Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Einundzwanzigstes Kapitel

Es ist schwer zu sagen, warum der Meister dieser acht Jünger bei ihrem Erscheinen in Ohnmacht fiel. Nehmen wir an, es sei aus Ursache großer und widerstreitender Erregungen und aus Übermüdung geschehen. Jedenfalls dauerte Quintens Bewußtlosigkeit beinahe eine Viertelstunde lang. Bevor noch Kurt und der junge Benjamin den Vorfall richtig begreifen konnten, hatten sich die neuen Ankömmlinge um Quintens Stuhl auf die Knie geworfen und hatten mit ächzenden Lauten, ja weinend, ihm Hände und Knie geküßt. Dann bemerkten sie, daß er bewußtlos war. Und nun hoben sie ihn, so leicht wie ein Kind, vom Tisch, um ihn, unter einem tiefen Schweigen des Grauens, auf einem langen, geblümten, altväterischen Sofa an der Schmalwand des Zimmers auszustrecken.

Es genügt nicht zu sagen, daß jeder der Männer in diesem Augenblick einem Vater glich, der sein einziges Kind zu verlieren fürchtet. Das Verhalten des einzelnen unter ihnen ähnelte in Bestürzung und törichter Ratlosigkeit vielmehr dem Betragen einer Mutter, die das Kind ihres Herzens im Leben zurückhalten will, das sie in den unerbittlichen Händen des Todes sieht.

Als Emanuel, dem Benjamin Glaser die Schläfen, die noch blutrünstig waren, mit Kölnischem Wasser gerieben und dem der Förster, die herzugelaufene Försterin und die Magd nasse Kompressen auf die Brust gelegt hatten, – als Emanuel wieder erwachte, schien er im Geist noch fern von jener Umgebung zu sein, in der er sich nach der Wahrheit befand. Seine Augen waren nach oben gerichtet, und auf seinem Gesicht lag der Widerschein des Erlebens einer fremden und tiefen Glückseligkeit.

So lieblich war dieser Ausdruck des Glücks und das kindliche Lächeln um Quintens Lippen, daß alle, die um ihn standen, es sehen mußten und jeden, bis herunter zur Magd, eine tiefe Rührung ergriff.

Endlich schien der Bekenner Emanuel wenigstens teilweise wieder dort, wo sein Körper war, nämlich in dem noch immer sonnigen Zimmer der Försterei, mit der Seele zu sein. Er blickte lächelnd von einem zum anderen, betrachtete die Äpfel, die Kaffeetassen auf dem länglichen, weißgedeckten Tisch, schickte den Blick über die Rehgehörne und harmlosen bunten Bildchen, Jagdszenen darstellend, längs der Wände des Zimmers herum, horchte, wie wenn er es nie gehört hätte, dem endlos schmetternden Triller, mit dem ein Harzer Roller, in einem unteren Zimmer, das Haus durchdrang, und streckte dann still beide Arme aus, um jedem der Brüder die Hand zu reichen. Dies tat er auf eine den Brüdern an ihm neue Art und Weise, unendlich innig und liebevoll.

»Wißt ihr, liebe Getreue meiner Seele« – er hatte sie niemals bisher mit einem ähnlichen zärtlichen Worte genannt –, »wißt ihr, wo ich in diesen hunderttausend Jahren, die ich fern von euch war, gewesen bin?« Als sie verneint hatten, schwieg er lange. »Ich war in dem ersten Himmel«, sagte er dann, »tief! tief! Ich war in dem zweiten Himmel, tiefer tief! Ich sage Worte. Aber was ich durch die Gnade des Vaters dort in der tiefen Tiefe erfahren habe, davon können Worte nichts aussprechen!«

Auf dem Hausflur sagte zu ihrem Manne die Förstersfrau: »Wenn einer so spricht, der muß bald sterben!« Sie erzählte dann: ihrem Großvater und ihrem Vater, beiden, hätte Gott kurz vor ihrem Tode ebenfalls schon das Paradies gezeigt. Und wem dies geschehe, wer eines Vorschmacks der ewigen Seligkeit gewürdigt werde, dessen letztes Stündlein müsse schon vor der Türe sein.

Emanuel hatte sich aufgerichtet. Und wie er mit seinen länglichen, sommersprossigen Händen, die für harte Arbeit nicht gemacht noch durch sie verdorben waren, erst Anton und Martin Scharf, hernach dem Schmied John, dann dem Schneider Schwabe und den übrigen zärtlich streichelnd über die struppigen Köpfe fuhr, fingen sie alle rettungslos und nicht anders als alte Weiber zu flennen an.

