Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Elftes Kapitel

Es sind nachher ihrer viele gewesen, die sich ganz und voll auf die Seite derer gestellt haben, die, wie man meinte, versucht hatten, das dörfliche Ärgernis auf ihre Art aus der Welt zu schaffen. Es wurde gesagt, der Schlachtergeselle, der dem Schneider Schwabe durch einen Schlag mit einer Bohnenstange den linken Arm zerbrochen habe, sei zwar nicht geradezu berechtigt gewesen, dies zu tun, aber man müsse ihn aus seinem christlichen Gefühl heraus entschuldigen. Es wurde ferner allgemein eine Tat des böhmischen Josef verdammt, der einen Gastwirt aus dem Niederdorf und einen Pferdejungen des Bauers Karge buchstäblich in einen gewissen Froschteich, der ziemlich tief war, geschleudert hatte, wobei noch außerdem der Wirt sowohl als der Pferdejunge von ihm auf eine so erhebliche Weise tätlich mißhandelt worden war, daß jeder von ihnen nahezu vierzehn Tage das Bett hüten mußte. Aber Josef hatte sich in der Notwehr befunden.

Es war erwiesen, daß eine Rotte aufgeregter Menschen, worunter sich einige Schlepper aus dem nahen Kohlenrevier, ein Pferdehändler, ein Handelsmann und ein Schlachtermeister befanden, um neun Uhr abends das Wirtshaus zum Stern in angetrunkenem Zustand verlassen hatten, und zwar mit der ausgesprochenen Absicht, zunächst in ein anderes Gasthaus, »Emmaus Einkehr«, zu ziehen, dort mit den »Muckern« Händel zu suchen und, wenn man Emanuel Quint anträfe, diesen zunächst gründlich zu »vertobaken«, was mit verbleuen, windelweich schlagen oder fürchterlich durchprügeln gleichbedeutend ist.

Schon als die Rotte über die Brücke und neben der Brücke durch die sogenannte »Bache« gezogen war, dem Gasthause zu »Emmaus Einkehr« gegenüber, hatten sie Haselnußstöcke, Steine, geflochtene Stricke und dergleichen als Waffen mit sich geführt. Der Wirt jener christlichen Herberge hatte sogleich seine Türen geschlossen. Als es späterhin zu seiner Vernehmung kam, zeigte er einen faustgroßen sogenannten Feuerstein, der eines seiner Fenster zertrümmert hatte. Weitere Ausschreitungen geschahen vor »Emmaus Einkehr« nicht.

Die Ursache aber, wodurch dies vermieden worden war, bestand in einem schnöden Verrat, den die Schleußerin von »Emmaus Einkehr« ausübte. Sie hatte nämlich einem der Tumultuanten, der zugleich ihr Geliebter war, aus einem Fenster, das auf den Hof ging, heraus, die Zusammenkunft draußen am Birnbaum mitgeteilt. Es war der gleiche Schlachtergeselle, der den Arm des bedauernswerten Schneiders Schwabe zertrümmert hatte.

Nachdem der tolle und wilde Haufe, in dem sich auch ein und der andere fanatische Katholik befand, den Aufenthalt des Narren in Christo und seiner Gemeinde durch den Schlachtergesellen erfahren hatte, veränderten sie ihre Taktik durchaus, und an Stelle des Lärms trat tiefe Stille.

Die Beteiligten redeten sich später ziemlich übereinstimmend auf einen mißglückten Spaß hinaus. Und wirklich war hie und da aus dem Kreise der Unfugstifter Gelächter erschollen: keinesfalls vermochte jedoch die kleine Schar um Emanuel Quint, weder die Herde noch der Hirte, als dieser Apachenhaufe schließlich über sie hereingebrochen kam, irgend etwas von Spaß zu bemerken.

Als Emanuel kaum gesagt hatte, wie Jesus, der Heiland, fast nur im Gleichnis zu seinen Jüngern geredet habe, unterbrach ihn ein weithin die Nacht durchgellender Pfiff, der aus dem nahen Gehölze hervortönte. Es war das Signal zum Angriff gewesen, das der Pferdehändler zu geben beauftragt war und das er hervorzubringen verstand, indem er je zwei seiner dicken Finger tief in das aufgedunsene Maul steckte. Der starre Schrecken, den der kannibalische Pfiff in der kleinen Gemeinde sofort hervorrief, hatte noch nicht sein erstes Wort gesagt, als auch schon dunkle Gestalten aus dem tiefen Schatten des Wäldchens in den Mondschein laufend und springend hervordrangen und gegen den Birnbaum heranstürzten. Oft durchlebte Emanuel späterhin noch diesen Vorgang im Traum. Die gleiche Mondnacht mit ihrer weiten, geräumigen Stille umgab ihn dann. Er sah das Schwanken dunkler Waldbäume. Er hörte plötzlich den gellenden, ohrenzerreißenden Pfiff und dann, wie es ihm vorkam, ein Rudel jächender Wölfe näherkeuchen. In Wirklichkeit hatten dazu noch, unvergeßlicherweise, hinter dem Wäldchen die Frösche gequakt.

