Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Vierzehntes Kapitel

Gleichsam zur Nachkur hatte das Gurauer Fräulein Emanuel Quint in der Gärtnerei ihrer Herrschaft Miltzsch untergebracht. Gern und gelassen war durch Emanuel ihr Vorschlag, der seine neue Unterkunft betraf, angehört und befolgt worden. Der Schloßgärtner, der übrigens alle Gärtnereien und Parkanlagen auf den Besitzungen des Gurauer Fräuleins unter sich hatte, hieß Heidebrand. Er war, wie alle Angestellten des Fräuleins, ein protestantischer, gottesfürchtiger Mann, der zudem über die mit Rosen besponnene Haustür die Bibelworte »Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen!« gesetzt hatte.

Das altertümliche Gärtnerhaus war früher das Schloß der Herrschaft gewesen und ein idyllischer Aufenthalt. Dickstämmiger Efeu bedeckte die Mauern mit zweierlei Blättern und langte mit winzigen Kinderhändchen junger Schosse in das freundliche Giebelzimmerchen Quints hinein. Eine Zentifolienzüchterei, darin immer mehrere Burschen arbeiteten, war im Vorgarten untergebracht. Es gab einige endlose Reihen von Glasfenstern. Die Wege waren mit Stachelbeersträuchern und Johannisbeersträuchern gesäumt. Auf weiten Plantagen wuchs die Erdbeere. Natürlich wurde zu ihrer Zeit auch die Himbeere unter der hinteren Gartenmauer in verschwenderisch üppiger Fülle reif.

Der Pfirsich war zum Teil schon geerntet worden oder hing noch, reif, am Spalier, als Quint sein neues Quartier bezog. Herr Heidebrand hatte sich sogleich seines neuen Schützlings, mit der ihm eigenen Güte, angenommen. Er hatte ihn durch das ganze ihm unterstellte Bereich geführt und ihm eigentlich freiesten Genuß aller Früchte des Gartens anempfohlen. Er sah in Quint einen im Grunde auf den Wegen Gottes wandelnden jungen Mann, den der Satan zum Irrtum verleiten wollte, der aber sicherlich nicht verloren war.

Vom ersten Augenblick an übernahm Herr Heidebrand Quint in eine ihm gleichsam von Gott übertragene Vormundschaft: denn es ist Überzeugung solcher Leute, immer mit einem persönlichen Gott in Verbindung zu sein und in seinem besonderen Auftrag zu handeln. So wurde Quint der Familie Heidebrand allerdings durch einen Willensentschluß des Gurauer Fräuleins, aber mehr noch durch Gottes Schickung zugeführt.

Quint hatte vom ersten Augenblick an ein Gefühl der Geborgenheit. Bald aber überkam ihn mitten unter dem Dufte des sommerlich warmen Blüten- und Fruchtgartens ein zarter, neuer, paradiesisch irdischer Hauch, der nichts an Duft und Wärme verlor, als die kleine Ruth Heidebrand, die fünfzehnjährige Tochter des Schloßgärtners, die ihm eine Karaffe frischen Wassers gebracht und nach seinen Wünschen gefragt hatte, nicht mehr im Zimmer war. Bald wurde Emanuel Quint von Mutter und Tochter Heidebrand auf eine Weise versorgt und gepflegt, als ob er im Hause Sohn und Bruder wäre.

Es ist nicht leicht, den reichen und harmonischen Inhalt jenes idyllischen Jahres wiederzugeben, das für den armen Narren in Christo nun begann: denn ungefähr von der Mitte des Sommers bis zum Frühjahr des nächstfolgenden Jahres gelang es ihm, sich verborgen zu halten. Nicht ganz allerdings, aber doch so weit, daß jene Lawine des Köhlerglaubens, die er verursacht hatte, zunächst nicht wieder ins Rollen kam.

Durch die hintere Gartenmauer trat man an den Rand unendlicher ebener Felder hinaus, zwischen denen sich einsame Pfade schlängelten, ein Gebiet, das für Meditationen eines grübelnden Sonderlings durchaus geschaffen war. Mehrere Pforten der vorderen Mauer verbanden die Gärtnerei mit dem Park, der sich mit englischen Rasenflächen und alten Bäumen um einen Wasserspiegel ausbreitete, auf dem ein ruderndes Schwanenpaar und der Widerschein der weißen Fassade des Schlosses zu sehen war. Dieses Schloß war meist unbewohnt. Es wurde aber auf Befehl der Gurauer Dame in bewohnbarem Zustand erhalten. Ihr Bruder, der bei einer Durchquerung Afrikas sein Leben einbüßte, hatte es seinerzeit gern bewohnt und eine Bibliothek darin angelegt, die seither aus Pietät durch die Schwester sorgsam gepflegt und bereichert wurde. Bibliothekar war jeweilen der Pastor des Dorfes Krug in der Nachbarschaft, das zum Patronat des Fräuleins gehörte.

Am fünften Tage nach der Ankunft Emanuel Quints hatte sich das Gurauer Fräulein eingefunden. Sie war in die Gärtnerei gekommen und hatte persönlich den armen Tischlerssohn ins Schloß herübergeholt. Wenn sie mitunter auf eine so überraschende Weise in einem ihrer Schlösser erschien, so pflegten ihre Beamten zu sagen: sie hat ihren resoluten Tag. Dann sprach sie niemals von Religion, sondern es wurden praktische Dinge mit trockenen Worten ins Werk gesetzt, feste Entschlüsse, die das Fräulein mit Gottes Hilfe und mit Hilfe ihres scharfen Verstandes und geraden Herzens bei sich in stillen Stunden gefaßt hatte.

