leiblichen Irrtum nicht als geistige Wahrheit zugegen gewesen?

Deshalb aber ward dieser Vorgang für Quinten und viele seiner Anhänger verhängnisvoll, weil er das Band zwischen allen aufs neue knüpfte und ihm eine neue mystische Weihe gab.

Emanuel stand im Hofe still und betrachtete lange die Schar der Knienden. Seltsamerweise erschienen ihm diese betörten Menschen, auch nachdem er das erste Staunen, die erste Erschütterung überwunden hatte, weder schrecklich in ihrer Tollheit noch lächerlich. Es gehörte zu Quintens Besonderheit, daß ihm in jeder Lage des Lebens eine bewunderungswürdige Fassung eignete: eine sicher wirkende Selbstdisziplin, die ihm angeboren war oder wenigstens keinen Zug von Angeflogenem oder Erlerntem an sich hatte. Dieser eigentümliche Mensch ohne Bildungsgang hatte sich, aus sich selbst, zum Herrn seiner selbst emporgerungen. Er beherrschte in sich, ausgenommen die Liebe zu Gott und dem Göttlichen, jede Leidenschaft und auf seinem Gesicht wie in seinem Betragen jedwede Äußerung, wodurch denn, ohne seine Absicht, von den Bewegungen seiner Seele sich nichts verriet.

In Wahrheit kam ihn eine tiefe und schmerzliche Rührung an, die ihn indessen daran nicht hinderte, mit gelassener Frage Martin und Anton Scharf herauszufinden. Mit diesen beiden Männern begab er sich – schwebte er, wie die Knienden meinten –, ohne daß er etwas weiteres sagte, an dem demütig winselnden Kettenhunde vorüber ins Haus.

 

Mit seiner Gegenwart in der Talmühle trat, wie durch ein Wunder, Ruhe und Stille ein. Der Orgiasmus machte einem demutsvollen und eingeschüchterten Warten Platz. Alles Singen und laute Beten ward in ein stilles Flüstern verkehrt, geschweige daß sich das Tamburin und die Zionsharfe Dibiezens auch nur im geringsten mehr geregt hätten.

Nicht anders als aus einem Hause, darin der König zu Tafel sitzt, bei Hungersnot, wurde, durch Martha Schubert und andere, von Zeit zu Zeit der an der Türe darbenden Menge Bericht erstattet. Selbst Müller Straube, der für gewöhnlich dem ganzen Treiben mit einer undurchsichtigen, zuweilen ironischen Reserve begegnet war, zeigte sich ernst, ja feierlich. Zum ersten Male schien er, aus einem selbstbewußten und gnädigen Wirt, nur eben wie alle andern, zu einem bescheidenen Gast geworden.

Emanuel hatte sich in ein besonderes, kleines Zimmer zurückgezogen, und die im Hausflur und vor der Türe ängstlich harrende Schar erfuhr, er wolle zunächst nur mit dem engeren Kreise der Auserwählten, und zwar mit einem jeden allein, verhandeln. Und so geschah es, weshalb die Mühle, die noch vor kurzem ein Schauplatz tumultuarischen Lebens gewesen war, plötzlich wie ausgestorben erschien.

Zuerst von allen wurde Martin Scharf durch die Magd des Müllers zu Quinten ins Zimmer gerufen. Als er nach etwa einer halben Stunde wiederkam, gingen nacheinander Anton Scharf, der Weber Schubert, Dibiez, Krezig, der Handelsmann, Weber Zumpt, der Müller Straube und Schneider Schwabe, ein jeder vor Erregung kaum seiner mächtig, zu dem »Giersdorfer Herrgott« hinein.

Auf ihren Stirnen stand kalter Schweiß. Ihre rauhen Hände waren wie Eiszapfen.

Liebe, Gehorsam, Andacht, Glaube, blinde, urteilslose Hingabe wurden aber durch diese nächtlichen Unterredungen unter vier Augen erst recht zur Blüte gebracht, und zwar trotzdem Emanuel das gesamte Treiben in der Talmühle, das sie ihm hatten darlegen müssen, aufs stärkste verurteilte. Es war, als hätten sie alles dieses, bevor er noch sprach, allein durch seine Gegenwart eingesehen, als hätten sie mit seiner Person sogleich das schlichte und rechte Maß aller Dinge, Lot, Wasserwaage und Winkelmaß, um sogleich ihr schiefes Haus zu erkennen, in Händen gehabt.

