Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Zehntes Kapitel

Nach einigen Tagen hatten die Brüder Scharf bei Emanuel vorgesprochen. Er deutete ihnen an, daß im Hause nicht wohl in Ruhe zu reden wäre. Daraufhin waren alle drei in ein Wirtshaus des Niederdorfes gegangen, das wirklich und wahrhaft »Emmaus Einkehr« hieß. Hier hatten die Brüder erstlich alles das mitgeteilt, was ihnen inzwischen begegnet war, und später vereinbart, das Gurauer Fräulein zu besuchen. Ferner brachten die Brüder die Neuigkeit, daß der böhmische Josef, der Weber Schubert und Schmied John sowie der ehemalige Schneider Schwabe im Dorfe wären: sie seien gekommen, von dem lebhaften Wunsch gedrängt, Emanuel wiederzusehen.

Dieser bezeichnete nun für den folgenden Tag einen gewissen Birnbaum, der an einem Feldraine außerhalb des Dorfes stand, als das Wahrzeichen, bei dem man sich treffen wollte: übrigens erst in der Dämmerung, um jegliches Aufsehen zu vermeiden. »Denn«, sagte Quint, »das Dorf ist meinetwegen auf eine sonderbare Weise aufgeregt. Wenigstens haben mir mein Stiefvater und mein Bruder allerlei wunderliche Reden erzählt, die geführt werden, und mir die Schuld daran beigelegt.

Sie haben in der Tat manches um meinetwillen zu leiden«, fuhr er fort und meinte die Seinigen. »Obgleich ich niemals behauptet habe, ich könne Lahme gehen, Blinde sehen, mit Aussatz behaftete Menschen rein machen, so kommen doch viele Kranke zu mir und suchen mich im Hause der Eltern. Andere wieder bekämpfen mich und verwünschen mich, eben als wenn ich ein Lügner wäre.«

 

Am folgenden Tag in der Dämmerung, als ein flacher, grauer Nebel im beginnenden Mondschein über den Feldern hing, sammelte sich in der Stille um den Birnbaum die kleine Gemeinde der Armen und Törichten. Es waren nicht nur die Brüder Scharf, die erschienen waren, nicht Schubert, John, Schwabe und der böhmische Josef allein, sondern es hatten sich aus den Stillen im Dorfe noch etwa zwanzig Männer und Frauen angeschlossen, die von den anderen insofern in das Geheimnis gezogen waren, als man ihnen von Emanuel als von einem Manne gesprochen hatte, der vom Heiligen Geiste erleuchtet sei.

Zu diesen Leuten war aber auch ein Gerücht gedrungen, das im Pfarrhause seinen Ursprung hatte, den es in diesem Falle auch nicht verleugnete. Der Pfarrer hatte von Quint gesagt, er habe ihm rundheraus erklärt, er sei Jesus Christus, Gottes Sohn, und das Gerücht davon war wie ein Blitz in das Dorf gefahren. Der Geistliche schürte auch noch, ohne besondere Absicht, nur durch die oft wiederholte lebhafte Mitteilung die entstandene Aufregung. Er hatte über Emanuel im Laufe einiger Tage zum Küster, zum Apotheker des Ortes, zum Pächter des herrschaftlichen Dominiums und auch am Stammtisch immer wieder gesprochen, wodurch denn die Sache zum öffentlichen Ärgernis und Emanuel zu einem gefährlichen, wenn auch ausgemachten Narren gestempelt war.

Man hatte nun aber zugleich gehört, der falsche Jesus von Nazareth solle das Gurauer Fräulein besuchen, wodurch er sogleich in aller Augen ein besonderes Gewicht erhielt: so zwar, daß jene, die sonst nur mitleidig über ihn die Achsel gezuckt haben würden, sich entrüsteten, diejenigen, die ihn kannten – wer kannte im Dorfe nicht Emanuel Quint? – und die sich zunächst vor Lachen ausschütten wollten, hernach sich heiser schrien vor Wut. Die Stillen aber, die Urteilslosen, deren Einfalt und Glaubensfreudigkeit diesem sonderbaren Fall nicht gewachsen war, fanden sich aufgestört und in allerhand hoffnungsvolle fromme Schrecken hinein verführt.