Was sie mit Emanuel durchgesprochen hatte, als sie mit ihren trippelnden Füßen und ohne ihre Gesellschafterin neben Emanuel durch den Park und durch die Räume des Schlosses schritt, wußte man nicht. Nur hatte sie ganz besonders lange mit ihm in der Bibliothek geweilt, und der Schlüssel dazu ward dem unglückseligen falschen Propheten später, in ihrer Gegenwart, feierlich durch den Kastellan des Schlosses eingehändigt. Abends hatte sie Quint und den alten Herrn Heidebrand zu Tisch. Der Obergärtner erfuhr bei dieser Gelegenheit, was sie mit jenem für Absichten hatte: sie waren entschlossen und generös, ebenso eigensinnig und unwidersprechbar, wie es in ähnlichen Fällen von ihr nicht anders erwartet wurde. Sie sagte: »Emanuel, betrachten Sie sich bis auf weiteres als mein Pflegekind. Ich habe dabei den Gedanken, daß Sie ein Mensch sind, der Gelegenheit finden muß, sorglos an seiner Bildung zu arbeiten. Ich lege Ihnen jedoch, die Art betreffend, wie Sie das anfangen wollen, nicht die geringste Beschränkung auf. Bis Sie gesund sind, sollen Sie hier bleiben. Wünschen Sie dann in irgendeine Schule, zu irgendeinem Lehrer zu gehn, dies oder jenes zu studieren, so biete ich Ihnen zu alledem jetzt schon im vorhinein alle Mittel an. Mein Bruder war auch ein Sonderling. Und wenn ich es nicht selber wüßte, so hätte ich es doch von ihm im Ohr, daß gewissen Naturen mit Zwang und Drill und Programm nicht geholfen ist. Sie werden den Weg zum Guten schon selbst finden. Aber lernen Sie, lernen Sie, lernen Sie! In Ihren Augen, mein lieber Quint« – sie mußte bei diesen Worten wegblicken –, »liegt etwas, das mich mit einem gewissen Geist erfüllt. Vielleicht werden Sie für die Menschheit mit dem, was Sie in sich tragen, noch einmal von bedeutungsvollem und segensreichem Einfluß sein. Doch eh dies sein kann, tut es not, daß man das Getriebe der Welt und der Menschen kennenlernt.

Sie brauchen deswegen nicht Missionar zu werden! Gott mag Sie führen. Wie gesagt, ich denke in Ihrem Fall nicht im entferntesten an äußeren oder inneren Zwang. Sie würden uns auch sehr schnell entgleiten, wie ich ja weiß. Besuchen Sie mich, wenn Sie mit mir sprechen wollen, oder sehen Sie sich nach anderem Umgang um. Pastoren oder auch nicht Pastoren. Hauptsache bleibt, daß einer mit Leuten umgeht, von denen er lernen kann.«

Mit ruhigem Ernste, der von einer fast beängstigenden Klarheit war, hatte Quint den freundlich resoluten Reden der Dame zugehört, und mit einem sinnenden Frieden, in den ein leises Lächeln gewoben war, begab er sich mit Heidebrand unter das gastliche Dach des Gärtnerhäuschens zurück.

 

Er hatte schon aus dem Krankenhause gewisse bessere Lebensgewohnheiten mitgebracht, die sich in dem bürgerlich gutgeführten Heidebrandschen Hause noch mehr verfeinerten. Die Mittagsmahlzeit nahm er meist am Familientisch, wobei ihm ein gesittetes Betragen durchaus natürlich war. Übrigens begann man nach alter christlicher Sitte stehend mit dem lauten Gebet: »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast!«, wodurch sich der Mahlzeit überhaupt ein schlichter und reiner Anstand aufprägte. »Wißt ihr denn«, sagte Quint eines Tages bei dieser Gelegenheit, nachdem der Obergärtner, dessen Gattin, die Tochter Ruth und er selbst sich nach dem Gebete niedergelassen hatten, »wißt ihr denn, daß wirklich Jesus, so gerufen, jedesmal unter euch zu Gaste ist?« – Und er hatte in folgender Weise fortgefahren:

»Mit diesem Gebet zu Beginn wird eigentlich jede Mahlzeit zu nichts Geringerem als zum heiligen Abendmahl. Entweder Jesus ist auf eure Bitte hin unter euch getreten, und dann vollzieht sich hier das Sakrament des heiligen Abendmahls, oder er ist trotz eures Rufes ferne geblieben, und dann habt ihr nicht im rechten Geiste gebetet und seid ihm so fern, wie er fern von euch ist! Wer aber unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selbst das Gericht.«

Der bärtige Hausherr und Vormund suchte solche Gespräche meist abzulenken. Er war zu sehr ein Mann der häuslichen Frömmigkeit, deren Grenzen nicht sehr weit außerhalb des Gartenzaunes gezogen waren. Auch nahm er an und war auch hinlänglich in dieser Beziehung vorbereitet worden, daß in Quintens Geist eine morbide Stelle sei, die verheilen müßte, ehe von ihm etwas wahrhaft Nützliches für das Reich Gottes zu erwarten war. Ihn trat, sooft der Narr in Christo von der Gegenwart Jesu redete, immer ein leiser Schauder an. Viel eher als Jesus schien ihm in einem solchen Augenblick der Versucher, der Fürst des Abgrunds, gegenwärtig zu sein.

