Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Erst am zehnten Tage nach seiner Abfertigung hatte sich Martin Scharf, mit dem zwölf Jahre alten Gustav Quint, in der Wirtschaft zum Grünen Baum eingefunden. Er hatte auf dem Wege nach Giersdorf die eigene Heimat und das Grab seiner Eltern aufgesucht, wo er betete und allen Ernstes den Toten unter dem Rasen mitteilte, es sei gesäet verweslich, um aufzuerstehen unverweslich, und die Zeit sei nahe, wo es in seine Hand gegeben sein würde, sie aufzuerwecken. Hernach, auf dem Wege durchs Dorf, hielt ihn der neue Besitzer seines Häuschens an, und er war gezwungen, über den Sonntag bei ihm zu bleiben, um endlich die sogenannte Auflassung des Grundstücks am darauffolgenden Montag an Gerichtsstelle vornehmen zu lassen. Nachdem es geschehen und Martin weitergewandert war, sagte der neue Besitzer zu einem jeden, der es hören wollte, wie Martin Scharf dermaßen unsinnig in seinem Betragen und Reden wäre, daß man selber, um nüchtern zu bleiben, sein ganzes bißchen Verstand nötig habe.

Der alte Quint empfing Martin durchaus nicht mit Freundlichkeit, und da seine Frau, die immer im beginnenden Frühjahr einen Gemüsehandel eröffnete, nicht zu Hause war und er selbst und August, sein Sohn, von der Reise Gustavs durchaus nichts wissen wollten, gab es lange Zeit niemand, der diesen Eigensinn brechen konnte. Am fünften Tage der Reise Martin Scharfs kam endlich, gegen Abend, die Mutter nach Hause, und man konnte nun ruhiger unterhandeln.

Aber auch hier erhielt der gediegene und vertrauenerweckende Martin nur mit Mühe die Einwilligung, den kleinen Benjamin mit sich zu nehmen. Die Mutter weinte viel über Emanuel Quint und überhäufte den Abwesenden mit Vorwürfen. In einem Atem schwor sie, es sei in seinem Kopfe von Jugend an, ja von Geburt an nicht richtig gewesen, und behauptete, er hätte können nach seinen Anlagen und nach alledem, was ihm geboten worden war, wenn er sich's nur im geringsten wahrgenommen haben würde, die Stütze der ganzen Familie sein. Für alles, was Martin von ihm erzählte, hatte sie nur die Worte: närrisch, nichtsnutzig, übergeschnappt!, war aber schließlich doch so weit – besonders weil ihr der kleine Gustav selbst mit dringlichen Bitten zusetzte –, den Jungen mit Martin reisen zu lassen. Sie gebrauchte dabei diese bittere Form der Zustimmung: »Gut! ihr wollt mir den Bengel auch noch verrückt machen.«

Jetzt widerhallte die Hütte des Tischlers noch einen ganzen Tag lang von heftig geführter häuslicher Streitigkeit, die endlich, auf das Anraten von Frau Quint, durch einen harten Taler für ihren Mann und einen für August, von Martin geschlichtet wurde. Der alte Tischler hatte sich, im Besitz des Geldes, denn auch sofort stillschweigend wie mit einem Raube davongemacht.

 

So war denn Martin Scharf strahlenden Auges mit Gustav bei Quinten eingetroffen. Dieser riß seinen Bruder an die Brust, und es war von jetzt ab, während dreier Tage, so, als ob nur der Bruder auf der Welt wäre und Emanuel sich selbst, seine Sendung, seinen heimlichen Vorsatz, seinen Jesuswahn, seine vergangenen und zukünftigen Schicksale, seine Jünger, Freunde und Feinde, kurz, alles außer dem Bruder vergessen hätte.