Er sagte dem Dibiez, der ihn nicht verstand, daß das Reich Gottes nicht mit äußerlichen Gebärden verbunden ist. Er verwarf, zum großen Erstaunen aller – wodurch er jedoch an Autorität gewann – nicht nur das Tamburin der Heilsarmee, die Gitarre des Dibiez, die bakchantischen Hallelujagesänge, sondern auch den einfachen Kirchengesang. »Als Jesus«, sagte er, »vor beinahe zweitausend Jahren das erste Mal über die Erde wandelte, sang er nicht. Er hat das lautere Gotteswort aus schlichtem, heiligem Munde gesprochen.«

War es nun, weil Quint den krankhaften Seelenbrand in der Talmühle unter allen Umständen auslöschen wollte: jedenfalls riet er den Brüdern, mit sehr bestimmten Worten, von allem Predigen, allem lauten Beichten, allem sogenannten Weissagen, ja allen öffentlichen Gebeten abzustehen. »Wollt ihr und müßt ihr aber beten – die Jünger Johannes des Täufers beten! die Jünger Jesu indessen beten nicht! –, so tut es allein, in eurer Kammer. Ich sage euch aber, es wäre um euch und euren himmlischen Vater schlecht bestellt, wüßte er nicht, wes ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet darum.

»Der Geist des Herrn«, so sagte er ihnen, »ist ein Geist der Weisheit, ein Geist des Friedens, ein Geist der Gerechtigkeit. Wenn etwas in euch Bilder der Angst und des Entsetzens oder Bilder der Wollust oder Bilder der Grausamkeit schafft und anbetet, so ist es der Geist des Vaters nicht. Was von den Abgründen eurer Natur die Brücke des Lichtes reißt, daß die giftigen Dämpfe der Krankheit, die besinnungraubenden Dünste des Todes in die Klarheit des Lebens in Jesu Christo aufsteigen, so ist es der Geist des Vaters nicht.«

Der Müller, als er vor Emanuel stand, konnte vor diesem und seinen einfachen Fragen nicht ganz die richtige Fassung finden. Emanuel sah ihn schuldbewußt. Über den Paroxysmus befragt, der sich mit den Frauenzimmern ereignet hatte, gab er widersprechende Antworten, und seine Reden hatten keinen schlichten Zusammenhang.

Hierauf wurde Therese Katzmarek Emanuel Quinten vorgeführt.

Das Mädchen, mit Quinten allein geblieben, fing, nachdem sie unter körperlichen Schauern und vielen Tränen ihm Hände und Füße geküßt hatte, von ihm beruhigt, zu beichten an. Die katholische Inbrunst und Sündenwollust ihres Herzens befreite sich, und Emanuel, der das Mädchen nur in einem menschenfreundlichen Sinne beraten wollte, fand sich durch sie zum Mitwisser aller ihrer Vergehungen – unter denen die letzte eine Versündigung gegen die Keuschheit, und zwar mit dem Talmüller selber war –, ja zum Herrn über Leben und Tod gemacht.

Emanuel mußte erschüttert sein durch alle Beweise fast hündischer Liebe und Anhänglichkeit, die ihm von diesen bis zu Tränen durch seine Gegenwart beglückten Menschen entgegengebracht wurden. Und wenn er nun auch entschlossen war, soweit an ihm lag, das Nest zu säubern, in das er ja zu keinem anderen Zwecke gekommen war, so hatte er doch den heißen Wunsch, soweit immer möglich, diesen irren, hilflosen Lämmern ein Hirte zu sein.

Hatten doch alle diese Menschen, solange sie lebten, einen leiblichen Hunger nach des Müllers Brot: und war es nicht sonderbar, wie sie trotz leiblichen Mangels und sorgenbelasteter Lebensnot dennoch nach geistigem Brote hungerten? Konnten da ihre unberatenen Einbrüche in die Vorratskammern der Schrift und die Wahl ihrer Nahrung von einem besseren Instinkte geleitet und anders als unbeholfen sein?

An diesem Abend wurden die Darbenden an den Türen mit leiblichem Brote gespeist, und es wurde ihnen zugleich eröffnet, wie dies zunächst die letzte Versammlung auf der Dreschtenne des Talmüllers gewesen wäre. Sie entfernten sich, leiblich gesättigt, ohne daß im übrigen ihre Hoffnung, den vergötterten Fremdling reden zu hören oder auch nur nochmals zu sehen, erfüllt worden war. Inzwischen wurden alle, mit denen Emanuel einzeln gesprochen hatte, gemeinsam in Quintens Zimmer gerufen.