Die Gattin des Gärtners wußte sich dem eigentümlichen Wesen Emanuels gegenüber nicht in so klarer Weise zu fassen. Sie schwankte, sooft es krankhaft aufflackerte, zwischen Schrecken und einer Art Gläubigkeit. Ruth hörte die Eltern oft bis tief in die Nacht im Schlafzimmer ihre Ansichten friedlich gegeneinandersetzen, und aus dem, was durch die dünnen Wände des alten Fachwerkbaues vernehmlich ward, sowie aus vielen Gesprächen, die sie selbst mit der Mutter geführt hatte, wußte sie, wie diese, im Hinblick auf Quint, in ernsten Gewissensnöten war.

Die kleine Ruth war ein liebliches Kind, das in jenen Wochen, wo Quint im Hause der Eltern Wohnung nahm, sich zur Jungfrau umbildete. Also durchlebte sie jene gefährliche Frühlingszeit, wo Knospe und Blüte sich hervorwagen und alles Duftige, Blühendzarte sich dem Wechsel von Eis und Glut, von paradiesischer Wonne, wilden Stürmen und Hagelschauern unschuldig gläubig entgegensetzt. Ein junger, zwanzigjähriger Arzt, ein Pfarrerssohn aus der Nachbarschaft – einziges Kind des verwitweten Pastors Beleites von Krug, desselben, der die Bibliothek auf dem Schlosse verwaltete –, kannte das Mädchen von Kindheit an und hielt sein Auge auf es gerichtet. Die Eltern sahen gern, wenn der stille und strebsame junge Mann sie besuchen kam. Sie fühlten wohl, worauf er hinauswollte und daß er in seiner standhaften Treue innerlich mit dem Umstande rechnete, nach einer Reihe von Jahren gerade dann im Besitze einer gesicherten Existenz zu sein, wenn Ruth die volle weibliche Reife erlangt haben würde. Dies tat ihnen wohl, und sie sahen in ihm bereits einen Sohn.

In jenen Tagen durchlebte der junge Arzt nach bestandenem Staatsexamen beim Vater eine längere Ferienzeit, und da er die Bibliothek benutzte, kam es, daß er fast täglich für längere oder kürzere Zeit im Gärtnerhause bei Ruth erschien. Er, als der erste, bemerkte im Wesen des Mädchens eine tiefe Veränderung. Der arme Junge, der die Kleine immer nur als ein unschuldig offenherziges Wesen gekannt hatte, fand sie nun oft in einem Zustand dumpfer Befangenheit. Er erklärte sich das im Anfang aus ihrem kritischen Alter, mit Hilfe seiner neugewonnenen ärztlichen Wissenschaft, aber da er ein gesunder und kräftiger Jüngling war und in der Vorfreude auf die seiner wartende Ferienzeit eigentlich mit den ersten Zeichen erwachender Glut gerechnet hatte, mußte er sich nun doch im Gegenteil, deutlich spürbar, ein Erkalten eingestehen.

Zwischen den Rosenkulturen bemerkte er in den ersten Tagen einen sonderbaren Gärtnergehilfen, den er dann auch am dritten, vierten Tage am Tisch des Hauses, zu seinem Erstaunen, wiederfand. Als er nach Tisch mit der dunkeläugigen, schlanken Ruth, die ein bleiches Aussehen hatte, im Park, am Ufer des Sees, die weißen Schwäne mit trockener Semmel fütterte, suchte er einige Auskunft über den Neuling zu erhalten: ein Unterfangen, womit er bei Ruth durchaus nicht zum Ziele kam. Am Abend nach Hause zurückgekehrt, sprach er mit seinem Vater davon.

Pastor Beleites war, trotz seiner fünfundsechzig Jahre, ein kerniger und robuster Mann, der in allem, was sich nicht auf das Dogma bezog, einen höchst gesunden Verstand entwickelte. Er lachte, als ihm sein Sohn von dem Pensionär in der Gärtnerei zu erzählen begann, und meinte, daß es ein Unglück für die »beati possidentes« wäre und so auch für seine geehrte Kirchenpatronin, ohne Bedenken jede Marotte durchsetzen zu können. Dann erzählte er ihm die sonderbare Geschichte Quints, soweit ihm diese bekannt geworden war, und vergaß im Bewußtsein der theologischen Bildung, die er selber genossen hatte, und während er die Ereignisse um Quint als einen ärgerlichen Unfug bezeichnete, welche Verheißung den Armen und Schwachen im Geist durch Jesum selber geworden war.

Der junge Beleites hatte psychiatrische Kurse durchgemacht. Er stellte fest, Quint sei mit degenerativen Zeichen behaftet. Es war ihm sogleich, als er ihn zwischen den Rosen sah, aufgefallen. Er habe außerdem zweifellos einen Wasserkopf. Der junge Arzt hatte noch einen Rest der von den Eltern stammenden Rechtgläubigkeit, immerhin war der ehemalige Besitz daran, während der Studienjahre, beträchtlich zusammengeschmolzen. Deshalb betonte er jetzt die Gefahr, die für den gesunden Geist eines religiösen Hauses durch die Gegenwart eines Menschen gegeben sei, der an religiösem Wahnsinn leide. »Mache du etwas«, sagte der Vater, »gegen diesen Geist einer mißverstandenen Wohltätigkeit.«