Das Betragen Emanuels hatte, nicht anders als das seines jungen Halbbruders, etwas kindlich Rührendes. Er schlief auf dem Sofa und räumte dem Kleinen die Bettstelle ein. Er ersuchte Dominik oder einen seiner andren Begleiter, diese und jene Kleinigkeit einzukaufen, die der Junge, mit staunenden Augen, etwa in einem Schaufenster entdeckt hatte. Darunter war ein kleines Laubsägehandwerkszeug. Stundenlang half ihm Emanuel selbst, eine zierliche Arbeit auszuführen. Auf seine Bitte kauften die Jünger ihm Gläschen voll Selterwasser mit Himbeersaft. Man zeigte ihm Schaubuden, wo wilde Tiere zu sehen waren. Gustav war ein zarter, blonder, durchaus nicht bäurischer Knabe, der, durch die Fülle des Neuen berauscht und beglückt, voll Bewunderung zu Emanuel aufblickte.

Schon am Morgen nach seiner Ankunft hatte Emanuel Schwester Hedwig, unten am Eingang des Krankenhauses, seinen Bruder mit einem merkbaren Stolze vorgestellt. Er sagte es nicht, aber man konnte es seinen Blicken ansehen, daß er es dachte: Solche besitzen das Himmelreich! Und wenn seine Mienen, gleich einem plötzlichen, tiefen Wolkenschatten, der Ernst überkam, so lag es dahinter: Wehe! und: Sehet zu, daß ihr nicht einen von diesen Kleinen beleidigt! Emanuel schien diesem Knaben gegenüber ganz Hingebung, ja während einiger Tage ganz hilflose Abhängigkeit. Er sah die Welt aus des Bruders Augen.

Dominik pflegte eine vertraute Beziehung zu einer Kellnerin. Es war ein Mädchen, das sich in der Gewalt jenes Wirtes befand, der die Bier- und Weinstuben unter der Wohnung des Bahnschaffners, dem Quartiere Dominiks, innehatte. Diese Räume, die eine übelberüchtigte, niedre Spelunke bildeten, trugen den Namen »Musenhain«, womit eine hochgelobte Gegenwart die goldene und reine Luft der parnassischen Höhen rückwirkend verpestete und diesen ganzen Gottesberg der Vergangenheit zum Müllhaufen umwandelte.

Elise Schuhbrich, so hieß das Mädchen, hatte für Dominik eine ernste, wenn auch resignierte und hoffnungslose Neigung gefaßt. Sie war eines Bahnhofsinspektors Tochter, die, nachdem sie mit achtzehn Jahren ein Kind geboren hatte, wie üblich von ihrem Vater aus dem Hause geworfen und für immer verstoßen worden war. Sie durfte sich nicht mehr blicken lassen, oder, wie er gedroht hatte, er schlüge sie tot.

So wurde sie, ohne Mittel für ihren Unterhalt, ganz natürlicherweise eine Beute für jedermann, ward von der Polizei »unter Sitte« gestellt – das heißt unter Unsitte! – und fand endlich in jenem schrecklichen Giftwinkel Unterkunft.

Elise erschien eines Tages vor Quint, um in einer weinenden Beichte ihr Herz und die ganze Last ihres Elends auszuschütten.

Er sagte zu ihr:

»Deine Eltern, die dich verfluchen, deine Brüder und Schwestern, die dich verachten und verdammen, alle, die über dich und deine Taten Recht sprechen und sie verurteilen, richten nach dem Fleisch. Sünde wird nur durch Sünde verdammt. Ich richte niemand.« Worte, womit er sich diesem käuflichen Mädchen gegenüber allerdings auf den vielumstrittenen Boden des Heilands stellte. Er fügte, indem er der Knienden, wie segnend, die Hand auf den Scheitel legte, noch hinzu: »Stehe auf! Deine Sünden sind dir vergeben.«

Von diesem Tage an liebte Elise Schuhbrich, die verachtete Kellnerin aus dem »Musenhain«, ihren Beichtiger abgöttisch. Da sie immer an ihren traurigen Dienst in der Kneipe gebunden war, aber seine Gesellschaft und die Gesellschaft ihres Geliebten nicht entbehren wollte, hatte sie es zuwege gebracht, daß Quint ihr den Geliebten nicht mehr durchaus entzog, sondern mit ihm, an einem der von ihr bedienten Tische, ein und den andern Abend zubrachte.