Dieser erhob sich von einem runden Tisch, an dem er gesessen hatte und auf dem eine brennende Kerze stand, und der kleine Raum ward wohl eine halbe Stunde lang von dem gutturalen Klang seiner eher hohen als tiefen, weichen und doch jugendlich festen Stimme durchdrungen.

In seiner Belehrung, die in der Hauptsache gegen den Aberglauben gerichtet war, hatte sich Quint vom Ernst bis zu einem den Brüdern an ihm ganz fremden Zorne gesteigert.

Was er sagte, war etwa dies:

Heute noch, wie zu Zeiten Jesu von Nazareth, sei die Erde von wüstem Gestrüpp überwuchert. Man könne sich kaum eine übertriebene Vorstellung davon machen, wie in der Menschenwelt die Pflanze des Aberglaubens verbreitet sei. So sei noch heut das Geheimnis des Reiches ebendasselbe tiefe Geheimnis wie zu Jesu Zeit, und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil es in Höhlen, in Schächten, unter den Wurzeln eines Waldes von Aberglauben verborgen wäre. »Von Zeit zu Zeit kommt Jesus«, sagte er, »ganz verlassen, außer von Gott, durch diese Wälder einhergewandelt. So seht ihr mich verlassen und einsam, der ich berufen bin vom Vater unter die, die gleich sein sollen dem Ebenbilde seines Sohnes, auf daß derselbe der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern, wie Paulus sagt. Von diesem Geheimnis, des ich gewürdigt worden bin, wißt ihr nichts! ich kann es euch auch nicht offenbaren! Allein der Vater kann es euch offenbaren, der in mir ist. Und wenn es der Vater euch offenbart, so kommt und nennet euch meine Brüder.«

Und er gebot ihnen, daß sie ihn, vom Grauen des morgenden Tages an, aus ihren Gedanken entlassen, ihm nicht mehr nachfolgen sollten. Da schrien sie aber alle, fast weinend: »Herr, Herr, verstoß uns nicht und verlaß uns nicht!«

Er aber fuhr fort etwa so zu sprechen:

»Ihr habt gesehen, wie auch Bruder Nathanael, dessen Taufe ich habe, abgefallen ist. Ihr habt ihn mit Unrecht Judas geheißen. Zwar steht geschrieben, daß, wer zu seinem Bruder sagt: Du Narr!, schuldig des höllischen Feuers ist. Aber ich sage euch, dieser Nathanael ist nicht mein Bruder, denn er ist vom Vater, das Geheimnis des Reiches zu wissen, nicht gewürdigt worden.«

Der Schneider Schwabe rief ihm zu: »Sage uns das Geheimnis, Herr!« Die Bezeichnung »Herr« hatte sich in der Erregung des Wiedersehens und wohl auch mit durch die bessere Kleidung und das gepflegtere Aussehen Quintens eingebürgert.

»Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn«, antwortete Quint, »es gleicht einer Perle, für die ich alles hingebe, es gleicht einem Schatz im Acker, den ich gekauft habe, es ist inwendig in mir, das Eigentum eines Kindes ist das Himmelreich. Aber dein Zion, das aus den Wolken herniederfällt mit Häusern von Gold, mit Tälern aus Jaspis, Saphir und Smaragd, ist es nicht! Warum denn wollt ihr, daß Vater, Sohn und Geist unter Gewitter und Posaunenschall furchtbar aus Wolken niedersteigen, wo doch Vater, Sohn und Geist unerkannt unter euch ist?«

Und nun verrichtete Emanuel Quint, der arme Narr in Christo, jene hoffentlich unbedachte Tat der Lästerung, die später, als er eines schweren Verbrechens beschuldigt unter Anklage stand, die Herzen der Richter so sehr verhärtete.

Nämlich: er packte ein Bibelbuch, das einer der Brüder Scharf, wie früher gebräuchlich, neben das Licht auf den Tisch gelegt hatte, und warf es, so daß es in Fetzen ging, wider die Wand.

Die armen Tagelöhner, trotzdem sie erschraken und eigentlich im ersten Augenblick dachten, es müsse Feuer vom Himmel herabfahren, regten sich nicht.

Und: »Ich verbiete euch dieses Buch! hört ihr! ich verbiete euch dieses Buch!« rief nun, gar nicht im Sinne Luthers, Emanuel. »Ich verbiete es euch, weil es eine Scheuer voll Unkraut, eine Scheuer voll Tollkraut, eine Scheuer voll Taumellolch mit nur wenigen Ähren guten Weizens ist. Das Reich Gottes ist wiederum auch hier nur ein Senfkorn darin.