Und wirklich versuchte Hans Beleites schon bei nächster Gelegenheit etwas auf seine Weise dagegen zu tun. Er ließ sich zunächst von der kleinen Ruth, nicht ohne, um sie sicher zu machen, Glauben zu heucheln, die Abenteuer des Fremdlings bestätigen. Sie tat das mit einer großen, kindlich naiven Begeisterung. Es war am Rande eines Feldwegs hinter dem Garten, unter den wogenden Halmen eines Weizenfeldes, das kurz vor der Ernte stand. Ruth schwärmte. Sie zog ein winziges Neues Testament der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft hervor und bekam große hektische Flecken am Halse. Hans Beleites hielt ihr ein medizinisches Privatissimum. »Höre«, begann er und nahm ihr unerwartet zunächst das Neue Testament aus der Hand, »so kann es mit uns nicht weitergehn. Erstens nimmst du, nach einem Rezept, das ich schreiben werde, Eisen, mein Kind. Was du brauchst, das sind rote Blutkörperchen. Ferner verbiete ich dir für die nächsten Monate, irgend etwas, ja selbst die Bibel zu lesen. Du bist immer ein bißchen überspannt gewesen und kommst in ein Alter, wo Überspanntheit doppelt gefährlich ist. Ich werde mit deiner Mutter sprechen und sie bitten, daß man dich von jetzt an möglichst mit Kirchengehen, Kirchhofsbesuchen, Kirchenliederabsingen und ähnlichen Dingen verschonen möge. Der oft durchlaufene Vorstellungskreis vom Ölberg über die Geißelungen und Verspottungen zum Kreuzestod und Begräbnis des Heilands könnte für dich und dein Gemüt von verhängnisvoller Wirkung sein. Laß uns von unserer Zukunft reden, Ruth. Sei heiter. Du bist es früher gewesen . . .«

Aber sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an und verstand ihn nicht.

Er griff nun direkt die allzu große Willfährigkeit ihres Vaters an, weil dieser Quint bei sich aufgenommen hatte. Er gehöre ins Diesdorfer Rettungshaus. Er nannte ihn einen kretinhaften Menschen, dessen schwachsinniger Wahn immerhin in der Nachbarschaft jugendlich unreifer Menschen möglicherweise ansteckend sei. Es seien, sagte er, in der Schweiz und in Frankreich jüngst Fälle eines Wahnsinns zu zweien, zu dreien und zu vieren bekannt geworden. Die weiteren Äußerungen des jungen Beleites über Quint steigerten sich in einen natürlichen Ärger hinein und ließen an Offenheit nichts zu wünschen. Sie troffen gleichsam von eigener Überhebung und von Geringschätzung für Emanuel Quint.

Er hätte noch lange kein Ende gefunden, aber er sah sich plötzlich allein. Ruth war entflohen, und so blieb dem Jüngling nichts weiter übrig, als einigermaßen beschämt davonzugehn.

 

Am folgenden Tage suchte er mit Frau Heidebrand das gleiche Gespräch wieder aufzunehmen. Es gelang ihm auch: aber der Erfolg, den er bei der immer ein wenig sorgenvollen Mutter mit seiner Ansicht von Quint und seinen Warnungen hatte, enthüllte ihm, wie sehr der Einfluß des närrischen Menschen auch hier im Wachsen war. Sie sagte: »Es kann wohl sein, daß Sie recht haben, guter Hans. So viel ist gewiß: Sie hätten Ruth gegenüber zurückhalten sollen. Sie haben das Mädchen, durch Ihre vielleicht etwas harten Worte über unseren Pflegling, kopfscheu gemacht. Das Kind ist mir förmlich krank geworden. Ich rate Ihnen, wenn Ihre alte Kameradschaft nicht leiden soll, reden Sie mit Ruth niemals mehr ein Wort über Quint.

Sie müssen nicht denken, lieber Hans«, fuhr die Frau Obergärtner fort, »daß über Emanuel Quint bestimmt zu urteilen eine leichte Sache ist. Gehen Sie, treten Sie ihm gegenüber! Ich bin überzeugt, Sie finden einen schlichten, bescheidenen Menschen ohne alle Überspanntheit an ihm. Papa hat ihm einiges in der Gärtnerei beigebracht: das Okulieren von Zentifolien. Sie können ihn auch mit der Heckenschere und mit dem Grabscheit sehn. Aber ohne daß er eigentlich sich irgendwem annähert, merkt man es den Gärtnerburschen und Arbeitern an, auch vielen Leuten drüben vom Gut: sie wollen gern alle in seiner Nähe sein. Sie müssen mal kommen, wenn Feierabend ist. Da sitzt er mitunter hinten im Feld, wo der Grenzstein ist, und hat vierzig bis fünfzig Kinder um sich, denen er unermüdlich kleine hübsche Geschichten erzählt. Man kann sich nämlich da ganz ruhig hinzusetzen und kann ihm zuhören. Es stört ihn nicht. Und wenn Sie da irgend etwas finden, lieber Hans, was auf Irrsinn oder auf Schwachsinn oder auf eine überhebliche fixe Idee deutet, so sollte mir das verwunderlich sein.«

Schon am nächsten Abend wurde der Vorschlag der Frau Obergärtner ausgeführt.

Die Unke rief. Die Grillen feilten und schrien im Roggstoppel. Durch die hohen Wipfel des nahen Parkes ging ein warmer, nächtiger Abendwind. Am blassen Himmel stand rund der Mond. Noch herrschte des Tages Helligkeit, aber die Sonne, der Quell des Lichts, war untergesunken. Quint hatte den größten Teil des Tages mit dem Schäfer des Guts bei den Schafherden draußen auf den Feldern zugebracht. Als er an der Spitze einer nach Hunderten zählenden Herde in der Nähe des Gutes erschien, hatten die Kinder ihn schon erwartet. Er schritt aber weiter, der Herde voran, und geleitete die trippelnde, trappelnde Masse durch den Torweg in den Hof und, begleitet vom Schäferhunde, durchs offene Tor in den Schafstall hinein.