An diesem Tage wurde der Bund dieser Menschen in Wahrheit erst zusammengeschweißt, und es hatte den Anschein, als wären jetzt erst unter ihnen die Quellen der Liebe aufgebrochen.

Quint war vom Sofa emporgesprungen. Er sagte, nie habe sein Geist so tief und so herrlich ausgeruht, was den Förster zu einer Bemerkung veranlaßte, die er seiner Frau gegenüber tat und worin er ihre trübe Ahnung mit der heiteren Behauptung niederschlug, das gute und reichliche Essen und Trinken möge die einzige Ursache der Himmelfahrt des Miltzscher Heilands gewesen sein.

Wie dem auch sei, Quint winkte den Brüdern, reichte dem jungen Glaser und Kurt die Hand und war im Begriff davonzugehen, als Nathanael Schwarz, der ihn lange mit brennenden Augen angesehen, plötzlich den reinen Toren an sich riß und in beide Arme schloß. »Ich verstehe dich nicht«, sagte er, »ich begreife dich nicht, aber Gott wird eine Seele wie die deine, die zwar verirrt ist, doch ohne Falsch, nicht in der Irre verkommen lassen.« Damit küßte er Quint, nahm seinen Hut und rannte davon.

 

Es begann zu dunkeln, und bald nachdem Nathanael Schwarz gegangen war, fanden sich Benjamin Glaser und Kurt Simon allein geblieben. Sie hatten beide den Eindruck gehabt, als wenn nach dem Eindringen der bäurischen Rotte Quint nicht eigentlich mehr ein Auge für sie gehabt hätte. Gerüchtweis war ihnen das Vorhandensein eines an Quint gebundenen Jüngerkreises zu Ohren gekommen. Weil aber der Meister nie, auch nicht zu Kurt Simon, von ihnen gesprochen hatte, nahmen sie das Gerücht für eine bloße grundlose Nachrede hin, bis ihnen, in Gestalt der Talbrüder, die Wahrheit vor Augen trat.

Man ist nicht gewohnt, Leute aus schlichtem Stande anders als bei ihren Geschäften oder von ihren Geschäften reden zu hören. Ein Schmied, ein Kätner, ein Schneider, ein Handelsmann der breiteren Volksschichten, besonders in vorwiegend protestantischen Ländern, wird selten, außer mit kurzen, sarkastischen Worten, ein Verräter an seinem Innenleben sein, das er mit eifersüchtiger Angst verbirgt. Um so überraschender und auch fremdartiger war der Eindruck dieser weichmütigen Schwärmer, die dagegen so grobe Knochen und Arbeitsfäuste hatten, und besonders des kernigen Schmiedes John, der die Jacke umhängen hatte und dessen über die Arme heraufgestreiftes und über der Brust offenstehendes Hemd blaue Tätowierungen sehen ließ.

Es war das Gemisch von Brutalität und einer fast läppischen Empfindelei, was den Jünglingen auffiel und worüber sie, beim Glase Wein allein geblieben oder, wenn der Förster hinzutrat, auch mit ihm, noch lange ihre Ansichten austauschten. Sie sahen und fühlten wohl, wie hier eine rätselhafte Kraft wirksam war, wurden aber selbst nur teilweise von ihr angezogen, während viel Fremdes und Abstoßendes für sie im Schlisse des ganzen Erlebnisses lag. Eines stand fest: es war ein Krampf und ein Wahn der Enterbten, und in Quinten lag ein Zug zum Martyrium, der auch in diesen jungen Seelen vorhanden war. Darum hatte die Anziehungskraft des undurchschaubaren Reformators, der ihnen abwechselnd lächerlich oder verehrungswürdig, verächtlich oder bewundernswert, gemein oder göttlich schien, noch immer nicht nachgelassen und bewirkte, daß beide junge Menschen den Weg des Narren noch mehrmals kreuzten.

 

Quint selber, nachdem er das Forsthaus verlassen hatte, trat an jenem Abend mit seinen Jüngern jene lange Wanderung an, die, wenn irgend etwas in seinem Leben, eine gewisse Denkwürdigkeit auszeichnet. Er sagte den ungeduldigen Bürgern des kommenden Tausendjährigen Reichs, die ihn eigentlich in die Bahn seines Schicksal hineingedrängt hatten, er sagte ihnen zum Anbeginn, wie es nun seine Hoffnung wäre, daß sie sich bis zu dem Tage, wo alles geschehen würde, was er voraussehe, nicht mehr trennen würden. Er fuhr fort, sie zu streicheln, abwechselnd jedem im Gehen die Hände zu reichen und sie zu liebkosen.

