Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Drittes Kapitel

Der Tischlerssohn aus dem Eulengebirge betrachtete seine Wiedertaufe im ganzen als eine Bestätigung. Das Betragen des Bruders und seine Worte zum Abschiede waren von einer Art gewesen, daß Emanuel es in einer gewissen Beängstigung von sich wies, Schlüsse daraus zu ziehen. Kurz nachdem er den Bruder verlassen hatte, vermochte er schon nicht mehr sicher zu unterscheiden, ob nicht die eigene Erregung ihn hatte den Himmel offen sehen und Stimmen hören gemacht oder ob der Bruder im Überschwang solches behauptet hatte. »Das ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.« Es war genug und Glücks genug, sofern auch nichts äußerlich Wunderbares sich weiter ereignet hatte und allein diese Rede wirklich aus der Seele Nathanael Schwarzens gedrungen war.

Von diesem Mann hatte der Narr in seinem zehnten Jahre bereits reden gehört, wenn er, wie es bei Kindern in jener Gegend der Brauch ist, in Hütten der nahen und ferneren Nachbarschaft aus und ein ging. Voll tiefer Ehrfurcht sah er in ihm einen wirklichen Gottesmann. Er war für ihn eine Autorität, trotzdem seine eigene Seele in der Zwischenzeit bereits zu einem so starken Leben erwachsen war, daß die starke Seele des Bruders ihrem ganz besonderen Stand und Wuchs nichts mehr abbrechen konnte. Emanuel ging und war voll Gesang. In göttlichen Wallungen fiebernd, hatte er seinen Schritten kein Ziel gesetzt; nur daß er die Richtung nach einer fernen Kette von Bergen zu und nicht nach den Heimatsdörfern einschlug. Diese fernen Berge kannte er nicht. Einem Kinde ähnlich war ihm zumute, das der Meinung ist, am scheinbaren Horizonte müßten Erde und Himmel zusammenstoßen, ja man könne dort geradeswegs in den Himmel hinein.

Emanuels Seele war voller Liebe. Näherte sich ein Mensch ihm an, so bemerkte er gleich den Kummer und auch die Schönheit in seinem Angesicht. War es ein Mann, so sagte seine Seele sogleich in der Stille Bruder zu ihm. War es ein Weib, so sagte sie Schwester. Gingen sie aneinander vorüber, er und das Weib oder er und der Mann, so sprach es in ihm: Ich kenne dich, dein Leiden, dein Glück und deine Schmerzen, ich kenne dich wie mich selbst und dein und mein Los. Waren sie aneinander vorübergegangen, so war es ein Abschied, und er liebte die Menschen, indem er sich von ihnen trennen mußte, noch mehr. Du mußt einsam gehen, wohin du nicht willst, mit deiner Schönheit, sagte er manchmal, sofern es ein schönes Weib war, die vielleicht unter einer Bürde von dannen ging, oder sofern es ein Mann war: Du wirst mit deiner schlechtverborgenen Sehnsucht weiterirren und den Freund nicht finden in deiner Einsamkeit, der dir dein Königreich in der eigenen Brust erschließt. Und er liebte sie alle und hätte sie alle gern in die Arme und an sein Herz genommen, obgleich ihm aus ihren wahnsinnigen Blicken oft genug Haß, Hohn und Verachtung entgegensprang.

Er war den Tag bis zu Sonnenuntergang durchgewandert. Bevor er wiederum in einen Strohschober schlafen ging, betete er in die scheidende Sonne, am Morgen darauf in die wiedergekehrte hinein, und aufs neue begann seine Wanderung. Seine Nahrung bestand aus Wasser, das er, flach ausgestreckt, von dem Spiegel der Quellen trank – er umging die Dörfer –, aus Wurzeln, die er hier und da den Feldern entnahm, gelegentlich aus frischen Salatblättern, und einige Male ward ihm, ohne daß er gebeten hatte, Brot und ein Trunk dünnen Kaffees zuteil, Reste der Vespermahlzeit, die Weiber und Kinder von den Arbeitsstätten der Felder oder Fabriken heimtrugen.