Es kam hinzu, daß alle nicht wohl gewisse heilige Schauer verbergen konnten angesichts dieser nun Ereignis gewordenen phantastischen Anmaßung, die doch von dem Vorgang, der Wiederkunft Jesu, die sie erlog, einen nicht zu verkennenden Strahlennimbus entlehnt hatte. So war denn das ganze, sich wohl eine Meile lang den Bach hinunter erstreckende Dorf auf einmal von religiösem Leben erfüllt. Im Oberdorf, das gleichsam der Kopf des Ortes war, sprach man von nichts als von der heiligen Würde des echten und der Lächerlichkeit des falschen Jesu von Nazareth. Die Ärzte bei ihren Besuchen erörterten an den Betten der Kranken den gleichen biblischen Gegenstand und seine bejammernswürdige Nachäffung. Dienstmädchen sprachen mit Ladendienern über Heringstonnen davon. Während die armen Leute bescheiden auf teure Medikamente warteten, rief ein Provisor dem andern lustige Neuigkeiten über den Giersdorfer Heiland zu. Die Langholzfuhrleute fragten das ganze Dorf hinunter, neben den schweren Pferden hergehend, jeden Tagelöhner, der ihnen entgegenkam, ob sie auch wohl den neuen Herrgott schon mit Augen gesehen hätten, und setzten meistens hinzu: »Da schlag' doch ein Herrgottsdonnerwetter 'nein!« Im Niederdorf, wo die katholische Kirche der evangelischen jenseit der Straße gegenüberstand, ward sogar der Herr Kaplan durch die Fama beunruhigt. Alte und junge Weibchen unter den Beichtkindern trugen ihm die Tollheit des unglückseligen Narren zu. Kurz, Emanuel hatte eine dermaßen gefährliche Popularität erlangt, daß er sich nur im Dämmerlicht aus dem Hause hervorwagen und auch dann nur auf Schleichwegen gehen durfte.

Dieser allgemeine ungewöhnliche Zustand des Dorfes nun, das sonst ein ziemlich schläfriges Dasein führte, stellte sich den Brüdern Scharf, sobald sie hineingelangten, als eine Bestätigung ihres unausrottbaren Wahnes dar. Der Wirt von »Emmaus Einkehr«, ein seit Jahrzehnten im ganzen Dorfe belächelter über siebzigjähriger Sonderling, der zur »Gemeinde der Heiligen« gehörte, hatte die Brüder Scharf sogleich mit der Neuigkeit des falschen Jesus Christus begrüßt. Er hatte das Unerhörte getan und schon seit Jahrzehnten aus seinem Gasthause Wein, Bier und Kornschnaps verbannt. Er verabreichte Milch und Selterwasser, weil eben nur Milch und Selterwasser sich mit den frommen Grundsätzen seiner Brüdergemeinschaft vertrug. Er meinte, als er das schreckliche Zeichen der Zeit – ein solches war ihm die untergeordnete Narrheit des Tischlerssohnes – den Gästen eröffnet hatte, daß eben alles darauf hindeute, wie das Schicksal dieser sündigen Welt im Begriffe sich zu vollenden sei.

Da aber waren die Brüder Scharf, und zwar beide zugleich, wie von einer Erleuchtung betroffen worden, und diese Erleuchtung hatte aus ihren Mienen und Worten hinreißend und feurig auf den Wirt von »Emmaus Einkehr« zurückgestrahlt.

So konnte es denn nicht anders sein, als es wirklich war: nämlich, daß die armen, ängstlich allenthalben dem Birnbaum näher schleichenden Leute Angst, Spannung und Schaudern zugleich umfing.

Es dauerte eine geraume Zeit, ehe sich alle in ein Häuflein zusammenwagten. Bis dahin hatte sich einer hier, der andere da am Feldrain oder am Rande des etwa fünfzig Schritte nahen Birkengehölzes sorgfältig abwartend ferngehalten. Nun saßen sie schweigend oder flüsternd, während der Mond, groß wie das Rad eines Wagens und wie eine Scheibe aus Eisen in voller Glut, sich zwischen den beiden Kirchen hob, und harrten mit heimlichem Grauen des Kommenden.