Und nun, als die Angreifer näherkamen, und zwar schweigend, wie sie beschlossen hatten, erhoben die überraschten Anhänger Quints ein lautes, verzweifeltes Hilfegeschrei und stoben nach allen Seiten davon. Dieses Hilfegeschrei ist später in das Bereich der Mythe gezogen worden, indem, nicht nur von den Arbeitsweibern auf dem Dominium, sondern auch von Männern und Frauen aus dem Bürgerstand, erzählt und behauptet wurde, man habe diesen Hilferuf hinauf bis ins Oberdorf und wiederum in einem nach entgegengesetzter Richtung weitentlegenen herrschaftlichen Vorwerk gehört, was, selbst wenn man die Stille der Sternennacht dabei berücksichtigt, ohne daß man ein Wunder annimmt, nicht zu erklären ist.

Im ersten Augenblick sah sich Emanuel ganz allein. Nach allen Seiten waren sogleich Verfolger den Fliehenden nachgeeilt. Er wurde dann von drei keuchenden, wilden Köpfen, von unvergeßlichen, bläulichen und grimassenschneidenden Masken, umringt, und er hörte die Worte: »Da ist ja das Bürschchen!« Gleichzeitig fühlte er sich von harten Fäusten vor der Brust, im Rücken und an den Armen gepackt.

Er leistete keinen Widerstand.

Es war ihm mit einemmal gewesen, als sei er gar nicht der, der er war, auch nicht an der Stelle, wo er war, sondern als sei er an allem, was vorging, unbeteiligt. Dies mag am Ende insofern zu seinem Vorteil ausgeschlagen sein, als man, durch Widerstand nicht gereizt, ihn zunächst nicht mißhandelt hatte.

Man packte ihn aber und rannte mit ihm, der dadurch zu einem widerwilligen Lauf unwürdig gezwungen wurde, zu irgendeinem Endzweck über die Äcker gegen das Wäldchen hin. Dort zerrte und stieß man ihn über die Böschung und war eben bis auf wenige Schritte Entfernung an das Ufer eines kleinen, mit Schilf bedeckten Sees gelangt, als unerwartet einer von Emanuels Peinigern, von einem furchtbaren Schlag aus der Dunkelheit – es klang, als sauste ein Knüttel auf einen Stein – jählings getroffen, lautlos in die Farnkräuter niederstrauchelte.

Von den Übriggebliebenen aber wurde Emanuel weiter gegen den See geschleppt. Man wollte ihn, wie man sich vorgesetzt hatte, im Wasser des Sees auf eine besondere Weise taufen, derart zwar, daß eine Ernüchterung für ewige Zeit, wie man glaubte, unausbleiblich war. Aber zu dieser Taufe kam man nicht, oder wenigstens wurde mit Hilfe des böhmischen Josef die Absicht der Unfugstifter insofern umgekehrt, als diese selbst, und nicht ihr Opfer, die ernüchternde Taufe erdulden mußten.

Der böhmische Josef nämlich war plötzlich vor den verblüfften Rowdys in seiner erschrecklichen Häßlichkeit wie irgendein böser Dämon oder der Teufel selber aufgetaucht und hatte mit wenigen Griffen und Faustschlägen den armen Narren von seinen Quälern befreit: freilich war dieser kaum aus der Verklammerung vieler Hände losgerissen, als er bewußtlos zu Boden sank.

 

Auf diese Weise hatte denn die zunächst recht harmlose, wenn auch sonderbare Zusammenkunft armer, nach Erlösung hungriger, irregeführter Seelen ein überaus klägliches Ende genommen.