Der Schäfer selbst folgte mit einer zweiten Schafherde. Er rief der Frau Obergärtner zu, die mit Ruth und Hans bei den Kindern stand: er habe nun einen Schäferknecht, mit dem er sehr zufrieden sein könne. Man weiß, daß gute Schäfer gute Tierärzte und Chirurgen sind, und dieser würdige und erfahrene alte Mann, allgemein nur unter dem Namen »Der Miltzscher Schäfer« bekannt, hatte schon manchen Knecht und manche Magd, die Schaden erlitten hatten, verbunden und manches gebrochene Bein kunstgerecht angeheilt.

Als Quint vorüberkam, hielt sich Ruth, mit merkbaren Zeichen der Erregung, voll Leidenschaft an die Mutter geklammert.

Hans gestand sich, daß der Eindruck des vorüberschreitenden seltsamen Hirten an der Spitze der Herde außergewöhnlich gewesen war. Es fehlte nicht viel, so hätte der junge Arzt, getroffen von der biblischen Glorie, die das bukolische Bild umgab, respektvoll den Strohhut vom Kopf genommen. Natürlich suchte er sogleich nach Symptomen, die eine bereits vorausgesetzte Diagnose bestätigen konnten, fand jedoch, daß der jesusähnliche Eindruck, den Emanuel machte, nicht leicht auf gekünstelte Äußerlichkeit zurückzuführen war. Die Sucht, sich von den Mitmenschen zu unterscheiden, äußerlich aufzufallen, sieht nämlich der Psychiater als krankhaft an. Emanuel trug einen spitzen Bart am Kinn, der mit einem leichten Bartflaum über der Oberlippe verbunden war. Seine Nase war spitz und lang. Er hatte gewölbte, buschige Brauen. Sein Auge blickte groß, aber gütig und ohne erstaunt zu sein. Vielleicht lag in dem etwas zu lang gewachsenen Haupthaar eine gewisse Absichtlichkeit. Der Bart dagegen war kurz und gepflegt, und ebensowenig konnte das offene Hemd, das kurze Beinkleid, der Umstand, daß Quint einen langen Stab in der Rechten trug und barfuß ging, als absichtlich gedeutet werden. Auch der andere Hirt trug einen Hirtenstab und hatte, wie Quint, die ausgezogene Jacke über die linke Schulter gehängt. In die Gewohnheit, barfuß zu gehen, fiel Quint mit vollem Bewußtsein mitunter zurück. Er sagte, er wolle mit den Kräften der Muttererde verbunden bleiben.

Man konnte nun sehen, wie sich der neue Hirt im Hofe, am laufenden Brunnen, mit Sorgfalt Hände und Antlitz wusch, worauf er kam und lächelnd Frau Heidebrand, Ruth und dem jungen Doktor die Hand reichte. Die Kinder drängten sich um ihn heran. Die Art, wie er diesem Flachskopf durchs Haar, jenem über den Nacken fuhr, dieser hübschen Elfjährigen seine Hand reichte, jenes Kleine vom Arm der älteren Schwester nahm, um es nieder ins Gras zu setzen: alles das war, wie wenn ein erfahrener Hirt Ordnung, Frieden und Schutz unter seine Herde bringt. »Setzt euch«, hieß es dann. »Wie lange haben wir heute noch Zeit bis zum Abendbrot, Frau Heidebrand?« Die Antwort erfolgte, und er begann, selber auf einem Grenzstein Platz nehmend.

»Liebe kleine Mitmenschen«, sagte er, »Menschensöhne und Menschentöchter, der zu euch spricht und der bei euch ist, ist des Menschen Sohn. Lasset die Kindlein zu mir kommen, spricht er, und wehret ihnen nicht, denn solcher, sagt er, ist das Reich Gottes. Ihr Kiemen, ihr habt das Gottesreich, ihr Kinder habt es und sollt es verbreiten. Alle eure Augen, lieben Kinder, sind wie ein himmlischer Quell für mich. Zwar auch Böses habt ihr in eurem Innern, denn irgendwo, irgendwann ward in die reine Schöpfung des lieben Herrgotts Unkraut unter den Weizen gesät.« Und Quint erzählte das Heilandsgleichnis unter allgemeiner Spannung der Kinderherzen, vom bösen Feind, der das Unkraut unter den Weizen gesät hatte. »Ich halte euch eine Kinderpredigt«, fuhr er fort, »allein ich gebe euch Worte, während ihr mir den Quell eures Schweigens, den Quell eures Wartens, den Quell eurer Kindheit gebt. Wenn ich aus diesem Quell in das Gefäß meiner Seele schöpfe, so schöpfe ich Klares in Getrübtes hinein.« Und er nahm eins der kleinen Knäbchen auf seinen Schoß. »Es ist gesagt, wer sein Kind liebhat, der züchtige es. Ich aber sage euch, wer ein Kind züchtigt, der ist gezüchtigt. Des Menschen Sohn erhebt seine Hand nicht wider euch, außer um euch zu heilen oder zu streicheln. Das aber ist die heilende Kraft des Menschensohns, daß er die Keime des Bösen in euch ausrottet, damit sie nicht mit dem Himmelreich wachsen, das in euch gegründet ist. Wahrlich, wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind« – er hatte die Hand auf dem Scheitel des Knaben, der ihm auf den Knien saß, und blickte gegen Frau Heidebrand, Ruth und den jungen Beleites hin –, »so bleibt ihr ferne vom Himmelreich.« Im weiteren war es, als ob er seine Worte gegen die Gruppe der Erwachsenen richtete, zu der nun noch Herr Heidebrand und der Schloßkastellan hinzutraten.