Anton Scharf, der mit dem Rücken gegen den Stamm des Birnbaumes lehnte, hielt den neben ihm sitzenden, zitternden Schneider Schwabe bei der Hand. Emanuel war noch nicht unter ihnen, und die Starrenden glaubten ihn bald da, bald dort vom Dorfe her über die Felder nahen zu sehen. Aus den Höfen herüber drang Hundegebell. Der Schrei eines Uhus wurde im nahen Gehölze laut. Nach und nach traten am wolkenlosen Himmel mehr und mehr Sterne hervor. Der tiefblauen, kalten östlichen Hälfte über den langen Gebäudereihen und Bäumen des Dorfes stand die dunkle Röte des Westens, wo die Sonne versunken war, noch eine Zeitlang gegenüber. Alles war groß, still und feierlich. Fledermäuse, die aus den Scheunendächern und Kirchen herüberkamen, durchhasteten, ihren Flug in die Felder ausdehnend, in weiten Kreisen den Dämmer über den Nebelschichten und trieben sich um den Birnbaum herum. Von einem sumpfigen Teiche her, der hinter dem Holze verborgen lag, drang das Gequake vieler Frösche weithin vernehmlich durch die Luft.

Die kleine Gemeinde würde vielleicht einen frommen Choral angestimmt haben, aber sie fürchtete sich. Daß aber eine gewisse Furcht über allen lag, war nachgerade so deutlich geworden, daß Martin Scharf die Versammelten bat, näher um ihn heranzurücken, und ihre Herzen mit leisem, doch kernhaftem Zuspruch aufzurichten nötig fand.

»Wir wissen wohl, daß geschrieben steht«, sagte er, »kein Prophet ist in seinem Vaterlande angenehm. Fürchtet euch aber nicht. Sie mögen schlecht von ihm reden, sie mögen seiner spotten, ihn verhöhnen, wie sie es denn auch meistens tun: je mehr sich der Geist des Abgrunds empört gegen ihn, um so mehr ist das der Beweis, daß Gott mit ihm ist.«

»Ist es wahr«, sagte eine alte, verkrümmte Leinewebersfrau, »daß er zu unserm Pfarrer gesagt hat, er wäre der Heiland Jesus Christus?«

»Was er zum Pfarrer gesagt«, äußerte, wie immer ein wenig überstürzt, aber ebenfalls flüsternd Anton, »was er zum Pfarrer gesagt hat, wissen wir nicht. Eins aber wissen wir ganz gewiß, was er auch immer gesagt hat zum Pfarrer, ist so wahr wie das Evangelium.«

Ein junger Mensch, der Stellmacher und dabei schwindsüchtig war, wollte wissen, daß wirklich Emanuel Quint ebendas gesagt hatte, er wäre Jesus Christus, des lebendigen Gottes Sohn.

Nun erzählten nacheinander der Weber Schubert, der Schneider Schwabe, Anton und Martin Scharf ihre Träume, die sie in der Zwischenzeit von Emanuel Quint geträumt hatten. Der eine hatte Nägelmale an seinen Händen und Füßen gesehen, den anderen hatte Emanuel dreimal im Traume gefragt, ob er ihn liebhabe, der dritte hatte ihn trockenen Fußes über einen grundlosen Sumpf im Hirschberger Tale schreiten sehen. Schubert aber hatte eines Abends geradezu eine Erscheinung gehabt, die er, nach einfacher Leute Art, auf die allerlebendigste Weise erzählte. Nachdem er eines Abends seine Baude oben auf dem Gebirgskamm verlassen hatte, um hinüber zum Lehrer Stoppe zu gehen, sei er in Gedanken zu einer gewissen Stelle gelangt, wo sich der Weg nach Preußen hinunter abzweige, und plötzlich aufblickend habe er Emanuel Quint sich auf etwa zwanzig Schritte gegenübergesehen, langsam gleich ihm der Wegkreuzung zuschreitend. Nach seiner Behauptung hatte Schubert zunächst kein Glied zu rühren vermocht und war geraume Weile wie festgewurzelt still gestanden. Emanuel aber schritt auf ihn zu. »Nun«, meinte Schubert, »ich dachte mir, das ist alles Einbildung, schritt ebenfalls vorwärts und wollte in Gottes Namen an ihm vorbei oder durch ihn durchschreiten, aber plötzlich, genau vor dem Wege, der hinunter nach Preußen führt, prallte ich, als wär' ich an einen Stein gelaufen, geradezu taumelnd, zurück. Und in diesem Augenblick, wo er noch gerade dicht an mir stand, war er verschwunden.