Man weiß: die Tiefe des Schmutzes, darin ein Mensch gezwungen oder freiwillig watet, ist nicht immer ein Beweis für die Unsauberkeit seiner Seele. So hatte sich denn in einem der Trinkzimmer um einen älteren Künstler, einen Professor für Malerei, auch ein sogenannter Stammtisch gebildet, der aus jugendlich idealistischen Künstlern bestand, unter denen einige allerdings der depravierenden Wirkung des Alkohols und der niedren Erotik bereits verfallen waren. Es ist nicht zu leugnen, daß der Professor selbst, der von seinen Schülern verehrt und umschwärmt wurde, ein Trinker im letzten Grade war, dessen ganze Nahrung am Tage aus einem sauren Hering bestand, den er in ungeheuren Mengen von Bier und von Wein ertränkte. Dominik war diesem Kreise, dem er sich manchmal zugesellte, nicht unbekannt, und der Professor mit dem schwarzen Faunsgesicht und den roten und feuchten Faunslippen, dem ein schwarzer Schopf wild über die düster funkelnden Augen hing, hatte ihn mehrmals mit kicherndem Lachen in bezug auf Elise Schuhbrich »unsern Asra« oder auch »unsern Ritter Toggenburg« zubenannt.

Es machte ein nicht geringes Aufsehen, als Dominik, der etwa vierzehn Tage und länger dem »Musenhaine« ferngeblieben war, eines Abends mit Quint, in Begleitung des kleinen Gustav und seiner acht ländlichen Mitläufer, wieder erschien. Der Professor, der seine schwarzbewimperten Augen meist halbgeschlossen hielt, konnte sie plötzlich kaum genügend weit aufreißen. Während aber in seiner Umgebung ein allgemeines Gelächter und ein großer Lärm der Begrüßung entstand, hielt er den Blick, wie verstört und erschrocken, auf Quint gerichtet, als ob es ihm bei dem Lichte der Gasflammen und im dicken Dunst von Rauch und Alkohol zu unterscheiden nicht möglich wäre, daß jener ein wirklicher Mensch und keine bloße Erscheinung seines deliranten Gehirnes sei.

In der Flucht der Räumlichkeiten und an den verschiedenen Tischen, die von neun Kellnerinnen – tatsächlich neun, nach der Zahl der Musen! – bedient wurden, sah es, die Gäste anlangend, sehr verschieden aus. Meist allerdings fanden sich solche Gesichter, denen das Zeichen der Venus vulgivaga auf der niederen, weichenden Stirne stand. Hier zechten Leute, die ihren Fäusten, ihrem Anzug und ihrem Betragen nach zu urteilen wahrscheinlich auf dem Viehhof zu tun hatten, dort hatten sich Leute niedergelassen, deren dürftiges Äußere auf niedere Schreibarbeit in schlecht gelüfteten Kanzeleien zu deuten schien. Abgesondert, an einem Tische für sich, der ihm auch unbestritten blieb, saß ein athletischer Mensch mit tückischen Augen und einem Stiernacken, der vielleicht als Kettensprenger oder mittels der Brechstange seinen Unterhalt fand. Man sah Studenten. Dieser Herr war vielleicht ein Referendar, jener vielleicht ein Regierungsbaumeister. Der dritte konnte ein auf Reisen befindlicher Pastor sein. Nahe am Ausschank hatte sich eine Tafelrunde lärmender Kleinbürger aufgetan: kurz, es war jenes standesunterschiedlose Gemisch vorhanden, welches entsteht, wenn der Major in Zivil und der Unteroffizier, der Feudalherr und der Oberkellner, der Kommis und der Hausknecht einträchtiglich in dem gleichen übelriechenden Tümpel fischen gehn.