Die Sache wurde sehr viel belacht. Man nahm sie als eine Travestie des Allerheiligsten, die als solche freilich unbeabsichtigt und deshalb einigermaßen rührend war. Aber man nahm die Versammlung selbst auch, in anderen Kreisen, mit voller Entrüstung als Blasphemie: und in diesem Zusammenhang sprach man von jenem Überfall als von einer gesunden Reaktion der beleidigten christlichen Volksseele. Es gab aber in der nahen Kreisstadt eine gewisse Vereinigung, und zwar zählten sich einflußreiche Männer und besonders viele Frauen darunter, die auf ein tieferes religiöses Leben hinzuwirken unternahm, als es die Kirche bieten konnte: in dieser frommen Gemeinschaft aber wurden sehr bald auch Stimmen für Quint und seine Anhänger laut. Alles in allem geriet der Vorfall sehr schnell in Vergessenheit, denn damals hatten gerade der Kaiser von Rußland und der Präsident der Französischen Republik, auf einem französischen Kriegsschiff, eine Zusammenkunft, wobei sie gewisse Trinksprüche ausbrachten, durch die sich die ganze europäische Welt teils freudig, teils im entgegengesetzten Sinne beunruhigt fand.

Unter diesen Verhältnissen wurde es auch wenig beachtet, was in der Folge mit Emanuel Quint geschah, den man, aus einigen Wunden blutend, bewußtlos in das Haus seiner Eltern gebracht hatte. Die Mutter, die wahrhaft erschrocken war und deren mütterliche Liebe mit Weinen und Schluchzen lebhaft zutage trat, pflegte seiner mit eben der Sorgfalt und etwa ein wenig zärtlicher, als es in jenen Kreisen üblich war. Nach einigen Tagen kam ein Arzt, den das Gurauer Fräulein, das von dem Mißgeschick des armen Narren auf dem Wege über die Scharfs und Bruder Nathanael unterrichtet worden war, brieflich zu dem Besuche veranlaßt hatte. Er stellte fest, daß, ungeachtet vieler Hautschürfungen, auch eine Zerreißung von Blutgefäßen in der Lunge des Kranken vorhanden war, eine Verwundung, die ein heftiger Stoß oder Schlag verursacht hatte.

Nachdem der Arzt mit seiner Untersuchung fertig geworden war, riet er Emanuel und der Mutter Emanuels, die weinend neben dem ärmlichen Lager stand, eine Privatklage gegen die Täter einzureichen. Das war auch die Mutter Emanuels und sogar der Stiefvater willens zu tun: der Betroffene selbst aber weigerte sich. Er wollte von einer Klage nichts wissen.

Wiederum nach einigen Tagen holte man ihn unter dem schrägen Dach der elenden Rumpelkammer, wo er gelegen hatte, hervor, nachdem es schon dunkel geworden war, und brachte ihn in ein Schwesternhaus, das die Gurauer Dame gegründet hatte und aus eigenen Mitteln unterhielt. »Da dieser arme Mensch«, so waren ihre Worte gewesen, »nun leider nicht selber zu mir kommen kann, was bleibt mir übrig, als ihn zu holen?«

Drei Diakonissinnen und eine Art Oberschwester besorgten das kleine Krankenhaus, das in einem freundlichen Garten, nicht weit vom Rande des Waldes, gelegen war. Von Zeit zu Zeit kam das Fräulein selbst in einer mit Atlas ausgeschlagenen Landkutsche aus Gurau herüber, begleitet von ihrer Gesellschafterin, um sich persönlich von dem Gedeihen ihrer Stiftung zu unterrichten. Diesmal erschien sie genau am siebenten Tage, einem Montag, nach Emanuels Einlieferung.

Sie hatte in einem für sie reservierten Raum zunächst mit dem Arzt und der Oberschwester eine längere Aussprache, wobei die etwas verwachsene, kleine Dame nicht einen Augenblick stille stand, sondern in ihrer schwarzen Seidenrobe fortwährend durch das Zimmer rauschte: von einer Wand, mit dem Stiche des Ganges nach Emmaus, zu der anderen Wand, mit dem Bilde von Christi Himmelfahrt. Schließlich wurde sie zu dem Kranken geführt, den sie zunächst mit Neugier betrachtete.

Sauber gebettet und mit einer flanellenen Jacke über den mageren Schultern, die den Ansatz des langen Halses frei ließ, lag Emanuel Quint, den Rücken durch Kissen gestützt, im Bett. Er hatte auf einem gelben Holzstuhl zwei Exemplare der Bibel neben sich liegen, von denen, bräunlich, beschmutzt und abgegriffen, das eine sein altes Eigentum und also der Quell seiner Irrtümer war, das andere dem Schwesternhause gehörte, ja sogar dem Bett, das Emanuel innehatte; denn nach Ansicht dieser evangelischen Kreise und der Stifterin des christlichen Heims »Herr, hilf!« gehörte, wie leibliche Nahrung dem Körper notwendig ist, jeglicher Seele ihr Bibelbuch.