Nun wußte ich, was das bedeuten sollte«, endete Schubert mit Feierlichkeit. »Ich ging nach Hause, sagte der Frau nur schnell, wo ich hinwollte, und schritt noch am selben Abend den Weg, von der gleichen Kreuzung aus, nach Preußen hinunter. Und darum, ihr lieben Brüder, bin ich hier.«

Plötzlich schraken alle zusammen. Der eine meinte, er habe im nahen Buschwerk Knacken von Zweigen und Stimmen gehört. Der andre meinte, Quint sei gekommen. Der dritte sprang auf, es war der Stellmacher, und sagte, er habe ihn eben am Rande des Wickenfeldes heranschreiten sehen. »Ihr lieben Schwestern und Brüder, fürchtet euch nicht und habt Geduld!« beschwichtigte Martin wiederum. Und der böhmische Josef, der stets eine wilde Courage im Leibe hatte, drang mit einigen Sprüngen bis dicht an den Rand des Gehölzes vor, um nach dem Ursprung jener Geräusche zu forschen, die einen der Brüder beunruhigt hatten.

Der Kopf des böhmischen Josef war stets mit Phantastereien angefüllt und dazu überraschend intelligent und eigensinnig. Menschenfurcht kannte er eigentlich nicht, eher schon Furcht vor Gott und dem Teufel. Einst von seiner Zigeunermutter in der Nähe der Bradlerbauden ausgesetzt, hatte er in sich, als Erbschaft von seinem Stamme: Aberglauben, mystische Auffassung der Natur und Trieb zu ruhelosem Umherstreichen.

»Ihr Leute«, sagte er, als er vom Rand des Gehölzes zurückkehrte, nicht ganz im gedämpften Tone der Brudergemeinde, »ich glaube, es pirscht sich ein Regiment Freiburger Jäger an«: eine Übertreibung, die, verbunden mit der gemütlichen Art und Weise, wie er sich sorglos zwischen die Wartenden niederließ, bei diesen ein befreiendes, wenn auch gedämpftes Lachen auslöste.

Von jeher war der böhmische Josef religiös. Nicht selten begegnete man ihm auf Kirchhöfen. Er pflegte dann ruhig, nur von Zeit zu Zeit ein wenig mit sich murmelnd und seufzend, vor diesem und jenem Grab zu stehen. Immer zu Abenteuern neigend, ward er schnell in den Strudel um Quint hineingedrängt. Er dachte viel über sich und Gott. Nachts blickte er oft, auf dem Rücken liegend, stundenlang in den Sternenhimmel hinein und genoß, fast erdrückt und zugleich erhoben, das ganze unergründliche Wunder, wie nur ein in allen Tiefen empfindender Mensch es genießen kann. Er freute sich aller großen Geheimnisse. Er freute sich voll erhabener Bangigkeit an den heiligen Spielen der goldenen Sternschnuppen und hielt es in solchen Augenblicken für gewiß, daß er, der dies alles auffassen konnte, der arme, verlauste, häßliche Lump, ein begnadetes, ausgezeichnetes, auserlesenes Glied der göttlichen Schöpfung sei.

Diesem Menschen – man sah es seinen verweilenden, grundlos dunklen Augen an – war nichts glatthin natürlich und alles Wunder. Das Einfachste war ihm wunderbar, deshalb sträubte sich eigentlich nichts in ihm, auch in Quint, dem verlaufenen Handwerksgesellen, so einfach er schien, ein Gefäß für Rätsel und Wunder anzuerkennen. Überdies war er sich nicht zu gering, um an eine nie schlummernde göttliche Führung zu glauben, und war überzeugt, die leitende Hand aus dem Unsichtbaren habe ihn nicht umsonst und scheinbar durch Zufall mit Quint hoch oben im Knieholz zusammengeführt.

Im übrigen sahen die Scharfs in ihm noch nicht den Mann, der ohne Rückhalt der Sache ergeben und gläubig war. Zwar hatte er reichlich und mehr als die anderen der gemeinsam begründeten Kasse beigesteuert. Aber es war zunächst nicht der echte und glühende Hunger nach endlicher Erfüllung der Verheißung in ihm. Er hatte nicht nur die Bibel im Kopfe, ja sogar, wie man zuweilen vermuten konnte, wahrscheinlich herzlich wenig von ihr. Allein, hatte Quint es ihm durch seine Persönlichkeit angetan, so war es nun die phantastische Welt der evangelischen Vorgänge, die Matthäus, Markus, Lukas und Sankt Johannes erzählen, die ihn mit gespannten Augen eines Kindes an die Lippen der Scharfs gebunden hielt. Davon konnte Josef gar nicht genug hören.