Was leset ihr euch aus diesem Buch? Was erntet ihr euch von diesem Acker des guten Hausvaters, in den der böse Feind im Finstern Scheffel und Malter Unkraut gesäet hat? Ihr füllt euch das Blut mit quälenden Ängsten, quälenden Wünschen und Fieberbildern, die lügnerische Hoffnungen sind, bis zum Bersten an! Ihr meinet, wenn ihr vom Gifte des Taumelmohns trunken seid und in läppischer Eitelkeit zu Affen der Allmacht aufgeschwollen, mit Handauflegen und Wundertun, ihr hättet den Heiligen Geist empfangen! Was ihr empfangen habt, ist die Pest der Gier! der Durst der Tollheit! Meint ihr, daß die Liebe zu Jesu eine unbezwingliche Wut der Habsucht ist? Was wollet ihr denn von Gott erbitten? Wälzet ihr euch, und zerrüttet ihr euch und macht eure armen Kehlen heiser, damit der himmlische Vater das Szepter mit euch teile? Und meint ihr, daß es in euren blinden Händen besser aufgehoben als in den seinigen ist?

Was reißet ihr doch an Gottes Stuhl? Was zerrt ihr doch an Gottes Gewandzipfel? Was heult ihr? Was kreischt ihr? Warum schlagt ihr mit euren Fäusten, euren groben Absätzen gegen die Himmelstür? Wahrlich ich sage euch, ihr werdet nicht mit der Türe ins Haus brechen, und es liegt auch dahinter weder Brot, Speck noch das kleinste Fäßchen Branntwein für euch!

Was leset ihr euch aus diesem Buch? Lügen, Lügen und wieder Lügen! Wie denn die Lüge noch immer auf allen Gärten und allen Äckern am geilsten wuchert! Wie denn die Lüge noch immer Säulen, Tore, Türme und Tempel – die höchsten Säulen, die höchsten Tore, die höchsten Türme, die gewaltigsten Tempel von Gold, Jaspis und Edelsteinen – auf unserer Erde besitzt!«

Es war wohl nicht allzuviel, was die mit hochgezogenen Brauen lauschenden Brüder von diesen heftig gesprochenen Worten begriffen. Es folgte ihnen auch eine große Menge anderer warnend, ja drohend nach, die Quinten doch wohl von dem Wunsche eingegeben wurden, diesen Unfug der Talbrüder abzuschütteln. Jene Monate, die er in der Gärtnerei, in der Bibliothek des Gurauer Fräuleins, beim Miltzscher Schäfer als Samariter, in der Familie Krause und in anderen christlichen Bürgerhäusern zugebracht hatte, konnten nicht spurlos an ihm vorübergehn. Dennoch sah er die Brüder nicht von einem neuen Kastenstandpunkt an, und nicht ein solcher war es, der den Abstand zwischen ihm und ihnen vergrößerte. Dagegen konnte man aus der Art und mutigen Kraft seiner Reden schließen, daß sich die Kraft seines eigensinnigen Wahnes in der Stille vervielfacht hatte.

Jedenfalls zerstörte er die starre und fixe Idee seiner Anhänger nicht, wonach er ihnen als Retter aus jeder Not, als neuer Messias gelten mußte. Ja, diesen Irrwahn bestärkte er nur. Seine Zuhörer spürten recht wohl, wie sich bei ihm in irgendeiner Form das Einheitsgefühl zwischen ihm und dem Heiland befestigt hatte: und wie sollten sie nicht, wo er sich doch ausdrücklich als in Besitz des Geheimnisses Jesu gelangt ihnen darstellte.

In Wahrheit sah Emanuel Quint den Heiland kaum mehr im Bibelbuch, das er ja auch mißhandelt hatte, sondern, schrecklich zu sagen, nur noch in sich selbst und als sich selbst. Der heilige Wahn ward zurückgedrängt und hatte dort, seit jenem Kerkertraume, wo Christus in Quinten buchstäblich hineingegangen war, Zeit gefunden, sich festzunisten. Damit hatte sich etwas im Betragen des Narren in Christo eingestellt, was keineswegs von dem Schlage seiner früheren Bescheidenheit und Demut war. Gegner, die es später bemerkten, nannten es einen lächerlichen Hochmutsgeist von Unfehlbarkeit, er selbst die Freiheit der Kinder Gottes.