Nach einiger Zeit begann eine milde, unerhört reine und ruhighelle Vollmondnacht. Da ersuchte er seine Anhänger, sie möchten ihm immer von jetzt ab, sofern er nichts anderes bestimme, im Gehen eines Steinwurfs Weite den Vorsprung lassen. Und so geschah es. Er blieb ihnen, einsam, meist in dieser Entfernung voran. Sooft er stillstand, blieben auch seine Jünger stehen, wie denn überhaupt von nun an ein Gehorsam bis zur Unmündigkeit ihr Glück und ihre Genugtuung ward.

In ihrer Ordnung waren sie bis in die Nähe des Miltzscher Schlosses gelangt, dessen erleuchtete Bibliothek samt dem Speisesaal – da die Gurauer Dame gekommen war – mit vielen hohen Fenstern durch die Bäume des Parkes schimmerte. Ungesehen und unbemerkt zog der ehemalige Günstling und Narr in Christo, Emanuel Quint, durch die verlassenen Wege des Parkes längs des stillen Sees, in dem er zu baden pflegte, dahin. Schweigend folgten ihm seine Begleiter. Da sahen sie, wie er stillestand und wie ein Schwan und nachher ein zweiter, glänzend weiß, aus dem dunklen Teile der Spiegelfläche in jenen hellen, darin sich der Mond und der Himmel spiegelte, zu ihrem Meister herübergerudert kam. Sie sahen, wie er die Tiere fütterte. Quint winkte den Brüdern und sagte halblaut: »Sie wissen noch nicht, daß ich geächtet bin.

Aber des Menschen Sohn«, fuhr er fort, »war von jeher von seinen Brüdern und Schwestern verachtet und von seinen Nächsten verfolgt. Er muß auch jetzt noch verachtet, geknechtet und geächtet sein.«

Furchtlos ging er mit seinen Jüngern an dem von Stimmengewirr erfüllten Schlosse vorbei, durch ein Mauerpförtchen in das Bereich des Nutzgartens hinein, wo ein unendlich langer, schnurgerader Weg durch verpackte Rosenstöcke, Johannisbeersträucher und gedüngte Beete führte, der im Mondschein gleißend vor ihm und den ängstlich flüsternden, leise tretenden Jüngern lag. Diese sahen nach einiger Zeit, wie Emanuel wiederum stehenblieb und lange nach einem von Efeu dicht übersponnenen Giebel blickte, aber es war nicht die Seite des Hauses, darin sein eigenes Zimmer, sondern die andere, in der Ruth Heidebrands kleines, reinlich gehaltenes Gemach gelegen war.

Die Jünger hörten den Meister aufseufzen.

Gleich darauf stürzte mit Gebell ein Hund durch die Haustür in die Tageshelle des Mondes heraus. Er schwieg aber bald und begann zu wittern. Danach war er mit wenigen langen Sätzen bei Quint, der in ihm sogleich einen alten, halbblinden Pudel erkannt hatte, ein armes Tier, das, von allen vernachlässigt, lange Zeit sein besonderer Freund und treuer Begleiter gewesen war. Die Begrüßungen nahmen von Seiten des Pudels die überschwenglichsten Formen an, und es war nicht leicht, ihn am Ausgang des Gartens loszuwerden. Noch lange hörten sie sein klägliches Winseln hinter der Gittertür.

Emanuel hatte seine Begleiter um den verschlossenen Gutshof langsam einmal herumgeführt, in dem die von ihren Ketten befreiten Wachthunde gleich Wölfen herumfuhren. Er nahm dann den Weg zwischen den flachen Feldern gen Dronsdorf hin, wo Meister und Jünger durch eine weite Bresche der Mauer in den Kirchhof eindrangen. Hier verweilte Quint in tiefem Nachdenken, während das Käuzchen schrie und das Mondlicht auf den enggedrängten, eingesunkenen Grabsteinen gleißte, wohl eine halbe Stunde lang. Das einzige, was er in dieser Zeit, und zwar beim Verlassen des Kirchhofes, sagte, war: »Es gibt keine Gräber, außer die da wandeln, sprechen und handeln!«