So wuchs er denn nach und nach mit Neugier in die Welt der Bibelgeschichten hinein, die ihm mit unbeirrbarer Überzeugung und Leidenschaft in feurigen Zungen gepredigt ward, und wurde mit jenem Ereignis vertraut, der Sendung des eingeborenen Sohnes Gottes selbst, um die Welt vom Sündenfluch ins verlorene Paradies zu erlösen: einem Ereignis, das für die Geschichte aller Geschichten und für die große, einzige Wendung im trüben Geschick der gesamten Menschheit gehalten wird. Und wirklich, der böhmische Josef dachte nun Tag und Nacht an den armen Jüngling und Gottessohn und seine traurigen irdischen Schicksale. Zwar waren es Juden gewesen, die ihn verfolgt und gekreuzigt hatten, aber er schüttelte immer wieder den Kopf und schämte sich seines Menschentums. Was freilich nun die beiden verbohrten Brüder Scharf damit sagen wollten: Quint wäre eben der damals Gekreuzigte!, das begriff sein gesunder Verstand einstweilen noch nicht.

Immerhin war in ihm das Wartende. Er hoffte längst nicht mehr auf den kommenden Tag, aber schritt doch immer auf das irgendwann sichere, große, noch dunkle Ereignis zu. Manchmal wurde er ungeduldig: dann baute er sich auf irgendeinem Sterne neue Leben und neue Ereignisse aus. Gespenstergeschichten, wie die der Erscheinung Emanuel Quints, die Schubert eben zum besten gegeben, waren immer nach seinem Sinn, besonders bei Nacht, im Freien, am Reisigfeuer und wenn wirkliche oder nur eingebildete Gefahr im Verzuge war, aber auch in den Bergschenken, unter der Lampe. Nichts Besseres aber konnte ihm zustoßen als dies gruselige, nächtliche Warten auf den verfemten Emanuel Quint, umgeben von Rätseln, Gefahren und Ahnungen.

Plötzlich stand der Erwartete da, und alle erhoben sich von der Erde.

»Ich ersuche euch, liebe Schwestern und lieben Brüder, auseinanderzugehen«, sagte Emanuel mit bewegter Stimme und gütigem Ausdruck; wobei der Mond, der inzwischen, mehr und mehr erbleichend, höher gestiegen war, ihn so beleuchtete, daß seine Gestalt und sein Antlitz wie ganz aus weißem Lichte erschien. »Ich möchte nicht«, fuhr er fort, »daß ihr etwa um meinetwillen Leiden erduldet.« Sie sahen alle, trotz des Dämmers, wie sehr das Antlitz des falschen Heilands von Tränen feucht und verfallen war. »Ihr müßt um meinetwillen nicht leiden, denn ich bin nichts. Mögen sie mich doch niedertreten. Das ist es nicht! wahrlich, ich verdiene nichts Besseres! Aber ich wußte nicht, daß heut, zweitausend Jahre nach unseres Heilands Geburt in die Welt, ebendieselbe Welt noch so rasend und wütend in ihren Sünden ist. Lieben Brüder und Schwestern, ihr seht mich bestürzt, nicht weil diese Leute da drüben gegen mich, sondern weil sie gegen Jesum Christum selber wüten.«

»Wir wissen es, daß sie wider Jesum Christum selber wüten«, sagte der bucklige Schneider Schwabe plötzlich und warf sich vor Quint auf das Angesicht.

Quint aber erschrak und wollte ihn aufheben. Weil er aber von so viel Bereitwilligkeit, sich dem Göttlichen hinzugeben, zugleich ergriffen war, so spürte er auch sogleich in sich eine zärtliche Liebe und inniges Mitleid für diesen Menschen aufsteigen.

Den Weinenden aufzurichten gelang ihm nicht. Er hätte nun, werden etliche meinen, sagen müssen: Du betest in mir nicht Gott, sondern eher den Fürsten der Hölle an, zum mindesten einen armen Menschen, wie du einer bist, einen armen verblendeten Handwerksgesellen! Du ergibst dich, bestenfalls, einem schrecklichen Selbstbetrug! Aber dies oder etwas Ähnliches auszusprechen, vermochte Emanuel Quint nicht mehr über sich.