»Machet euch frei von dem Dienste des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes«, sagte er oft, wenn seine Freunde ihm eine gewisse heitere Sicherheit und Sorglosigkeit, trotz des ihm eigenen Ernstes, zum Vorwurf machten.

 

Während des Mahles, das die seltsamen Quint-Apostel und Müller Straube gemeinsam mit Emanuel in der Backstube einnahmen, zeigte es sich, wie wenig die wesentliche Absicht von Quintens Besuch erreicht worden war. Bald war es Martin, bald Anton Scharf, bald der Lumpensammler, bald der bucklige Schneider Schwabe, die mit allerhand vorsichtig ängstlichen Fragen an ihm herumhorchten und herumtasteten.

»Herr«, sagte zum Beispiel der Schneider Schwabe, »du hast doch an dem alten Scharf, an Martha Schubert, an dem kontrakten Baudenweibe, an der sterbenden Frau und an vielen anderen ebenfalls Wunder getan.«

Was er ohne Absicht und Wissen verrichtet habe, antwortete Quint, wenn er überhaupt etwas verrichtet habe, das sei nicht durch ihn, sondern durch den Vater vollendet worden.

Jesus habe doch ebenfalls Wunder getan.

»So wie ich«, sagte Quint, »in diesem und keinem anderen Sinne.«

Obgleich er nun eine Erklärung gab, konnte er seine grobschlächtigen Tischgenossen doch nicht mehr von der Meinung abbringen: Jesus und er, er und Jesus hätten die gleichen Wunder getan.

So aber lautete seine Erklärung:

»Was wolltet ihr je von Gottes Wundern begreifen, da ihr doch bis jetzt von all den ungeheuren Wundern, mit denen der Vater euch umgeben hat, nichts begriffen habt! Ihr Läppischen! O ihr Lächerlichen! Seht ihr den Wald vor Bäumen nicht? Was seid denn ihr? Was bin denn ich? Sind wir denn um ein Haar Geringeres, als das größte Wunder ist? Könntet ihr etwas, oder wüßtet ihr etwas von Gott zu verlangen, das auch nur den tausendsten Teil so wunderbar als eine einzige Lilie oder Kornblume auf den Feldern, die Kehle oder die Feder einer einzigen Nachtigall, geschweige die ganze große, felsige, blühende Erde oder der unendliche Himmel mit allen seinen Gestirnen wäre?

Wer es fassen mag, fasse es«, endete er, »der Wundersüchtige ist von Mutterleibe an taub, stumm und blind geboren! Ihr wisset, daß einem solchen Geschlecht kein Zeichen gegeben werden kann.«

»Herr, wenn wir nicht im rechten Sinne gebetet haben, lehre du uns!« wandte sich Anton Scharf an Quint.

»Betet: Zu uns komme dein Reich!« bekam er zur Antwort.

 

Es war für Weib und Kinder des Müllerknechts, die außen am Fenster der Backstube standen, wo auch der Vater zuweilen hinter sie trat, ein seltsam biblischer Anblick, wie drinnen Emanuel Quint, dem Heiland beim Abendmahle gleich, unter seinen Jüngern saß. Sie konnten ihre Blicke nicht abwenden. Der längliche Tisch, auf dem zwei gewaltige Schüsseln dampften, war sauber mit einem bunten Tuche bedeckt. Ein dunkler Wein, den der böhmische Josef gebracht hatte, ward von dem ab und zu gehenden, feierlich strahlenden Anton Scharf vom Fäßchen in Gläser gefüllt. Zuweilen sah man den Heiland trinken. Wenn er an jemand die Rede richtete, sprang der Angesprochene voll Eifer und auch zugleich voll Ehrfurcht vom Sitze empor.

Zuweilen ging durch die ganze Gemeinde ringsherum eine herzlich lachende Heiterkeit. Es schien, als ob sich nicht selten die Lippen des neuen Messias über einem Scherzwort kräuselten.

Plötzlich sahen die Kinder des Knechtes, ein Mädchen von vierzehn, ein Knabe von zwölf, ein anderer von neun Jahren, unter sich eine fremde Nachbarin. Sie hatten das dunkelhaarige, seltsame junge Mädchen nicht kommen hören und blickten es aus großen, einigermaßen dummen, erstaunten Augen an. Die Fremde achtete ihrer nicht. Übrigens schien sie nichts andres zu wollen, als ebenso ungestört wie die Kinder des Knechts das Innere der Backstube zu beobachten.