Wenige Augenblicke später traten Emanuel und die Seinen furchtlos in das kleine Höfchen der Dronsdorfer Schule ein, das im Sommer fast ganz durch den Schatten eines großen Nußbaumes, der jetzt kahl war, bedeckt wurde. Das Haus, dessen Bewohner längst zur Ruhe gegangen waren, schien selber in tiefen Schlaf versenkt. Hier nahmen die Wanderer, Quint auf dem Fundamente des Schwengelbrunnens sitzend, kaum längeren Aufenthalt, als bis die Schloßuhr im nahen Park ihre zwölf langsamen Schläge vollendet hatte. »Ich sehe dies alles zum letztenmal!« sagte, wie entschuldigend, Quint, als sie wiederum auf der Dorfstraße dahinschritten.

Wortlos und mit kräftigem Schritt wurde von jetzt ab die Wanderung fortgesetzt, Quint voran, die Seinen im Abstand hinterdrein: und sie wagten es nicht, nach dem Ziele zu forschen. Als sie einige Dörfer passiert hatten, stand Emanuel einmal und dann nach einiger Zeit ein zweites Mal mitten im Lauf und mitten im Wege still und schien nicht zu merken, wie seine Begleiter ihm nahe kamen und sich beunruhigten. Als Martin Scharf den Eindruck gewann, Quint horche in die Stille der Nacht hinein, faßte er sich ein Herz und trat an seinen Meister mit der Frage heran, was ihn beunruhige. Worauf er nur diese Worte: »Der Ruf! Der Ruf!« in geheimnisvollem Tone zur Antwort bekam.

Der Mond verblaßte. Im Osten zeigte eine erste schwache Röte das wiederkehrende Licht des Tages an, als die kleine Genossenschaft der armen Törichten, wie man sie nennen kann, sich in einen etwas hügelig gelegenen Marktflecken hineinbewegte. Hier winkte Emanuel erst Martin, dann Anton Scharf heran. Er sagte zu Martin: »Ich habe ein Anliegen. Ich möchte meinen Bruder Gustav« – gemeint war der Zwölfjährige – »noch einmal wiedersehen. Du wirst gehen und wirst ihn zu mir bringen!« Und er bezeichnete ihm als Ort der Wiederbegegnung, wo er auch den Knaben zu sehen wünschte, Breslau und das Gasthaus zum Grünen Baum.

Sein Wort war Befehl. Es gab in der Seele des ehemaligen Webers, die in schwerer Betäubung lag, allbereits nur noch blinden Gehorsam, ohne jeden Gedanken an Widerspruch. So müde und abgeschlagen er sein mochte und so schwierig, bei dem Charakter des alten Quint, – so ungewöhnlich sein Auftrag auch war, begab er sich doch sogleich, nachdem er die Kasse, die er führte, an seinen Bruder gegeben und selbst nur einen kargen Zehrpfennig zurückbehalten hatte, auf die Wanderung.

Er hatte kaum seinen Abschied genommen, als Quint sich auf einer Brückenmauer angesichts des wie ausgestorbenen Fleckens niederließ und zu Anton Scharf etwa dieses sagte:

»Siehst du die Kirche?« Er wies mit dem ausgestreckten Arm auf eine höher und ziemlich am Rande des Städtchens gelegene, nach ihrer Bauart zu schließen und nach den Kruzifixen, die in der Nähe errichtet waren, katholisch geweihte Kapelle hin. »Gut! Du siehst in der Nähe ein kleines Haus. Es hat nur ein Erdgeschoß und, außer denen im Dach, vorn sechs Fenster. In dieses Haus werdet ihr mich hineingehen sehen, und ich werde darin vielleicht eine halbe Stunde und länger verweilen. Sollte ich aber auch einen Tag darin verweilen, so geht in die nächste Herberge und wartet auf mich.«

Noch während er sprach, hub das kleine Meßglöckchen ebenjener Kapelle, von der er gesprochen hatte, hurtig zu bimmeln an.