Bei aller Hochgestimmtheit und schwärmerischen Verzückung seiner Natur erkannte Quint und mußte erkennen, daß alles Neue in seinem Innern vorerst mehr Gärung als Klärung war. Verwogene Gedanken hatten sich vorgewagt, die unzweifelhaft Abgesandte des höllischen Dämons waren und die zur Sünde und Überhebung verleiten sollten. Die Schlange war listig. Noch immer war sie darauf bedacht, durch allerlei Ränke die Rückkehr des ausgestoßenen Menschen in seinen paradiesischen Unschuldsstand zu verhindern. »Ihr werdet sein wie Gott!« Quint wappnete sich. Er wollte sich nicht zum Genuß der verderblichen Früchte jenes verbotenen Baumes verführen lassen. Indem er ging – und hier setzte die krankhafte Anlage seines Wesens wiederum ein –, hörte er dringliche Stimmen flüstern: »Ich grüße dich, Christus, Gottes Sohn!« – »Der bin ich nicht!« sprach Emanuel.

Aber er konnte nicht Ruhe finden: »Ich grüße dich, Christus, Gottes Sohn!« klang es immer aufs neue. »Ich grüße dich, der du gekommen bist und herabgestiegen vom Throne des Vaters in Elend, Schmach und Niedrigkeit. Tritt an: deinen Weg! tritt an: deine Sendung! Fürchte dich nicht. Siehe, an deinen Händen und Füßen die Nägelmale von ehedem sind nicht verharscht. Du spürst in dir das brennende Weh aller Leiden von ehedem. Es ist vollbracht. Der Vater hat keine neuen Leiden für dich ersonnen, du Gesegneter. Diesmal sollst du nichts anderes als der gute Hirte sein und sollst die Schalmei erklingen lassen und deine Herden in Gärten führen, auf Weiden, wo Milch und Honig fließt. Ich grüße dich, Christus, Gottes Sohn!«

»Ich bin nicht Christus, Gottes Sohn«, sagte Emanuel, und indem er hinzusetzen wollte: ich bin nur ein Mensch, trat ihm ganz unwillkürlich das Wort auf die Zunge: »Ich bin nur des Menschen Sohn.« Darüber erschrak er aber sogleich; denn es mußte ihm einfallen, wie der Heiland sich auch mit diesem Namen bezeichnet hatte. So hatte auch dort, wohin er ausweichen wollte, der Böse eine Falle gestellt. Es blieb nichts übrig, als schnell und eifrig zu widerrufen und zu sagen: »Hebe dich weg von mir; ich nenne mich auch nicht des Menschen Sohn.«

Allein stundenlang, als er weiterging, durchdachte er diese Fragen tiefer, und am Ende schien es ihm nicht mehr gegen Christi Gebot zu verstoßen, sich, wie er es getan, als Menschensohn zu bezeichnen. Die Geburt des Heilands im Irdischen, wie nicht zu leugnen war, hatte die Merkmale äußerster Niedrigkeit auch insofern an sich getragen, als Joseph, der Mann seiner Mutter, nicht sein Vater war. Jesus war also, gleich wie er, Emanuel, vaterlos, und dieser unterfing sich nun, die Kette versteckter Leiden, die er deshalb erduldet hatte, die quälende Scham und Bitterkeit mit den Leiden des Heilands, aus eben der Ursache, zu vergleichen. Wie mußte es nicht, wenn andere Kinder von ihren Vätern gesprochen hatten und Jesum nach dem seinigen fragten, den Knaben mit Scham und Schrecken erfüllt haben, daß er ihn nicht zu nennen wußte, und welche ätzende Pein, als er älter wurde, mußte es ihm verursacht haben, daß viele unter jenen niedrig und roh gearteten Menschenkindern, die ihn umgaben, anders von ihrer Mutter reden durften als er!

Emanuel biß die Zähne zusammen. Wieviel hundertmal hatte er Vater und Mutter verleugnet, aus tiefer Scham, und sich deshalb in den Augen der Leute zum Narren gemacht! Sollte nicht Christus, der alle verborgenen Leiden der Seele kannte wie niemand außer ihm, die gleiche Erfahrung gemacht haben? Sollte er nicht eines Tages sich unter den lauernden Fragen der Pharisäer stolz aus dem ängstlichen Druck der Schande zur freien Höhe des Menschensohnes aufgereckt haben? Und sollte es nicht seine Absicht gewesen sein, indem er sich diesen Namen beilegte, damit zugleich für alle Zeit das Mal einer unverdienten Schmach von den Stirnen aller Spätergeborenen im vorhinein abzuwischen?