»Hier ist nun«, sagte der Arzt, »Ihre Wohltäterin.«

Die Dame schüttelte aber sogleich ablehnend, zwischen den schwarzen Bändern ihres Kapotthutes, lebhaft den Kopf. »Ich bin nicht hierhergekommen«, sagte sie, »um mich Ihnen als Wohltäterin präsentieren zu lassen, Herr Quint. Ich will mich nur durch den Augenschein überzeugen, ob es Ihnen einigermaßen besser geht. Was fällt Ihnen ein, Doktor?« fuhr sie fort, indem sie dem Arzt mit dem Finger drohte, wobei die lange, magere Hand mit einem Halbhandschuh aus schwarzer Spitze sichtbar ward. »Wenn wir Gutes tun, sollten Sie doch wahrhaftig wissen, als guter Christ, so haben wir gerade zur Not getan, was wir schuldig sind.« Sie kehrte sich hierauf zu ihrer Gesellschafterin, um dieser sehr langen und steifen Dame, aber so, daß es alle hören konnten, zuzuflüstern: »Ich finde, daß der Mann einen guten Eindruck macht.«

Jetzt begann der Arzt seinen klinischen Vortrag, wobei er, was die alte Dame zu lieben schien, die verschiedenen Narben der Wundstellen zeigte. Er klopfte auch, das Hemd des Narren beiseite schiebend, jene Partie der Lunge ab, die durch den Stoß gelitten hatte, dessen Spur als dunkler, in allen Farben des Regenbogens spiegelnder Fleck, auf der weißen Haut der rechten Brusthälfte, noch zu sehen war. Alles, was die rein psychische Erkrankung des Patienten betreffen konnte, war durch den Arzt zunächst aus seiner Behandlung ausgeschaltet worden. Er hatte es überhaupt, solange Quint unter seinen Händen war, nicht berührt.

»Meinen Sie«, hatte das adlige Fräulein während jener Besprechung, die dem Krankenbesuch voranging, den Arzt gefragt, »daß es dem Menschen schaden könnte, wenn ich mit Vorsicht das Gespräch auf jene unselige Schwäche bringe, die, wie es scheint, sein Verhängnis ist?« Dieser aber, der Arzt, hatte gelacht und ihr jeden Versuch in dieser Richtung anheimgestellt. Er hatte auch noch hinzugefügt, daß es nicht immer ganz leicht wäre, die fixe Idee und das Wahnsystem eines Paranoiakranken aufzudecken, da solche Kranken zuweilen, aus irgendeiner geheimen Ursache, mit großer Schlauheit und Intelligenz den Beobachter irrezuführen vermöchten. Er hatte sie darauf hingewiesen, wie Emanuel jetzt eben durch Preisgabe seines Wahns der Gotteskindschaft recht übel gefahren sei und vielleicht seine Überzeugung, er sei der Messias, deshalb für längere Zeit geheimhalten oder leugnen werde. Nun aber sah die Dame den Arzt mit einem besonderen Blicke an, ihn und auch die Gesellschafterin, und beide entfernten sich, weiterschreitend, unauffällig zu einigen Kranken des nächstfolgenden Zimmers hinein.

Schwester Hedwig aber schob einen Korbstuhl bis auf eine abgemessene Entfernung an Emanuels Lager heran, den das alte Gurauer Fräulein ablehnte, indem sie sich aber doch zu gleicher Zeit darauf niederließ.

Die Dame erzählte später oft, und auch einige Male hohen und höchsten Herrschaften, wie Emanuel damals, bei dieser ersten Begegnung, auf sie gewirkt hatte. Sie versicherte jedesmal dabei, es sei nicht möglich gewesen, diesem sonderbaren Menschen ohne Rührung, ohne Erschütterung, ja ohne ein leises Grauen ins Auge zu sehen. »Als ich zu ihm ging«, sagte sie, »war ich neugierig, als ich von ihm ging, wußte ich nicht, was mit meiner Seele geschehen war.«

 