Natürlich schien diese Sache den Begleitern des armen Quint besonders geheimnisvoll. Sie hing mit gewissen häßlichen Briefen zusammen, die Quinten sein Stiefvater hatte zugehen lassen, und mit anderen, die seine Mutter und er gewechselt hatten. Es war in der Gärtnerei bekannt, daß Emanuel von einem kriechend freundlichen Manne aus dem Volke, der als sein Stiefvater bezeichnet wurde, eines Tages besucht worden war. Als er, wahrscheinlich mit leeren Händen, davonging, war dieser Mann nicht mehr kriechend und demütig, dagegen um so mehr dreist und aufgebracht. Bald darauf waren offene Karten mit Unflätigkeiten und ein Brief mit einer beleidigenden Aufschrift für Emanuel eingelaufen. Was in dem Briefe gestanden hatte, wußte, trotz des Vertrauens, das Quint ihr mitunter entgegenbrachte, nicht einmal Frau Heidebrand, die andrerseits doch bemerken konnte, wie Quint durch den Inhalt des Briefes besorgt und beunruhigt war.

Um es nun mit zwei Worten zu sagen: das letzte holprige Schreiben der Mutter hatte, auf Drängen ihres Sohnes, den Namen eines Marktfleckens und eines katholischen Pfarrers genannt, beides Namen, die ihm bekannt waren. Er hatte als Kind, wie er sich erinnerte, in Begleitung der Mutter zwei Krüge mit Erdbeeren in das Haus des Pfarrherrn gebracht und war mit einem Paar Stiefel, einem Anzug und einer Mütze dafür belohnt worden. Noch heute konnte er aber nur mutmaßen, in welcher Beziehung dieser Mann zu seiner Mutter und zu ihm selber stand, da irgend etwas die Mutter, ja selbst den rücksichtslosen Stiefvater an der restlosen Offenbarung der nackten und vollen Wahrheit hinderte.

Seiner Absicht gemäß trat der Narr in Christo nach einiger Zeit – der Pfarrer war eben vom Messelesen zurückgekehrt – in den Flur des Pfarrhauses, und seine Anhänger sahen noch, wie er mit einer Magd ins Gespräch geriet. Durch diese Magd wurde hernach, mit einem flüchtigen Blick voll Mißtrauen, der von den in gemessener Entfernung wartenden Jüngern aufgefangen wurde, die schwere Haustür ins Schloß gezogen und der Schlüssel herumgedreht.

 

Die ehemaligen Talbrüder hatten auf der Mauer am Rande einer wohl hundertstufigen Steintreppe, die zur Kapelle führte, im grauenden Morgen erheblich fröstelnd, Platz genommen. Einige alte Weibchen, die nach der Messe noch eine Weile gebetet hatten, stiegen langsam und hüstelnd, Stufe um Stufe, die Treppe herab. Die Wartenden sahen, wie in einigen Zimmern des Pfarrhauses Licht gemacht wurde und wie der Schatten des wohlbeleibten Pfarrherrn, abwechselnd mit dem Schatten Emanuel Quints, über die heruntergelassenen weißen Rouleaus der Fenster ging.

Noch lag der kleine Marktflecken, in die Hügelsenkung hinein verbreitet, wie von seinen Bewohnern verlassen und jedenfalls in tiefer Verschlafenheit. Im Osten funkelte jener Stern mit vollem Glanz, der die Sonne verkündet. Es war während der langen Wanderung allerlei Abgerissenes unter den Jüngern oder Genossen Quints geflüstert worden. Man würde indessen fehlgehen, wollte man annehmen, daß ihre Meinungen und Vermutungen, gegen die Tage der Talmühle gehalten, sich im wesentlichen gewandelt oder an Überspanntheit irgend eingebüßt hätten. Soviel ihnen Quint auch immer von einem inneren Himmelreich gesprochen und versucht hatte, sie von der grob-materiellen Genugtuung durch einen Weltengerichtshof, durch einen Kerker für Gottlose und durch ein Tausendjähriges Reich auf Erden in Saus und Braus, dessen Herzöge sie sein wollten, abzubringen, herrschte dennoch in ihnen, so stark wie nur je, diese und keine andere Vorstellung. Und wie sie jetzt untereinander sich mit Schwatzen die Zeit vertrieben, war es ihnen weniger als irgendwann zweifelhaft, daß Quint, der sich ja nun öffentlich überdies als den Heiland bezeichnet hatte, der heimliche König des nahenden Zions und also des Tausendjährigen Reiches sei und sie selbst seine nächsten Teilhaber.