Er konnte den Armen nicht enttäuschen. Auch setzte hier gleich wiederum seine besondere Narrheit ein, vermöge deren er sich in ein Doppelwesen zerspaltete: ein geistliches, das ihm durch und durch Gottheit schien, und ein fleischliches, nämlich das sündliche, irdische. »Lieber Bruder«, sagte er, »das hast du nicht aus dir selber heraus gesprochen! Du hast es auch nicht zu mir gesagt, der ich hier im Fleische vor dir stehe: der aber, zu dem dein Geist in der Stille der Nacht sich erhob und vor dem du dich niederwarfest zur Erde, nämlich der Vater, der in mir ist, hat dich gehört, und zu ihm hast du gesprochen.«

Hiermit wollte Emanuel nun nicht sagen, er wäre im fleischlichen Sinne der wiedergekommene Christ und Gottessohn, dennoch war unter allen, die jenem Vorgange beiwohnten, wie sich später ergab, nicht einer, Mann, Weib oder Kind, der ihn anders verstand, als daß er wirklich der Heiland sei.

Es muß in diesem ganzen kurzen Vorgang eine verwirrende Kraft gelegen haben, die der aufgeklärte Mensch unsrer Zeit wohl schwerlich begreifen kann. So wenigstens ist man zu glauben gezwungen, wenn man die späteren Aussagen aller dieser Menschen zusammenhält. Ihr sei gewesen, sagte die mehr als sechzigjährige Webersfrau, als wäre plötzlich ein ungeheurer Regen von Sternen vom Himmel gestürzt und als hätte sie im gleichen Augenblick die Kraft zu atmen und zu schlucken eingebüßt und sollte ersticken. Der Stellmacher sagte, er habe, als Quint sich zu dem weinenden Schwabe niederbeugte, deutlich gefühlt, wie unter ihm Acker und Feldrain geschwankt habe, und deutliches unterirdisches Rollen gehört. Der böhmische Josef erklärte, er wisse nicht, was das gewesen wäre, etwas Natürliches oder Zauberei: der ganze Himmel sei auf einmal wieder tageshell und blutrot geworden.

Man stellte ihm vor, wie diese Himmelserscheinung allerdings höchst wunderbar und vorläufig unerklärlich sei, jedoch in diesem Jahre täglich und allgemein beobachtet werde: nämlich daß auf der Seite des Sonnenuntergangs, bis spät in die elfte Stunde hinein, eine helle Röte am Himmel verbreitet stand. Aber man sah es dem böhmischen Josef an, die Sache war ihm nicht auszureden.

Kurz, es brach ein augenblicklicher Wahnsinn aus. Alle, voran die Scharfs, drängten sich um die Hände des Toren und küßten sie mit einer weinenden Inbrunst und Zärtlichkeit, so daß, wer etwa diesen Vorgang unbeteiligt belauscht hätte, sich nicht würde haben erklären können, was hier geschah. Und wirklich war das Gewimmel von knienden und gebeugten Menschen, im Mondschein, um den einen, der aufrecht stand, nicht unbeobachtet. Zwar keine Freiburger Jäger, aber doch Lauscher hatten sich bis in das nahe Wäldchen angepirscht und begleiteten, was sie von dem gespenstigen Treiben sahen, bald mit Geflüster, bald mit Gekicher und auch wohl mit manchem fragenden und erstaunten Blick.

Es war dem armen Emanuel Quint bei alledem an diesem Abend unsäglich weh und trostlos ums Herz. Von allen Seiten schien ihn etwas in einen Weg der Lüge hineinzudrängen, der zugleich ein Weg der Verachtung war. Er hatte den Wunsch, von allen Menschen erlöst zu sein, so heiß wie selten in seinem Leben, um nur allein mit Gott verbunden zu sein. Aber die Menschen umlagerten ihn: dieser bereit, ihm nachzufolgen, jener in bittrer Leibes- und Seelennot, von ihm eine solche Erlösung fordernd, die er zu geben nicht fähig war. Aber was half es, sie dauerten ihn. Er konnte sich nicht aus der Welt zurückziehen und sie, die wenigen, die ihm vertraut, enttäuschen und in Verzweiflung zurücklassen. Zwar mancher lebt und lacht und ißt und trinkt gleichgültig, hoffnungslos und mit einer kalten Verzweiflung, die nicht mehr brennt, in der Brust. Aber er konnte den Glauben nicht töten. Allzugroß war sein Mitleid und seine zärtliche Liebe, um einen solchen Mord zu begehn.