Das Gurauer Fräulein begann ihr Gespräch mit Redensarten, wie sie in ähnlichen Fällen üblich sind. »Sind Sie zufrieden mit der Verpflegung?« fragte sie. »Sind Sie mit irgend etwas unzufrieden?« fuhr sie fort, als Quint zu der ersten Frage bejahend genickt hatte. Quint schüttelte nun verneinend den Kopf. Dann trat eine kleine Stockung ein. »Es ist empörend, wie diese rohen und schlechten Menschen Sie behandelt haben«, setzte sie dann ihre Rede fort. »Ich habe gehört, daß sich der Staatsanwalt bereits mit der Sache beschäftigt hat. Man sagt mir, auch Sie, Herr Quint, wären über diese Sache bereits vernommen worden. Wir leben in einem geordneten Staat! Wo sollte das hinführen, wenn Pöbelrotten ungestraft über friedliche Menschen herfallen dürften?«

Quint, der, die Hände gefaltet auf der wollenen Bettdecke, mit scharfgerichteten, aber niedergeschlagenen Augen zugehört hatte, erhob nun, mit einem langen Blick in das Antlitz der alten Dame, den Kopf, dann begann er, in einem gemessenen Tonfall und ohne jedwede Spur von Befangenheit:

»Was meinen Sie, wenn man die Lehre des Heilands, dazu sein Leben und Sterben recht verstanden hat und wenn man ferner nichts Besseres und Höheres in diesem irdischen Leben kennt, als seiner Lehre, seinem Leben und Sterben nachzufolgen, kann man dann wohl mit dem Vorgehen irgendeines Gerichtes, das aus menschlichen Richtern gebildet ist, einverstanden sein oder gar jemals ein solches anrufen?«

»Ich denke doch«, gab das Fräulein zurück. »Wo Obrigkeit ist, sagt unser Heiland, so ist sie von Gott verordnet, und jedermann sei ihr Untertan. Diese Menschen haben sich vergangen gegen Gott und die Obrigkeit, und darum müssen sie füglich bestraft werden.«

»Hat nicht«, sagte Emanuel, »der Heiland mitunter in einem gewissen Zusammenhange Worte gesagt, die in einem anderen Zusammenhange anders lauten und andres bedeuten? Was soll man glauben, was von drei Dingen das köstlichste ist: das von Menschenhänden niedergeschriebene Leben unseres Herrn, das irdisch gelebte Leben unseres Heilandes oder das himmlische Leben unseres Herrn?«

Die Dame meinte: »Das himmlische Leben.«

»So«, sagte Emanuel, »denke auch ich. Ich meine, daß in diesem Leben das schlackenlose Licht des Geistes gewesen ist; daß aber Schlacken dieses heilige Licht des Geistes in seinem zweiten, irdischen Leben schon verdunkelten: um wieviel mehr in diesem dritten Leben, auf den bedruckten Blättern eines Buchs, die etwas wiedergeben, was von Menschen erzählt, von Menschen erlauscht, von Menschenhänden niedergeschrieben ist. Oder sollte es Menschen geben, die da meinen, die Glorie, die den Sohn Gottes umstrahlt, stamme etwa aus diesem Buch? Es enthält vielmehr nur einen schwachen Abglanz seiner Glorie.«

Die Dame fand sich ein wenig beunruhigt, weil ihr dies alles auf eine bedenkliche Weise einleuchtete, und Quint fuhr fort:

»Ich glaube, daß dieses Wort von der Obrigkeit in einem gewissen Sinne unter die Schlacken zu rechnen ist. Jedenfalls ist es für Leute bestimmt, die außerhalb der Wiedergeburt, sowohl als Herrscher wie als Beherrschte, dem Reiche der Toten angehören. Ich aber gehöre diesem Reiche nicht an: mein Reich ist nicht von dieser Welt.«

Jetzt aber blickte das Fräulein plötzlich den Narren in Christo mit gespanntester Neugier an.

Sein Hemd stand offen. Die Muskeln spielten an seinem Hals. Die feinen Lippen öffneten sich unter dem rötlichen, unten gespitzten Bart und schlossen sich wieder ohne Strenge. Nicht weit vom Ansatz des Ohres pochte sichtbar ein Puls, desgleichen im zarten Geäder der bleichen Schläfe. Das Auge aber des Tischlerssohnes war weit, freilich mehr nach innen als nach außen, aufgetan. Und er fuhr fort:

»Mein Reich ist nicht von dieser Welt. In dieser Welt aber, wo der Lohn der Sünde zum Stachel des Todes geworden ist, ward die Kraft der Sünde zum Gesetz. Wer es fassen mag, fasse es. Ich aber stehe unter der Kraft der Sünde und also auch unter dem Gesetze nicht. Deshalb suche ich auch meine Ehre vor dem Gesetze nicht, sondern ich suche allein in mir die Ehre des, der mich gesandt hat.«