Sie sahen nach einiger Zeit Quint und den Pfarrherrn aus dem Hause treten – dieser war ein sechzigjähriger, noch sehr stattlicher Mann – und gegen den Platz, wo sie saßen, heranschreiten. Als sie nahe gekommen waren, blickte der Pfarrer, der vielleicht innerlich nicht so ruhig war, als er zu scheinen beabsichtigte, mit festem Blick die Wartenden an. Nach alter Gewohnheit erhob sich Schwabe mit einem »Gelobt sei Jesus Christ!«, worauf der Pfarrer »In Ewigkeit, Amen!« antwortete. Er trug den üblichen schwarzen Priesterrock, aus dessen Tasche er, scheinbar gelassen, jetzt eine Schnupftabakdose hervorholte. Er bot Emanuel Tabak an und schnupfte selber, als dieser ablehnte.

»Wer sind diese Leute?« fragte er dann.

Quint sprach:

»Es sind die Mühseligen und Beladenen!«

Der Pfarrer, der, wie man jetzt wohl merken konnte, eine heimliche Angst vor Quinten empfand, blickte ihn schnell und aufmerksam von der Seite an: dann wies er, wie um abzulenken, mit einer gleichsam segnenden Handbewegung in die Landschaft hinein, während seine Wirtschafterin befremdet und forschend aus dem geöffneten Küchenfenster herüberschaute. Die Hähne hüben von allen Seiten zu krähen an.

Der Pfarrer sprach: »Von hier aus kann man die gesegneten schlesischen Auen bis zum Zobten und bis zum Streitberg, ja bei klarem Wetter sogar bis zur Schneekoppe übersehen.« Quint gab zur Antwort: »In einem Gefängnis nahe bei jenen fernsten Bergen bin ich zum erstenmal mit Christo Jesu ein Leib und ein Geist geworden.«

»Hm, hm«, sprach der Pfarrer, »hm, hm! So, so!«

Er fuhr dann fort, nachdem er einige von den hundert Stufen zur Kapelle behäbig hinaufgestiegen war: »Wohin wirst du dich von hier wenden, mein Sohn?«

Emanuel gab eine zögernde, ungenaue Antwort, die etwa so lautete:

»Ich schreite in einem doppelten Wandel. Meinet Ihr, wohin ich nach dem Leibe schreite, so ist es dorthin, wohin ein jeder nach der Geburt im Fleisch schreiten muß: nämlich Golgatha! Golgatha heißt die Schädelstätte. Aber ich schreite nicht wie das Lamm, verbundenen Auges zur Schlachtbank geführt, sondern mit fröhlichem Herzen schreite ich, offenen Auges, freiwillig.«

Der Pfarrer sagte:

»Aus welcher Ursache hättest du wohl solche schwere Todesgedanken, mein Sohn? Willst du dein Herz und dein Gewissen erleichtern? Obgleich du nicht in unserer Religion erzogen bist, wenn du beichten willst, komm hinauf, komm in die Kirche zu mir.«

Quint fuhr in seinen Gedanken fort:

»Meine Seele ist leicht! Mein Herz ist voll Frohlocken, weil die Welt und weil der Tod durch den Vater in mir überwunden ist! Ja, ich habe die Welt überwunden!« – Wieder traf Quinten des Pfarrers Seitenblick. – »Des Menschen Sohn aber, sofern er im Geist wandelt, ist nichts Geringeres als ein Kind, überall daheim im Hause des Vaters, überall geborgen im Reiche seines Königs und Herrn, überall fremd in dieser Welt.«

Alles dies hörten die Talbrüder, die langsam Quint und dem Pfarrer von Stufe zu Stufe nachstiegen.

Der Pfarrer sagte:

»Man könnte vielleicht, wenn du meinem Rate folgen wolltest, da du zu körperlicher Arbeit keine Neigung zu haben scheinst, dir noch jetzt irgendeine Möglichkeit im Bereich unserer Kirche eröffnen. Deinen geistigen Kräften fehlte vielleicht bis jetzt zu gedeihlicher Arbeit nur das klarbegrenzte, wirklich fruchtbare Ackerfeld.«

Der Pfarrherr, der mit seiner Bemerkung schwerlich ganz unrecht hatte, schien durch Quinten befremdet, beunruhigt, aber auch angezogen zu sein. Ja er machte sich im geheimen Vorwürfe, daß er mancherlei in der Vergangenheit unterlassen hatte, was er vielleicht zu tun doch verbunden gewesen wäre und was möglicherweise einigen Segen gezeitigt hätte. Hatte doch diesem mit Schlapphut, offenem blauem Hemd, weitem Jackett und weitem Beinkleid aus Manchestersamt wie ein etwas phantastischer Gärtner wirkenden Mann höchstwahrscheinlich selbst nur der sorgsame Gärtner gefehlt.