Das Mädchen war schlank, hatte feine Gelenke und längliche Finger, die mit Halbhandschuhen aus schwarzen Seidenfäden bedeckt waren. Ein dunkles Mäntelchen, mit rotgefüttertem Capuchon, war um die noch schmalen Schultern gelegt. Ihr länglich-ovales Gesichtchen, mit großen befransten Augen, hatte alle zarten Reize unversehrter, beginnender Jungfräulichkeit. Sie hielt eine sogenannte Kapotte, mit dunklen Bändern, in den Händen. Nicht ganz bis zu den feinen Knöcheln der schmalen Füße ging der Saum ihres schlichten Kleides, das über den schlanken Hüften von einem breiten Gürtel aus schwarzlackiertem Leder zierlich zusammengeschlossen war. Wenn sie sich wandte, wurden zwei dicke, dunkle Zöpfe vom Lichte beschienen, die bis zu den Fingerspitzen, bei ausgestreckten Armen, herunterreichten und von denen der eine über die Schulter nach vorn genommen war.

Man mußte erstaunen, das Mädchen in solcher Umgebung zu sehen, das unzweifelhaft ein Kind aus gebildeten Kreisen war.

Indessen blickte sie nicht anders oder mehr noch als die Kinder des Knechts mit heißen, verlangenden Augen und verfolgte das sonderbare Mahl mit seinen meist ungeschlachten Teilnehmern, das hinter den Scheiben vor sich ging.

Es ereignete sich nach einiger Zeit, daß der böhmische Josef innen von ungefähr in die Nähe des Fensters geriet und sein scheußliches Antlitz in nächster Nähe vor der kleinen Gemeinschaft der Späher auftauchte. Bei diesem Anblick trat die kleine Fremde, merklich erschrocken, ins Dunkel zurück.

Ob nun das Scheusal die Fremde erblickt hatte, jedenfalls trat er nach einigen Augenblicken ins Freie heraus, um die Kinder des Knechtes durchzumustern. Die Fremde aber, die sich noch immer im Dunkel verborgen hielt und die ihn von dort genau beobachtete, fanden seine suchenden Augen nicht.

Er schien die Kinder fragen zu wollen, kehrte indessen plötzlich um und begab sich wieder ins Haus hinein.

Emanuel ward indessen in der wachsenden Zutraulichkeit der festlichen Stunde – eine festliche Stunde war die Wiedervereinigung mit diesen ersten Freunden und im Grunde kreuzbraven Seelen auch für ihn –, er ward also über allerlei Dinge weiter befragt, die hungrig harrenden Christenseelen immer noch brennende Anliegen sind.

So trat ihn der eine und andere an: ob er nicht ihm das Geheimnis des Reiches unter vier Augen sagen wolle. Schwabe meinte beunruhigt, daß doch wahrscheinlich immer noch die alten Apostel und der Kreis der Zwölf zu Richtern des Jüngsten Gerichtes berufen wären. Ungeduldig wollte man wissen, wann ungefähr der Beginn des Tausendjährigen Reiches zu setzen wäre. Wann sich Vater, Sohn und Geist endlich zeigen würden, nicht mehr in Niedrigkeit, sondern in ihrer ganzen Herrlichkeit.

Emanuel aber lächelte nur und wollte auf keine Frage mehr eingehen. Die braven Leute und schlechten Christen, wie er sie im geheimen nannte, dauerten ihn. Zuweilen sah man ihn traurig den Kopf schütteln. Dann zeigte sich wiederum um seinen Mund eine durch die drolligen Ängste der einfachen Seelen belustigte Heiterkeit, wo dann der blinde Blindenleiter mit einer herzlichen Ironie den Brüdern Scharf über ihre struppigen Scheitel strich oder dem buckligen Schneider sanft auf die Wange klopfte.

Bevor er aber, nachts um die zwölfte Stunde, sich niederlegte, nahm Emanuel der ganzen Versammlung das feste Versprechen ab, morgen mit Tagesgrauen auseinanderzugehn.

 

Emanuel Quint erwachte, als er kaum eine Stunde geschlafen und der Zeiger der Uhr die Eins überschritten hatte. Er rieb sich die Augen, aber er sah trotzdem eine dunkle Gestalt an dem kleinen Fensterchen seines Zimmers stehn, unter dem der Strahl des Mühlbaches rauschte. Er fragte die übliche Frage, ob jemand da wäre, doch die schlanke Gestalt am Fenster regte sich nicht und antwortete nicht. Da pochte des Narren Herz gewaltig. Er sprang aus den ungeheuren Deckbetten, kleidete sich in Eile an, entzündete Licht und erkannte – oder hatte bereits erkannt – Ruth Heidebrand.