So war nun auf einmal das Gurauer Fräulein Auge in Auge jenem umfassenden Wahnsystem gegenübergestellt, an das sie nicht eigentlich recht geglaubt hatte: und da sie zunächst nicht fähig war, in die eigentümliche Art der Quintischen Dialektik einzudringen, schien dieser Wahn ihr anfangs noch ungeheuerlicher, als er tatsächlich war, zu sein. Natürlicherweise erschrak sie förmlich. Aber die heißen und kalten Schauer, die der frommen Dame gleichzeitig über den Rücken liefen, waren ihr angenehm. Ähnliche Sinneserregungen suchte sie und fand sie in der Art ihres religiösen Lebens sowie in ihrer philanthropischen Wirksamkeit, und ähnliche Wirkungen hatte sie oft – niemals jedoch die gleiche wie jetzt und mit solcher erschütternden Stärke – empfunden.

Denn Emanuel Quint erschien ihr im ersten Augenblick weder lächerlich noch bedauerlich, weder ein Narr noch ein Kranker zu sein, und der starke Eindruck, den er ihr machte und der sie unvorbereitet traf, konnte sich auch durch den Umstand nicht abschwächen, daß Quint sofort und ohne Umschweif auf seine religiösen Einbildungen zu sprechen kam. Es ging ihr in dieser Beziehung nicht anders, als es vielen ergangen war, die der Irrtum des sonderbaren Schwärmers in Fesseln geschlagen hatte. Die plötzliche Anmaßung eines Menschen, kein Geringerer als der Erlöser zu sein, betäubte sie, obgleich sie ebendie Anmaßung ablehnte: die Illusion der Heilandsnähe ward aber zugleich in ihr auf unerhörte Weise erzeugt und durch die Bescheidenheit genährt, womit der Narr in Christo seinen Irrtum zum Ausdruck brachte.

Zwar hatte Emanuel keineswegs die runde Behauptung aufgestellt, er sei der wiedererstandene Christ; aber dies und nichts anderes war, durch die letzten Worte des armen Hospitaliten, nach Ansicht des Fräuleins in vollem Umfange ausgedrückt, und ihr Kapotthut begann zu zittern.

»Nicht alles, was Sie gesagt haben«, erwiderte sie vorsichtig, »nicht alles ist mir ganz verständlich, lieber Herr Quint. Ich bin eine arme alte Frau, und mein Kopf ist niemals der allerbeste gewesen. In meiner Einfalt meine ich allerdings, daß die Obrigkeit Gewalt zu richten und Gewalt zu strafen hat. Ich kenne Sie noch zu wenig, Herr Quint. Ich kenne insonderheit die Geschichte Ihres Lebens und Ihrer Gotteserfahrungen nicht. Ich weiß wohl, daß geschrieben steht: ›Ich habe es den Weisen verborgen; den Ungelehrten, den Kindern und Unmündigen, denen, die arm an Geist und reines Herzens sind, dagegen zu wissen getan!‹ Ich weiß das wohl. Ich bin auch ganz erfüllt von dem, was der heilige Apostel Petrus geredet hat: ›Wir haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, darauf zu achten als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe . . . ‹«

». . . in euren Herzen!« ergänzte Quint.

»Jawohl«, fuhr sie fort, »aber es werden auch äußere Zeichen geschehen, wenn der Sohn in den Wolken zur Rechten des Vaters sitzen wird am Jüngsten Tag und am Jüngsten Gericht. Hüten wir uns, in Versuchung und Stricke und in verderblichen Irrtum hineinzugeraten.« Dies alles sprach die alte Dame mehr und mehr erregt und mit einem bebenden Herzenston.