»Kindlein, liebet euch untereinander.« Emanuel sprach in jenem schlichten, natürlichen Ton, der in keiner Weise an die Pathetik der Kanzel erinnerte. Er entwickelte nun, wie es in bezug auf das, was die Kinderseele ausmache, verschiedene Phasen in der Entwickelung eines Menschen geben könne. Die erste Phase schließe die wirkliche, körperliche Kindheit ein. Aber schon diese äußerlich unbezweifelbare Kindheit verbürge nicht immer die wahre Kindheit der Seele. Wo sie vorhanden wäre, ginge sie aber im natürlichen Lauf des Wachstums auch wieder verloren, in jenem Alter, wo das schmerzensreiche Wesen der Welt sich dem Jüngling aufschließe. Diese Zeit mit ihren Erfahrungen mache manchen für immer alt und raube ihm so für immer das Himmelreich. So verknöcherte Leute könne man denn allenthalben mit bittrer und harter Miene an ihr Tagewerk schreiten sehen. In einem dritten Stadium, behauptete Quint, werde die Kindschaft derer, die Gott liebhätte, wiedergewonnen. Und wo sie nun wieder erblühe, blühe sie schöner und reicher auf. Dies sei die Kindheit jenes Jüngers Johannes, der das Geheimnis des Reiches Gottes unwissend in seiner Seele trug und den der Heiland besonders liebhatte.

Der junge Beleites wußte nicht recht, was er aus dem Eindruck, den er empfangen hatte, machen sollte. Freilich war der Umstand dieser Kinderpredigt an sich etwas sonderbar, davon aber abgesehen ergab sich nichts, was der Arzt für irgendein Krankheitsbild verwerten konnte. Allerdings war es ungewöhnlich, daß ein Mensch aus niederem Stande von schlechtem und bleichem Aussehen, der nur eine Dorfschule besucht hatte, solche Worte fand: aber er sprach sie ohne jedwede Exaltation, und was sie ausdrückten, gab zu denken. Wäre die kleine Ruth nicht gewesen, vielleicht hätte sich Hans Beleites an den eigentümlichen Menschen herangemacht: so aber erbitterte und erschreckte ihn die merkbare Abhängigkeit, darin Ruth zu stehen schien und die den Narren zum Gegenstand seiner Eifersucht, zum Rivalen machte.

Eines Tages traf er ihn in der Bibliothek. Von der Erlaubnis, diese ganz nach Belieben zu benutzen, hatte Emanuel in ausgiebiger Weise Gebrauch gemacht. Er saß gewöhnlich mehrere Stunden am heißen Nachmittag in dem kirchenschiffartigen Raume, dessen Wände unter Bücherrücken versteckt waren, las oder ging gedankenvoll auf und ab, irgendein offenes Buch in der Hand. Der Miltzscher Schäfer hatte damals grade eine Kur gemacht, jener fast wunderbaren Art, die von der großen Zunft der approbierten Ärzte meist mit Unglauben und Verachtung aufgenommen wird. Der bäurische Gutsbesitzer Fritsch aus der Nachbarschaft war von einer Fliege gestochen worden. Man hatte ihn mit seinem bis zur Schulter blau geschwollenen Arm in die chirurgische Klinik eines berühmten Arztes in Breslau gebracht, der Amputation des vergifteten Gliedes für die einzige Rettung erachtete. Einen Arm aber, wenn auch nur seinen linken, verlieren wollte der eigensinnige Bauer indessen nicht: er ließ sich zum Miltzscher Schäfer bringen, und diesem gelang es in der Tat, trotz der hoffnungslosen Prognose des Stadtarztes, ihm das Leben zu erhalten, und zwar mitsamt seinem einstweilen nur noch ein wenig steifen Arm.

An diese Geschichte glaubte der junge Beleites nicht. Er benutzte sie deshalb als Anknüpfungspunkt. Wobei seine instinktive Absicht darin bestand, Gegensätze hervorzurufen.

Seine Äußerungen über den Schäfer strotzten von jugendlicher Hitze und Überheblichkeit. Indem er, ohne daß es jemand herausforderte, den Stab über die gesamte Kurpfuscherei des Schäfers brach, gelang es ihm doch nicht, einen Gegner in Quint zu finden. Dieser meinte: der Breslauer Arzt sowie der Miltzscher Schäfer hätten beide nach bestem Wissen Gutes tun wollen und Gutes getan, aber das Beste stünde bei Gott. Im übrigen sagte Quint, der den jungen Beleites mit schlichter Wärme begrüßt hatte, daß nach seiner Ansicht von allen Berufen der Beruf des Arztes der edelste wäre. Er schloß: »Ich beneide Sie um den Weg, den Sie vor sich haben, den Lebensweg der Barmherzigkeit.« Von dieser Seite hatte der junge Beleites, der immer nur hausbacken bürgerlich auf eine auskömmliche Existenz hinarbeitete, seinen Beruf noch nicht aufgefaßt. Quint aber entwickelte ihm in der Bibliothek, wie der wahre Arzt des Körpers auch immer ein Arzt der Seele wäre.

Dann sprach er weiter, indem er auf biblische Dinge überging und dabei die Gebiete des Körperlichen und Geistigen dermaßen durcheinandermengte, daß es dem jungen Arzte der Inbegriff überstiegner Verwirrung schien. Dabei waren, deutlich hörbar, absurdeste Dinge mit unterlaufen. Zum Beispiel, wer nicht Tote erwecken könne, sei kein Arzt: ein Wort, wodurch für den jungen Beleites die Grenze der Gesundheit zum Wahnwitz überschritten war.