Es muß gesagt werden, daß diese Entdeckung dem armen Quint mit beinahe lähmender Kraft in die Seele schlug. Er sagte später, er habe damals schon die unentrinnbaren Folgen dieses unverschuldeten Umstands vorausgefühlt, obgleich das Verhängnis Wege suchte, die er unmöglich vorauszusetzen imstande war.

Übrigens war seine Beziehung zu Ruth in jedem Betrachte wunderlich.

Man hat später gefunden und hat es aus Äußerungen geschlossen, es sei in der Seele des Tischlerssohnes für die ohne Zweifel hysterische Gärtnerstochter eine verschwiegene Neigung vorhanden gewesen, sonst hätte sich ein gewisser Verdacht nicht auf Quinten gelenkt. Jedenfalls gehört die unbesonnene, dazu krankhafte Tat der kleinen Ruth, durch die sie ihm bei dem Gurauer Fräulein, bei ihren Eltern, bei Krause und vielen Freunden fast alle Sympathien verdarb und seinen Gegnern Waffen lieferte, nicht in das Schuldbuch des armen Quint.

Nicht vorher, nicht nachher in seinem Leben hat Emanuel je mit so heftigem Ausdruck heftige und strafende Worte gebraucht, als es in den ersten Minuten der kleinen Ruth Heidebrand gegenüber jetzt geschah, als er sich endlich zum Reden ermannt hatte.

Die kleine Ruth aber sah ihn unbeirrt aus ihren ein wenig zu großen, feuchten Augäpfeln an, als wollte sie sagen: den Zorn meines Heilandes, meines guten Hirten, der das verlorene Schaf in die Arme nimmt, den Zorn dessen, der die ewige Güte selber ist, dessen Strahl mein Auge trifft und mit heiligem, stolzem Feuer daraus zurückleuchtet, den Allerbarmer fürchte ich nicht.

Der Glaube und das Vertrauen, wie es Quinten aus den Augen jener grobschlächtigen Anhänger entgegenleuchtete, denen er, wie Paulus, nur das Zeugnis geben konnte, »daß sie eiferten um Gott, aber mit Unverstand«, schon dieser Glaube, dieses Vertrauen legte um ihn – um seine Gedanken, um seine Entschlüsse, also um seine Stirn und Hände – ein hinderndes Band: obgleich die Macht dieses starken Vertrauens durch den lauernden Ausdruck der Gewinngier und eines versteckten, nach Beruhigung drängenden Mißtrauens beeinträchtigt wurde. Sofern dieser Bann nicht gewesen wäre, hätte wahrscheinlich der arme Quint Mittel und Wege zu finden gewußt, diese Gläubiger, durch das trockene Geständnis der Wahrheit über sich, abzuschütteln: er aber bewirkte, daß er, unschuldig schuldig, ihr Schuldner blieb. – Hier aber sprach Vertrauen und Glaube zu dem noch nicht neunundzwanzigjährigen Quint aus holdem und süßem Mädchengesicht und aus Tiefen der Seele heraufkommend, in welche nie auch nur der leiseste Schatten eines Zweifels gedrungen war.

. . . Es war die Liebe selbst, die ihn anblickte.

So fühlte denn der Narr die Gefahr und die ganze Folgenschwere des Augenblicks.

Dies gab ihm Kraft sich emporzuraffen.

Schnell nacheinander tat er mit harter Stimme die Fragen: »Was willst du? Mit wessen Erlaubnis bist du hier? Was willst du hier? Was suchst du hier?«

Ruth aber schlug die Augen nieder und schien die gleichen Worte zu flüstern, die einst ihre biblische Namensschwester gesprochen hatte: »Wo du hin gehest, da will ich auch hin gehen; wo du bleibest, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, der Tod muß mich und dich scheiden.«

Und wieder richtete sie mit einer reinen, schlichten Gewißheit im Blick, er könne doch ganz unmöglich gegen dieses Bekenntnis etwas einwenden, die Augen zu Emanuel auf.

Die wenigen Worte, mit denen die biblische Ruth sich ihre ewige Krone, über alle Zeiten und Völker hinausglänzend, geschmiedet hat – und die, auf eine Schale gelegt, allein neun Zehntel aller Worte der Bibel aufwiegen, ja aller Bibliotheken der Welt! –, hörte nun zwar Emanuel nicht, aber er spürte die Kraft des Bekenntnisses. Deshalb rang er, noch tiefer erbleichend, wie in der Erkenntnis der Nutzlosigkeit jedes Widerstandes, mit krampfhaftem Griffe Hand in Hand.