Quint war auf einmal davon überzeugt, es müsse so und nicht anders gewesen sein, und beschloß, das Erbe des Heilands in dieser Beziehung mit reinem Vertrauen anzutreten. Er ist es, und nicht der Satan, bestätigte er sich selbst, dessen Wesen sich mir in diesem Augenblick und mit diesem Gedanken offenbaret.

Ganz unwillkürlich richtete er sich auf und bekam einen freieren, festeren Gang. Es war nicht mehr eine heftige Stimme, die ihm »Gottes Sohn« in die Ohren blies, sondern es lag eine stumme und klare Erkenntnis in ihm, daß er als Menschensohn durch die Felder ging. Er wußte von einem König und Kaiser, der in Berlin, der Hauptstadt des Reiches, auf seinem Throne saß; aber in seiner neuen Würde erkannte er plötzlich, daß er, Emanuel Quint, der Bankert – sein Stiefvater nannte ihn oftmals so –, vor Gott nicht geringer dastand als er. Des Menschen Sohn ist ein Herr der Welt!

Und so rollte sich der bräunliche Weg wie ein Tuch vor ihm aus. Wie Teppiche voller Kostbarkeiten breitete sich die Erde mit ihren Städten, Türmen, Flüssen und Saaten gegen die Berge hin, als Erb und Eigen dem Menschensohn. Über ihm spannte sich weit als Decke die blaue Seide des Himmelsgezelts. Die strahlende Sonne war seine Ampel. Die Lerchen sangen dem Menschensohn. Die Früchte reiften dem Menschensohn. Die Haine flüsterten huldigend seinen Namen. Es war nichts Mächtigeres und Herrlicheres auf der weiten Welt als der, den die Vögel, die Winde, die Zungen der Gräser und Blätter im Chore begrüßten: Gesegnet sei und gelobt, der da kommt im Namen des Herrn! Nichts Herrlicheres als des Menschen Sohn!

Ich suche nicht meine Ehre, sondern des, der mich gesandt hat, redete es nun wieder in ihm, so daß er erschrak und Auen, Wälder und Hügel mit ihren Rufen plötzlich stumm wurden. Der Narr erkannte, es war ein streitendes Wogen in seinem Inneren ausgebrochen, wo immer eine Welle des Lichts eine Welle der Finsternis, eine Welle der Finsternis die Welle des Lichts zu verdrängen schien. Ganz unabhängig von seinem Willen geschah dieser Kampf. Er war so stark und so unabhängig von Quint, daß dieser zuweilen ihm gleichsam nur als erstaunter und gespannter Zuschauer beiwohnte. »Nein, nein! ich suche nicht meine Ehre; allein ich war wiederum nahe daran, in Versuche und Stricke zu fallen. Ist es Gott? ist es Satan, der mich versucht? Ist es nicht Gott, zu dem wir so beten: führe uns nicht in Versuchung?« Und er betete das Gebet des Herrn, das Jesus gelehrt hatte. Danach wandte er sich sogleich von dem, an den es gerichtet war, ab und dem zu, der es gelehrt hatte, und ging im Geist wieder, wie so oft, den Spuren des Heilandes nach. Er liebte den Heiland. Der arme oder in dieser Hinsicht glückselige Quint hatte eine Liebe zu dem holdseligen Jesus gefaßt, die so groß war, daß ihn, sooft er seiner gedachte, das Herz schmerzte – eine Liebe, die über alles Irdische ging.

Vor nahezu zweitausend Jahren war Jesus über die Erde gewandelt, und nun erst war Quint aus seiner Hütte am Wege getreten und hatte mit einigen anderen nach der Richtung geschaut, wo der heilige Wandrer verschwunden war. Sogleich begab er sich, wie ein treuer Hund seines Herrn, auf die Spur, und es hatte für seine brennende Sehnsucht kein anderes Beschwichtigungsmittel gegeben, als Tag und Nacht diese Spur zu verfolgen. Er schlief, wenn er schlief, über Jesu Fußstapfen ein.

Seine Jesusliebe war grenzenlos. Er hatte das zerlesene Neue Testament, das die Nachrichten von dem Sohne Marias enthielt, an der Brust verwahrt, und es war ihm, als ob dort allezeit eine liebe Hand sein Herz beschwichtigte. Aber außerdem war er selber das Buch, das er, wie Johannes, gleichsam verschluckt hatte. Es wohnte in ihm, und er wohnte darin. Würde es nicht in ihm gewohnt haben, so würde der Tod an seine Stelle getreten sein. Würde er nicht darin gewohnt haben, der Regen hätte ihn mit Nadeln gestochen, die Sonne ihn mit Brandwunden übersät, der Himmel würde wie ein Felsen auf ihn gefallen sein. Nun aber schadete ihm weder des Todes Kälte noch des Winters Frost, weder die Hitze des Tages noch die Rauheit der Nacht. Aber er ruhte nicht gern. Sofern er die Füße nicht regte, kam es ihm vor, als würde der Zwischenraum größer zwischen ihm und dem Freunde, der vor ihm her durch die Erden und Himmel ging, und als hätte er weniger teil an ihm.