Dem jungen Menschen gelang es nicht, das Ehepaar Heidebrand von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Schwärmer aus dem Hause zu schaffen. Selbst der würdige Obergärtner meinte nur immer: er finde beim besten Willen nichts Übles an ihm. In der Tat konnte niemand gefunden werden, der unauffälliger als Quint in jenen Zeiten sein Dasein hinbrachte. Seine Lebensgewohnheiten gestalteten sich im Hause der Heidebrands mehr und mehr nach der Seite der Bürgerlichkeit. An ein sauberes Zimmer und Bette gewöhnt, hatte er auch durch die sorgende Güte des Gurauer Fräuleins die Annehmlichkeiten sauberer Wäsche und guter Kleider kennengelernt. Wusch er sich schon über dem Wassertrog seines Elternhauses mit beinahe priesterlichen Gefühlen der Reinigung: jetzt fiel ihn ein wahrer Reinlichkeitsfanatismus an. In einer seiner Gepflogenheiten lag indessen wohl etwas, was ihn bei dem Landvolk in den Geruch eines Menschen bringen half, mit dem es nicht ganz geheuer wäre.

In der vierten Stunde des Morgens geht während des Monats August die Sonne auf. Wenn sie heraufkam, erblickte sie Dörfer im Schlaf und den nackten Körper Emanuel Quints, der bereits am Ufer des Sees aus dem Bade stieg. Der Ort, der Seearm, wo dieses geschah, atmete tiefe Verlassenheit und Verschwiegenheit, nur daß in den Wipfeln der riesigen Parkbäume in den letzten Minuten vor Aufgang der Sonne, aus vielen Kehlen begeisterter Singvögel, die übliche Huldigung für das Tagesgestirn begann, jener einsam jubelnde Gottesdienst, der immer den Aufgang der Sonne begleitet. Dies Bad war für Emanuel ein erhabenes Glück, eine paradiesische Seligkeit. Es war noch mehr: es war eine Feier! Und die bezaubernde Andacht dieser Minuten heiligte seinen ganzen Tag.

 

Eines Tages trat ein Ereignis ein, wodurch der Friede des Gärtnerhauses eine Unterbrechung erfuhr, ein Ereignis, wodurch das Ehepaar Heidebrand sich in der Folge zu langen, ernsten Gesprächen bewogen fand, die Emanuel Quint und die Frage zum Gegenstand hatten, ob man es in Rücksicht auf Ruth ferner verantworten könne, ihn zu beherbergen. Die kleine Ruth nämlich fiel eines Sonntags, als man kaum in der alten Landkutsche, die der Gutshof stellte, aus dem Kirchdorf und aus der Kirche des Pastors Beleites nach Hause gekommen war, in einen gleichsam magnetischen Schlaf. Das fünfzehnjährige Mädchen lag bei verhangenen Fenstern und beim Fliegengesumm des Spätsommertages auf einem alten, geblümten Sofa ausgestreckt, von den beiden erschrockenen Eltern beobachtet, die, der seltsamen Reden wegen, die es im Schlafe zu führen begann, die Tür des Zimmers geschlossen hatten. Ruth war im Leben ein schweigsames Kind, nun aber gehorchte sie, wie es schien, einer inneren Einwirkung und redete mit geschlossenen Augen, stoßweise, lange, zusammenhängende Reden, die keineswegs von ihr stammen konnten und die sie nur nachzusprechen schien. Die beiden Eltern sahen einen Zustand wie den ihres Kindes allerdings nicht zum erstenmal. Vor noch nicht Jahresfrist war eine sogenannte Somnambule mit ihrem Begleiter auf den Gütern umhergereist, und der Obergärtner und seine Frau hatten im Hause des Oberamtmanns Scheibler einer Séance mit diesem Medium beigewohnt. Es war natürlich inzwischen zuweilen im Gärtnerhause und in Ruths Gegenwart von den wunderbaren Ereignissen jener Sitzung die Rede gewesen.

Darin hatte der junge Beleites recht, daß er sich für das Nervenleben der hübschen Gärtnerstochter besorgt zeigte. Freilich war die Atmosphäre auch ohne Quint hinreichend ungesund: wurden doch in den Kreisen der Heidebrands fast ebendieselben Dinge fortgesetzt diskutiert, die seinerzeit Anton und Martin Scharf in gefährliche Bahnen gedrängt hatten. Die Bibel anerkannte die Gabe der Weissagung. Es ward verheißen, diejenigen sollten mit Zungen reden und das Geheimnis des Reiches Gottes verkündigen, auf die der Heilige Geist herniedersank. Überdies leugnete die Schrift eine Möglichkeit der Auferstehung von den Toten nicht, und endlich bildete die Offenbarung St. Johannis auch in diesen Kreisen einen ständig flackernden Fieberherd, der hie und da eine Seele ansteckte. Als nun die kleine Ruth in diesen Schlaf der Verzückung verfallen war, stand für den naiven Geist ihrer Eltern eigentlich nur in Frage, ob sie ein Werkzeug böser oder guter Geister geworden sei: mit diesen und ihrem Meister, Gott, oder mit jenen und Satan in Rapport stünde. Schließlich im Zuhören faßte sie Schreck und beinahe Ernüchterung. Sie gedachten den Arzt zu rufen.