Jedermann in der Mühle war schlafen gegangen. Es war eine abgelegene, nur durch viele Gänge und Treppchen zu erreichende Kammer, in der sich Quint mit Ruth befand. Er senkte den Kopf, entrang die Hände und begann im Raum auf und ab zu schreiten.

In dieser Minute – man hörte den Gang seiner bloßen Füße nicht –, wo er bald die Gardine, bald den gelben, mit allerlei Tand und bäurischen Raritäten gefüllten Glasschrank streifte, fand er sich nicht nur mit der Flucht der kleinen Ruth aus dem Elternhause, sondern auch mit dem Umstand ab, dessen er völlig sicher war, daß man keinem andern als ihm die Schuld dieses Streiches zumessen würde. Dann sagte er nur: »Du hast uns in eine schlimme Lage gebracht.«

Ruth wandte sich um und sagte dagegen:

»Wie kann ich anders, wenn ich nicht meinen Bräutigam versäumen soll?«

Er sagte:

»Ihr alle seid unverständig!«

»Lehre mich«, sagte sie, »daß ich verständig bin!«

Er dagegen:

»Ehre Vater und Mutter und betrübe sie nicht! Gedenke der Ängste, die sie jetzt ausstehen! Im besten Falle wird man uns finden und bringt dich und mich durch Gendarmen nach Hause zurück.«

Ruth sagte, das werde der Vater nicht zulassen. Als Emanuel sie befremdet musterte, fügte sie noch die Worte an: »Ich meine den Vater, der in dir ist.«

Emanuel wurde ungeduldig.

Er begann: »Was suchst du? Was willst du von mir? Von den Legionen Engeln eures himmlischen Vaters weiß ich nichts. Ihre Schwerter stehen mir nicht zu Diensten. Ich bin keines irdischen Königs noch eines schwertgewaltigen Gottes Sohn. Ich bin nur ein armer Menschensohn. Wer mir nachfolgt, dessen nackte Füße werden über scharfe Steine gehen. Der Regen wird ihn durchnässen, der Hagel auf seinen Scheitel schlagen. Er wird Almosen nehmen, wo man sie gibt. Er wird, wie ich, verachtet, verdorben und am Ende einem schmachvollen Tode überliefert sein.«

In diesem Augenblick hatte Ruth in Hast ihre durchlaufenen Schuhe von den Füßen gelöst, den Mantel und ihr kleines dunkles Mieder heruntergerissen und warf sich wildschluchzend mit den Worten: »Kreuzige mich, ich will vor dir sterben!« an Quintens Brust.

Quint begann ihren Scheitel zu streicheln, aber er hielt seine Lippen fern von der schmalen weißen Rinne, die ihm so nahe war und von der aus das Haar zu beiden Seiten in einem dunklen und duftigen Glanze das Haupt umfloß. Seine Hände mieden die kindlichen Schultern, die sich zuckend an ihn anschmiegten, so daß er an bebende Flügelrücken eines jugendlichen, verstoßenen Engels denken mußte oder eines verflognen vielleicht: eine Vorstellung, die ihm durch die liebliche und berauschende Fremdartigkeit dieses ganzen neuen Erlebens aufgedrängt wurde.

Emanuel biß die Zähne zusammen und wehrte sich mit der ganzen ihm eigenen, bewußten Kraft gegen die Welle, die in ihm aufbrandete. Er rang mit ihr und besiegte sie. Die Arme der lieblichen Gärtnerstochter mit Zartheit lösend und an den heiß umklammernden Händen herunterziehend, hatte er bald durch den gütigsten Zuspruch das Mädchen einigermaßen zur Ruhe gebracht.

Mit eigenen Händen zog er ihr dann die Stiefelchen an, half ihren nackten Armen in die Ärmel ihres Mieders hinein, verdeckte darin die schönen Schultern und legte auch noch den Mantel, den er vom Tische nahm, sorgsam darum.

Endlich sagte er: »Ruth, nun komm, jetzt wollen wir ohne Verzug zurück zu den armen Eltern gehen.«

Da stand das Kind und regte sich nicht und sprach geraume Weile kein Wort. Aber wie Quint, überwältigt von Mitleid, die Hand um sie legte und ihr Haupt herauf an den kummervollen Strahl seines ernsten Antlitzes bog, war ihr Gesicht von Tränen gedunsen.

 


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