»Gott ist ein Geist«, sagte Quint dagegen, indem er, nicht ohne eine leise begütigende Zärtlichkeit, seine Hand über die zitternden Hände der Dame gleiten ließ. »Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn mit dem Geiste und mit der Wahrheit anbeten. Denket nach, liebe Frau: Gott ist ein Geist! Die heiligen Menschen Gottes, wie Petrus sagt – und wahrlich, mehr, denn Petrus war, bin ich! –, sind überall. Solange die Welt steht, haben heilige Menschen Gottes geredet, getrieben von dem Heiligen Geist. Aber dasselbe Wort, gute Frau, dadurch das Licht ins Irdische scheinet, dasselbe Wort verdunkelt das Licht, und soweit nicht der Geist das Wort tötet, so weit tötet das Wort den Geist. Aber wenn heilige Menschen Gottes reden, so wissen wir alsogleich, wes Geistes Kinder sie sind. Gott ist ein Geist: so wissen wir, zu wem und von wem sie Vater sagen. Der Vater ist Geist, und die da wiedergeboren sind durch den Heiligen Geist, die allein werden ihn Vater nennen und werden Gotteskinder heißen. Nicht aber die leiblich Toten, leiblich Erweckten an einem Jüngsten Tag oder Jüngsten Gericht.

Ihr müßt nicht glauben«, fuhr Quint fort, »daß Gott ein Gott der Gestorbenen ist. Er ist, wie es der Heiland uns offenbart, ein Gott der Lebendigen, nicht der Toten! Wehe denen, die eine Sünde tun wider den Geist, die nie vergeben wird, indem sie ein Bild machen von dem Geist! indem sie einen irdischen König aus ihm machen! einen Zauberer! einen König, der in den Wolken thront, umgeben von geflügelten Geißelknechten mit feurigen Geißeln! einen Mann, der uns richtet und also weder haßt noch liebt, sondern unter dem Gesetze steht, dem aus Sünde geborenen Recht. Der uns kein Vater sein kann und sein darf, denn wo wäre je ein Vater zum Richter über Leben und Tod seiner Kinder gesetzt? Ein Vater liebt seine Kinder, denn seine Kinder sind sein Blut. Wir sind aber Gottes Blut, denn ›unser Vater‹ beten wir. Unser Vater richtet uns nicht! Zwischen ihm und uns ist weder Gerechtigkeit noch auch Ungerechtigkeit, sondern nur Liebe. Und keiner thront zu seiner Rechten, der mehr ist denn ich, des Menschen Sohn! Keiner thront zu seiner Linken, der mehr ist denn ich und irgendwer, der durch Jesum Christum wiedergeboren und in die Gemeinschaft des Geistes beschlossen ist. Was fürchtet ihr? Wehe denen, die da Lügen verbreiten, als wäre der Geist nicht Geist, sondern ein Kerkermeister ewiger Abgründe! Wehe allen, die da gekommen sind, die Welt zu foltern und zu martern durch den ›Geist‹! Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: ich habe die Pforten der Hölle aufgeriegelt, so stark ist die Kraft des Vaters in mir, es gibt keine Finsternis, in die Licht des Geistes nicht hinabdringen soll, es gibt keinen armen Schächer, den meine Liebe nicht befreit! Sie werden alle die Wahrheit erkennen, und ebendie Wahrheit wird alle frei machen. Was wartet ihr auf die Zukunft Gottes? Das Geheimnis ist offenbar! Gott ist nicht fern! Er ist nicht in einem fernen Lande! Gott ist hier! Gott ist bei uns! In mir ist Gott!«

Emanuel Quint hat diese für ihn so überaus bezeichnende Gedankenfolge späterhin oft entwickelt, und die Hartnäckigkeit, mit der er das tat, wurde als für eine bestimmte Krankheitsform seines Seelenlebens beweisend erachtet. Nicht so dachte die Geistlichkeit, die in derlei verwunderlichen Deduktionen nur die Gefahr für die Dogmen der Kirche herausspürte. Übrigens war diese Geistlichkeit später in zwei Lager geteilt: im ersten Lager sah man in dem Bestechenden, geradezu Einleuchtenden dieser Verstandesoperation und Betrachtungsart die Gefahr, im anderen Lager, das bei weitem zahlreicher war, nahm man sich nicht die Mühe, in die innere Logik dieser närrischen Weisheit einzudringen, oder auch, man vermochte es nicht. Hier tat man Quinten insofern unrecht, als man ihn schlankweg für einen bewußten Scharlatan und Betrüger nahm, der, einfach auf seinen gemeinen Vorteil bedacht, die Leichtgläubigkeit derer, die niemals aussterben, ausnutzte und sich, ähnlich wie zuweilen Hypnotiseure, Spiritisten und andere Tausendkünstler tun, zynischerweise – was allerdings noch nie dagewesen war! – geradezu mit dem Nimbus des Heilands breitmachte.