Soweit von diesen Tischen und Räumlichkeiten aus der Eintritt Quints in Begleitung des Knaben und seiner Jünger zu beobachten war, wurden aller Augen sogleich angezogen, und es trat in kurzer Zeit, als ob jeder der lebhaft schwatzenden und gestikulierenden Menschen das Ende des gerade angefangenen Satzes vergessen hätte, Stille ein. Dieser, der trank, und jener, der, mit herausgequollenen Augen, begierig an einem zähen Beefsteak kaute, unterbrach einen Augenblick verdutzt seine Tätigkeit. Und es wurde erst nach einiger Zeit wieder in der alten Weise weitergekaut, getrunken, geschrien, mit den Kellnerinnen gescherzt und an ihnen, mit derben Griffen und rohen Späßen, wiederum das Beste getan.

Als der wunderliche Heilige, dem übrigens alle neun Kellnerinnen sogleich scheinbar bedingungslos zugeflogen waren, am vierten, fünften Tage wieder erschien, war sein heimlicher Span längst scherzweise von den Mädchen unter den Gästen verbreitet worden. Man machte sich lustig über den Narren in Christo, Quint, der seine neue Kirche in einer Kneipe mit Damenbedienung, wie sie sagten, aufgeschlagen habe, deren sauberes Symbol nicht mehr das Kreuz, sondern die rote Laterne war. Aber Quint genoß den Respekt eines Irrsinnigen. Und es mußten erst einige Tage vergehen, bevor man an diesem und jenem Tisch den Mut ihn offen zu hänseln fand.

Nach und nach zog die Gegenwart Quints eine Menge verschiedenartiger Elemente an, so daß die Tafel, deren Mittelpunkt er und nicht mehr der malerisch in einen leichten römischen Mantel drapierte Professor war, länger und länger ward. Die Gespräche, die hier geführt wurden und denen Emanuel, meist ohne einzugreifen, zuhörte, hatten die Kunst, die Literatur, diesen und jenen Zweig der Wissenschaft, soziale Fragen oder philosophische Dinge zum Gegenstand. Man wußte in den Kreisen derer, die an Quint irgendwie ein Interesse nahmen, wo er an mehreren Tagen der Woche zu finden war, und so hatte sich eines Abends Kurt Simon, der jetzt in Breslau eine sogenannte Presse für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst besuchte, und eines anderen Abends auch Benjamin Glaser der Tafelrunde eingefügt.

Es wurde Emanuel später zum Vorwurf gemacht, und man schloß daraus auf seine Verkommenheit im Moralischen, daß er nicht nur in dieser Umgebung niederer Sittenverderbnis selbst seine Abende zubringen mochte, sondern auch, solange er bei ihm war, seinen Bruder Gustav mit sich nahm. Ja, er hatte schließlich auch Schwester Hedwig um alle Reputation gebracht, so daß sie aus dem Stande der Diakonissinnen unter dem Protektorat des Gurauer Fräuleins austreten und in dem konfessionslosen Orden vom Roten Kreuz ihre Tätigkeit fortsetzen mußte, weil sie, wie man ihr nachgewiesen hatte, auch eines Abends, in Begleitung des Assistenzarztes Hülsebusch, Gast an der Tafel des »Musenhaines« gewesen war.

Der kleine Gustav hing an dem Bruder, seit er in Breslau war, mit einer fast besorgniserregenden Hingabe. Den jungen studierten und gebildeten Leuten, die eine reizvolle, oft zur Ehrfurcht erregende Ähnlichkeit in den Wandel dieses gefährlichen Sonderlings, Quints, mit dem Wandel und Wesen des wahren Heilands hineinsahen, schien der Knabe der am innigsten gläubige Jünger zu sein. Dieses Kindesauge bekannte es, ohne daß ein Schatten von Zweifel die volle Reinheit des Ausdrucks trübte, wie dieser Bruder sein alles in allem: Freund, Beschützer, Herr und Heiland, ja sein Gott oder Abgott war. Der blasse Knabe starb übrigens früh. Er wurde nicht ganz vierzehn Jahre alt. Ihm wäre vielleicht, wenn er weitergelebt hätte, ein ähnliches Schwärmerschicksal wie seinem Bruder beschieden gewesen.

 


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