Quinten war ein Band seiner derben Schnürstiefel aufgegangen. Sogleich stürzten sich, als er selbst es bemerkt hatte, zum Staunen des Pfarrers, einander wegdrängend, alle sieben Begleiter darauf, jeder leidenschaftlich bemüht, der besonderen Ehre, dem grotesken Menschen das Schuhband zu binden, vor den anderen teilhaftig zu sein.

Quint stand still, wie wenn er an solche Dienste gewöhnt wäre, und fing von neuem, aber nur seine eignen Gedanken weiterspinnend, als ob er die Worte des Pfarrers gar nicht gehört hätte, zu sprechen an.

»Ich bin ein König! Ich bin der Herr der Welt, der die Welt überwunden hat! Denn ich und der Vater, ich und der König, ich und der Herr sind eins. Wer es fassen mag, fasse es.«

»Wer ist denn der König und Herr, von dem du sprichst?« fragte der Priester, der nun wieder einen armen Irrenhauskandidaten in seinem Besucher zu sehen schien. – »Der Herr ist der Geist!« sagte kurz Emanuel.

Sie waren inzwischen mitsachtem oben vor der offenstehenden Kirchtür angelangt. Sie traten ein, in den heiligen Raum, der noch dunkel war, soweit er nicht durch die Ewige Lampe, die wie ein Blutstropfen über dem Hauptaltare hing, und durch einige Opferkerzen auf einem eisernen Ständer spärlich beleuchtet wurde. Der Schneider Schwabe bekreuzte sich. Wie üblich, war über dem Altar und dem Altarbilde, das die Geburt zu Bethlehem darstellte, die Taube des Heiligen Geistes, in einem goldenen Strahlenlimbus herniederflatternd, angebracht. Man sah auch Mosen – oder war es Gott der Vater? – als eine weiße Barockfigur mit vergoldetem Chiton, sitzend und das Weltszepter in der Hand. Hauptsächlich aber trat überall die Gestalt des Gottessohnes aus dem Dämmer der Dunkelheit: hier als Hirt, das Lamm auf dem Arm, die Fahne mit dem Kreuzessymbol in der rechten Hand, dort überlebensgroß, an ein Kreuz genagelt, und ferner in einer Anzahl verschiedenartiger Kruzifixe, diese in Marmor, jene in Holz oder in Metall. Wie üblich, waren die Altäre mit spitzenumrandeten Altardecken, mit Papierblumen, Vasen, Bildchen, Leuchtern und Kerzenstöcken ziemlich trödelhaft ausgeschmückt. Man sah in einer besonderen Nische das falsche Grab irgendeines Heiligen. Auf einem Altar, nicht weit davon, stand ein metallener Reliquienschrein, der ein Knöchelchen aus dem Skelett irgendeines vor mehr als tausend Jahren gestorbenen Kirchenmannes enthalten sollte. Auf dem Hauptaltar leuchtete das mit edelsteinartig bunten Glasstücken geschmückte Ziborium.

Alles dieses nahm der seltsame Morgenbesuch des Pfarrers, nahmen Meister und Jünger, unter Führung des jovialen Klerikus, in Augenschein. Diese Vormorgenstunden erschienen später allen, mit Ausnahme Quints, wie etwas, von dem sie nicht wußten, ob es wirklich erlebt oder ob es die Einbildung überreizter Nerven, ob es ein Traum oder eine Erzählung war.

Quint sagte plötzlich: »Gott ist ein Geist, ihr sollt euch kein Bild machen!«

»Schweig still, mein Sohn«, gab der Pfarrer ungehalten zurück, »vergiß nicht, daß du in einem Gotteshause bist!«

»Soll man in einem Gotteshause nicht für Gott Zeugnis ablegen dürfen?« sagte Quint.