Ein Kind, das weinend der Mutter nachläuft, die ihm verlorengegangen ist, hat keine größere Liebe in seiner Seele als dieser müßige Handwerksgeselle, der nach dem Anblick des Heilands Verlangen trug. Er war bereit, in ihm unterzugehen. Deshalb war er, kaum daß ihm der Satz: »Ich suche nicht meine Ehre!« ins Bewußtsein kam, sogleich ganz Selbstverleugnung und Demut und empfand sich, weit entfernt von dem Anspruch, ein Hirte zu sein, nur mehr als das letzte Lamm der Herde.

Er wollte in diesem und keinem anderen Sinne des Heilands Nachfolger sein. Allein seine Liebe hatte ihn mehr und mehr verlockt durch stärkere Ansprüche. Es genügte ihr nicht, gleichmütig zu dulden, was ein dumpfer Wandel der Nachfolge mit sich brachte, sondern sie wollte dem Hirten auf allen labyrinthischen Pfaden nachgehen, um sich nichts zu ersparen, was dieser erduldet hatte, und ihm in jeglichen Dingen ähnlich und damit auch näher zu sein.

Wir essen dein Fleisch, und wir trinken dein Blut, wie du uns befohlen hast, grübelte Quint. Heißt das nicht auch: wir sollen in allem wie du werden? Hat es nicht deine unendliche Liebe uns aufgetragen, wie du zu sein? Hast du uns nicht diese ganz überschwengliche selige Aussicht eröffnet? Suchet in der Schrift! Ja, suchet, suchet! – Und er zog sein Testamentchen hervor und blätterte. – Es leuchtet ein, daß das, was gesucht werden soll, nicht zutage liegt. Aber suchet, so werdet ihr finden! Suchet! Und suchen wollte Quint.

Er wollte vierzig Tage und vierzig Nächte in einer Wüste sein und wollte sich, wie sein Vorbild, aller Unbill des Wetters und Mangels in einer ganz besonderen Weise aussetzen. In diesen Tagen sollte der Heiland und nur der Heiland in ihm sein. Er wollte sich ihm ohne Rückhalt hingeben. Und hatte wirklich dereinst Satanas den Gesalbten des Herrn versucht, mochte auch ihn immerhin der Teufel versuchen; denn er wollte kein Müßiggänger am Reiche sein. Verwirf mich oder erleuchte mich, Herr, nach dieser Zeit! Gib mir einen neuen, gewissen Geist oder verstoße mich, wenn du mich nicht würdig befindest! Sende mich aus durch die Tore deines Leidens und Sterbens oder verurteile mich zur Nichtigkeit; aber laß mich wenigstens den Saum deines Mantels berühren, so werde ich nie ganz verloren sein, die Erde küssen, auf der du gewandelt bist, den Stein, der dein Kopfkissen war, die Dornen an den Sträuchern, von denen man deine Krone geflochten hat, so wird noch in der tiefsten Finsternis tiefster Abgründe ein unverlierbarer Raub ewigen Lichtes mir Glück und Labsal sein.

 

Mehrmals im Laufe der Tage hatte Quint, etwa auf einer Landstraße, der er sich annäherte, oder hinter dem Buschwerk der Raine die Helmspitze eines oder des andern Gendarmen aufblitzen sehen, und jedesmal hatte er, nicht anders wie es die Vagabunden tun, sich irgendwo in Gräben und Feldern eine Deckung gesucht und abgewartet, bis der gefürchtete Reiter aus dem Gesichtskreis entschwunden war. Nun aber kam einer dieser Gewaltigen querfeldein, zuweilen im Schritt, zuweilen im Trab, wobei sein friesisches Pferd sich vorsichtig durch die Gräben heranarbeitete. Quer vor dem Wanderer aufgepflanzt, hielt es still, und der Wachtmeister tat die üblichen Fragen.