Ein Erzbetrüger dieser Art war aber der arme Narr in Christo nicht, und auch das Gurauer Fräulein hielt ihn, nachdem sich längst sein Geschick vollendet hatte, niemals dafür. Sie gehörte zu denen, die behaupteten, daß er höchstens ein irregeführter, ehrlicher Heilandssucher gewesen sei, und manchmal hat sie sogar in Gegenwart vieler die Worte gesagt: »Wer weiß, er war vielleicht ein Erleuchteter, den euere neunmal kluge Theologie nicht begriffen hat.«

Einstweilen griff sie jedoch nach dem Riechfläschchen! Die Worte Emanuels hatten sie ganz aus der Fassung gebracht. Sie empfand eine starke Erschütterung. Eine überaus tapfere Natur, die sie war, und mit gesunden Verstandskräften, ja sogar mit gesundem Humor begabt, hatte sie doch in sich, besonders auf religiösem Gebiet, einen gewissen Überschwang des Gefühls zu bekämpfen, der sie oftmals etwas bereuen ließ. So war es ihr jetzt, nach den Worten Quints, als umgebe sie plötzlich ein großes Licht. Es war ihr, als seien Schleier gefallen und ein letztes Geheimnis offenbart. Es war ihr, als habe sie bisher nur gleichsam mit tönendem Erz oder klingenden Schellen von Heilandsliebe gehört und empfinde nun plötzlich den ganzen vollen und wahren Glanz und Sinn dieser allumfassenden Heilandsliebe. Ihr war, als habe ein Strahl aus dem Herzen dieses fremden und doch so vertrauten Menschen ihr innerstes Wesen brennend berührt. Ihr schwindelte förmlich, ihr pochte das eigene Herz atemraubend bis an den Hals hinauf, und wenn sie sich nicht gewaltsam beherrscht hätte, so würde sie tatsächlich am Bette des armen Hospitanten weinend niedergesunken sein.

In diesem Augenblick aber rang sich ein leises Hüsteln aus der Brust Emanuel Quints hervor, und man konnte merken, wie sich ein an seinen Mund geführtes weißes Tüchelchen rot färbte. Gleichgültig schob er es zwischen Matratze und Bettstelle. Das Gurauer Fräulein erhob sich sogleich.

»Sie haben zu viel gesprochen, lieber Herr Quint«, sagte sie, mit einem ehrlichen Schreck und gleichzeitig über und über, wie ein junges Mädchen, errötend. »Ich hätte Ihnen gern noch lange zugehört, leider geht es nicht und darf ich es nicht. Unser strenger Herr Doktor macht mir Vorwürfe.«

Die Schwester Hedwig trat heran. Sie hatte eine Zitrone zerschnitten, die Scheiben auf einen Teller gelegt und reichte diesen Emanuel. Emanuel achtete ihrer nicht.

»So Gott will«, sagte die Dame weiter, »haben wir uns nicht zum letzten Male gesehen, Herr Quint!« Und somit reichte sie ihm die Hand, die jener nahm und in der seinigen ruhen ließ, wobei er die Gurauer Dame mit einem kaum merklichen Kopfnicken anblickte. Dabei fielen ihm rötliche Strähnen seines Haupthaars über das bleiche, eingesunkene, mit Sommersprossen bedeckte Gesicht, auf das sich ein Strahl der späten Morgensonne gelegt hatte, der durch weiße Gardinen in das Zimmerchen drang.

Wiederum zwischen dem »Gange nach Emmaus« und der »Himmelfahrt Christi« im Vorzimmer auf und ab rauschend, wiederholte die Dame oftmals in jenem weltlichen, resoluten Ton, für den sie bekannt war: »Ich sage euch, macht mir diesen armen Menschen gesund! Es wird nichts außer acht gelassen, Doktor, was irgend für ihn geschehen kann. – Ich werde euch Früchte und Wein schicken, ihr Mädchen!« so wandte sie sich an die Oberschwester und einige Diakonissinnen, die dabeistanden. »Tut euer Bestes! Schont meinen Rendanten nicht!«

»So haben Sie ihn denn wirklich zum Reden gebracht, gnädigstes Fräulein?« sagte der Arzt mit Verwunderung. »Es ist sonderbar. Er hat die ganze Woche über weder in meiner noch in der Schwestern Gegenwart irgendein religiöses Thema berührt.« Er habe nur geschrieben und gelesen, erklärte die Oberschwester, und außer auf Fragen, die seine Pflege betrafen, kaum geantwortet, auch Anreden nur mit einem müden und guten Lächeln, leise den Kopf schüttelnd, abgelehnt.

 


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