»Vor allen Dingen sollst du im Hause Gottes bescheiden, demütig und ehrfürchtig sein!«

Diesen Worten des Pfarrers gab Quint zur Antwort: »Meint ihr, das sei in Wahrheit ein Gotteshaus, was um eure Schmach und um einen Galgen errichtet ist? Gott thronet weder auf Leichen noch auf Schädeln. Habt ihr aber Gott ans Kreuz geschlagen, die ihr Gotteskinder heißt, so nehmt ihn herab!«

Der Pfarrer sprach: »Weißt du nicht, daß Jesus vom Kreuze herabgenommen, begraben, von den Toten auferstanden und gen Himmel gefahren ist?«

»Nein!« sprach Quint. »Hättet ihr wenigstens«, fuhr er fort, »euren alten Adam gekreuzigt, hättet ihr ihn, samt dem Galgen, daran er hing, in ein Haus gesetzt, und hättet ihr beides bis in die Fundamente mit Feuer verbrannt!«

Der Pfarrer sprach: »Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht.«

Quint dagegen:

»Ehe man nicht in eure Folterkammern Gottes die Brandfackeln werfen wird, so daß sie vertilgt werden von der Erde, bis man die Stätte nicht mehr erkennt, wo sie gestanden haben, werdet ihr Gott täglich hinrichten.«

»Mein Sohn«, sprach der Pfarrer mit halber Stimme, »solche Gedanken sind nicht bloß närrisch: sie sind verbrecherisch.«

»Aber es muß die Zeit kommen«, fuhr der Tor in Christo mit Härte fort, »wo man Gott weder auf diesem noch auf jenem Hügel, weder auf diesem noch auf jenem Berge, noch in diesem oder in jenem Hause, noch in dieser oder in jener Kirche, weder in dieser Kathedrale noch in jenem Dom anbeten wird, sondern allein im Geist und in der Wahrheit.«

Mit diesen Worten fiel im Dunkel des Raumes ein Geräusch vieler harter Schläge zusammen, deren Ursache, wie sie bald von einem stürzenden Gefäß, dem Geklirr eines auf die Steinfliesen fallenden Metalleuchters und dem Klingklang von Porzellan und Glasscherben begleitet wurden, dem Pfarrer so wenig wie den Begleitern Quints sogleich deutlich ward. Dann freilich war nicht mehr zu verkennen, daß der persönliche Wahn des Narren einen tobsuchtartigen Ausbruch genommen hatte und er mit seinem derben Schäfer- oder Gartenstock wie rasend unter die heiligen Gegenstände auf den Altären schlug.

»Mensch, hebe dich weg«, schrie der Pfarrer, sprang hinzu und suchte die Arme des Tobenden festzuhalten. »Fluch über dich! der du ein entsetzlicher, gottverworfener Kirchenschänder bist!«

»Ich bin Christus!« schrie dagegen Emanuel laut, ja gewaltig, so daß es von allen Gewölben widerklang. »Ich sage dir« – und er schlug mit einem mächtigen Schlage das Standkreuz des Hauptaltars herunter –, »dies ist kein Bethaus, sondern es ist eine Mördergrube!«

Jetzt hatte der Pfarrer, hatten die Jünger den wütenden Schwärmer und Bilderstürmer angepackt, und nachdem im Dunkel der hallenden Kirche ein längeres, stummes Ringen sein Ende erreicht hatte, schien auch der Kirchenschänder gesättigt zu sein.

»Geh! Laß dich nie wieder blicken! Geh! Du bist vom höllischen Dämon besessen! Geh! Gott straft mich durch dich! Geh! Ich befehle es dir!«

Diese Worte des Pfarrers, mit starker, befehlender Stimme gesprochen, duldeten keinen Widerspruch. Quint sagte: »Kommt!« und ging, hochatmend, starken Schritts, mit den Seinen davon.

 

Die Sonne war eben heraufgekommen. Sie traten in das blendende, alles überflutende Licht hinaus, wo Quint den Staub seiner Schuhe mit einem Tuche abstaubte. »Geh, geh!« schallte die Stimme des Pfarrers nochmals aus der schwarzen Höhlung der Kirche heraus, und der Verwiesene streckte die Arme in Kreuzesform, nachdem er sich wiederum aufgerichtet, gegen das gewaltige, herrliche Blutlicht des Tagesgestirnes auf und schritt ihm, von den armen Leuten gefolgt, mit einem lauten Aufschrei entgegen.

Als der Pfarrer, bleich und mit zitternder Hand, die Kirchtür diesmal sorgsam mit dem Schlüssel verschloß, sah er die Rotte seiner Besucher bereits weit draußen durch die Felder fürbaß schreiten. Es bedeutete eine Frist für Quint, daß die Freveltat, die er an diesem Morgen verübt hatte, aus irgendeinem dunklen Grunde durch den klugen Priester verschwiegen blieb.

 


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