Er nahm aber doch die Scharfs beiseite und sagte immer wieder aufs dringlichste: er bitte sie innig, ihn zu verlassen. »Bewahret das Geheimnis des Reichs, jedoch, lieben Brüder, verlasset mich!« – Und nun kam er leider wieder in seine biblische Art zu sprechen hinein und sagte: »Der Menschensohn ist gekommen, die Leiden des Menschensohnes zu tragen! Ich bin arm! Die Dielen im Hause meines Vaters und meiner Mutter verbrennen mir meine nackten Sohlen. Ich muß fort. Des Menschen Sohn hat kein Dach über seinem Kopf, kein Bett und kein Kissen für sein Haupt, das ihm gehört. Was hoffet ihr von mir? Was begehrt ihr von mir?«

»Daß du uns nicht vergessest«, sagte der überstiegene Martin Scharf, »daß du uns nicht vergessest, dereinst in deiner Herrlichkeit.«

Jetzt mußte Quinten wohl der furchtbare Irrtum deutlich aufgehen, der sich in den Köpfen des engeren Kreises seiner Anhänger festgesetzt hatte: deshalb verwandelte sich die erneute Wahrnehmung eines so verstiegenen Glaubens in einen heftigen Ausbruch des Zorns. »Martin«, rief er, »du siehst, wer ich bin! Ich bin nicht der, für den du mich nimmst! Was willst du von mir? Wenn du teilhaben willst an meiner Herrlichkeit: du siehst, meine Herrlichkeit ist das Leiden! Ich habe keine andere irdische Herrlichkeit! Gehet und redet mit meinem Stiefvater! Gehet und redet mit meinem Bruder! Hört, was man in den Schenken und in den Häusern der Reichen von mir spricht! Und alles, was ihr dort erfahren werdet, das ist meine ganze Herrlichkeit! Wollt ihr den Rock, den ich auf den Schultern habe, nehmt ihn hin! Silber und Gold habe ich nicht und suche ich nicht! Reichtum also ist von mir, von jetzt an in alle Ewigkeit, nicht zu erwarten. Was erwartet ihr also von mir?«

Und Anton rief sogleich in berauschtem Bibelton: »Wir warten auf die Erscheinung der Herrlichkeit des seligen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi; der sich selbst für uns gegeben hat, auf das er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte ihm selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken.«

Emanuel atmete von Grund seines Herzens qualvoll auf. Er wollte sich losreißen, aber da drängten sich alle wiederum flehend, wie hungernde Bettler, um ihn herum und als wäre er einer, der einen Laib Brot hoch in die Luft hinaus hielte. Mitleid und Grauen kam ihn an: Mitleid mit ihrer hilflosen Leibesnot und Grauen vor der würdelosen und heimlichen Gier nach anderen als nach geistlichen Gütern. Und schließlich graute ihm auch vor dem, was in diesem Treiben ihm als eine sinnlose Lust am Unfug an sich erkenntlich ward.

Fast bewog ihn dies alles, geradezu die Flucht zu ergreifen, aber da durchblitzte ihn plötzlich wieder die ganze Kraft seines eingebildeten Lehrberufs. Und nachdem er sich mit Entschiedenheit von seinen Bedrängern freigemacht hatte, schritt er entschlossenen Ganges den kleinen Hügel hinan, wo der Birnbaum stand, und befahl der Gemeinde, sich um ihn im Kreise niederzulassen.

»Ihr wißt«, begann er, mit einer Stimme, die wiederum fest und einfach klang und darin das Beben des Herzens, das Beben einer vorgeahnten Inspiration fühlbar ward, »ihr wißt, daß Jesus, der Heiland, zu den Seinen, wie der Evangelist berichtet, nie anders als durch Gleichnis geredet hat . . .« Weiter kam Emanuel nicht, denn im nächsten Augenblick hatte sich etwas überaus Klägliches mit ihm und seiner Gemeinde ereignet.

 


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