Die kleine Ruth war nämlich mit niemand Geringerem als dem Heiland selbst in Rapport, wenn man ihrem Gebaren trauen wollte. Mit diesem Gebaren würde sie etwa als spanische Nonne Gegenstand allgemeiner Verehrung, ja nach und nach unzweifelhaft eine Heilige geworden sein. Sie sah den Heiland. Sie antwortete ihm. Er stand in einer Glorie reinsten Lichtes. Er richtete klare Befehle an sie, die sie mit kindlich beglücktem Gehorsam befolgen wollte.

Als sie erwachte, fand sie sich lange nicht in die enge Umgebung zurück. Die Eltern sagten ihr, daß sie krank wäre, und die Mutter wollte, sie solle zu Bett, und sprach ihr von Flieder- und Fencheltee. Aber sie war ganz außer sich und kämpfte mit der Unmöglichkeit, ihrer Mutter etwas begreiflich zu machen: einen Glanz, ein Erlebnis, eine Erfahrung, die außerhalb jedes menschlichen Ausdrucksvermögens war. Sie rief immer wieder: »Ich bin nicht krank! Wie könnt ihr nur glauben, ich wäre krank, und habt doch ganz nahe hier bei mir gestanden. Wie ist denn das möglich, wie könnt ihr nicht wissen, welche himmlische Gnade mir widerfahren ist!« Herr Heidebrand suchte zu beruhigen, die Mutter dagegen brach in angstvolle Tränen aus. »Mutter«, rief Ruth, »wie kannst du nur weinen, da doch der Bräutigam nahe, ganz nahe, Mutter, hier unter unserem Dache, und die Hochzeit bereitet ist.«

Die Gärtnersleute erwogen nur, wen man zu Hilfe rufen, wem man den Vorfall eröffnen sollte. Aus einem gewissen Instinkt heraus widersprachen sie zunächst der Tochter nicht: ein Verhalten, das insofern nicht ungünstig wirkte, als sich das junge Mädchen äußerlich und auch innerlich zu beruhigen schien. Die Eltern konnten zu keinem Entschluß kommen. Erstlich waren sie immerhin abhängig, und das Fräulein hatte den Sonderling Quint unter ihren Schutz gestellt. Im übrigen waren sie schlichte Leute, die Aufsehen zu vermeiden wünschten. Endlich wußten sie für ihren Fall nicht den rechten Arzt. Es gab in der Nähe einen Landdoktor, allein er war ein alter, wenig vertrauenerweckender Mann, der mit einigen Mitteln, die jeder kannte, auch jenen Übeln beikommen wollte, deren Wurzel der Böse gepflanzt hatte. Seine Anschauungen über das Leben des Gemüts, dessen Verklärungen und Zerknirschungen, waren denen der gläubigen Kreise ganz entgegengesetzt. Eher schon hofften die Gärtnersleute auf die heilende Kraft des Gebets.

Und als sie am Abend im Zimmer allein waren, nachdem sie noch an Tür und Wand den ruhigen Atemzügen der kleinen geliebten Somnambule gelauscht hatten, gingen sie in der Stille Gott um Aufschluß und Hilfe an. Gott aber gab ihnen sonderbarerweise allmählich den festen Entschluß ins Herz, Emanuel Quint ins Vertrauen zu ziehen.

Die nächstfolgenden Tage widmeten sie der Beobachtung. Da war denn nun allerdings zu spüren, wie Quint ihre Tochter an unsichtbaren Banden und Ketten hielt. Ruth folgte dem Narren auf Steinwurfsweite. Er trat aus dem Hause, und ob sie nun Wäsche gelegt oder ihrer Mutter in der Küche geholfen hatte, bald darauf mußte sie ebenfalls draußen im Freien sein.

Sprach Quint sie an, so überströmte das wächserne Antlitz eine purpurne Seligkeit. Oft schritt sie neben ihm durch die Treibhäuser. Aus weiter Ferne las sie ihm Wünsche, nicht immer richtig, von den hellbewimperten, blauen Augen ab und brachte ihm etwa ein Grabscheit, den eisernen Rechen oder ein anderes Gartengerät. Mit jener Maschine, die man vor sich herschiebt, mähte Emanuel manchmal Teile der englischen Rasenflächen des Parkes ab: dann rechte die kleine Ruth Heidebrand ernst und versonnen um ihn herum das Gras zusammen. Niemals aber berührte sie ihn: wie denn auch keiner in Gärtnerei und Dominium je bemerkt hatte, daß Emanuels Hand etwa mit ihrer Hand, ihrer Schulter, ihrem Scheitel in Berührung kam.

 

Als eines Tages Frau Heidebrand ihrem seltsamen Pflegling mit merkbarer Sorge den mystischen Vorfall des krankhaften Schlafs und Traumes ihrer Tochter erzählt hatte, äußerte Quint ein schlichtes und ernstliches Mitgefühl; aber es war an ihm, auch als der Herr Obergärtner selbst mit ihm redete, nicht der leiseste Schatten eines Schuldbewußtseins oder davon etwas zu merken, daß etwa zwischen dem Seelenzustand der kleinen Ruth und seiner geheimen Narrheit ein Zusammenhang sei. Auch wagte man nicht, eine solche Vermutung anzudeuten. So ging nach diesem Gespräch Emanuel Quint wie bisher seinen stillen Geschäften nach, jenen inneren, die seiner Umgebung verborgen waren, und anderen äußeren, die man mit Augen sah und die er sich nach Gefallen auswählte. Und da die kleine Ruth in der Folge zunächst nicht rückfällig ward, sondern eher mit einer stillen, inneren Heiterkeit ihre Tage hinlebte, geriet ihr prophetischer Schlaf sehr bald in Vergessenheit.

 


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