Quint wußte, was ihm bevorstand. Er hatte weder Papiere, die seinen Namen, Geburtsort, Beruf und Arbeitsausweis enthielten, noch konnte er daran denken, dem schweren Reiter den Grund und Zweck seiner Wanderung begreiflich zu machen. Er war ihm gegenüber, ohne Geld und in Lumpen, ganz rechtlos und seiner gesetzlichen Willkür preisgegeben, obgleich er durchaus nichts im Sinne führte und tat, als sich dem Zug seiner kindlichen Seele zu überlassen. Durchbohrend sah der Gendarm ihn an. O bliebe dir nichts verborgen in meiner Seele, dachte der Narr. Aber der Mann des Gesetzes, so sehr er sich von dem Gegenteile den Anschein gab, war dennoch blind. Er sah einen wunderlich ärmlichen Menschen, dessen Gesichtszüge bleich und leidend, aber vom Trunk nicht entartet waren. Er vernahm eine Stimme, die ihm bereitwillig über Namen und Herkunft Bericht erstattete, und was er wahrnahm, brachte ihn nicht von dem Gedanken ab, er habe hier, wie nur je, einen Galgenvogel gefangen. Er ranzte ihn also gehörig an. Dennoch, als er sich eine Weile in raunzenden Redensarten erleichtert hatte, schien er nicht recht zu wissen, was tun, und – war es nun, daß ihn seine Frau mit dem Mittagessen erwartete oder ihm im Städtchen ein gutes Bier und Frühstück in unmittelbarer Aussicht stand, kurz, statt den Arbeitsscheuen mit sich ins Polizeigewahrsam abzuführen, ließ er ihn plötzlich nach einem menschenfresserisch furchtbaren Blicke stehen und ritt davon.

Quint dankte Gott, denn er sah in diesem unerwarteten Ausgang des Abenteuers eine Folge himmlischer Einmischung. Aber es ging ihm auch hier wie stets: in der harten Maske hatte er nach und nach die schmerzlich erzwungene tote Berufsgrimasse erkannt, dahinter eine darbende Seele schmachtete, und diese hatte ihn bittend aus einer unwillkürlichen Miene heraus und aus den Tiefen der niemals lügenden Augen angeleuchtet. Bekümmert sah er dem Reiter nach: er haßte ihn nicht, er liebte den Menschen.

 

Am dritten Tage seiner Wanderschaft hatte Quint, in ein düsteres Waldgebirge emporsteigend, eine wilde, verlassene Gegend erreicht, von wo aus der Blick unendlich weit über Berge, Hügel und Ebenen Schlesiens schweifen konnte. Diese Höhe hatte er gleichsam gegen die rückwärts gewandte Angst seiner Seele ertrotzt. Die Einsamkeit, die tiefe, lautlose Stille verlassener Waldgründe, die er durchschritten hatte, das aufrauschende Staunen und die flüsternden Beratungen der Wipfel über ihm, wenn er zwischen den Farnen, Moosen, Steinen und Wurzeln stillstand, und manches andere wirkte beklemmend auf ihn. Es schien, als ob hier die Stille und Einsamkeit, die Quint als eine ewig gleiche und gütige Freundin kannte, sich zu einer furchtbaren Macht aufrichtete, um eine Sprache zu führen, die ihn und sein eitles, unerhörtes Beginnen zerschmettern wollte. Die Finger in beide Ohren gedrückt, wie um das tausendfältige Zischeln eines wilden Dämonengelichters, das an Zahl mit jeder Minute zunahm, nicht hören zu müssen, war er hinangestiegen, und zuweilen hatte er sich auf den Waldboden niedergedrückt und auch hier mit den Ballen der Hände die Ohren verschlossen, um nichts von den lügenhaften Posaunen eines vom Teufel erlogenen Jüngsten Gerichtes hören zu müssen. Er glaubte, daß es vom Teufel erlogen sei; denn er sagte zu sich: Ich will zu Jesu! Und wenn nun die Berge wie furchtbare Richter sich um mich auftürmen, die schwarzen Wolken um ihre Spitzen zu grollen anheben, zuweilen Posaunenstöße gleich Winden daherfahren, um die Wipfel zum Ächzen zu bringen, so kann dies sowie das böse Gelächter des Hohnes, das ich mitunter hören muß, nur Blendwerk des Teufels sein.

Es war aber das Gelächter der Spechte, das er hörte, dann wieder das markdurchdringende, eigensinnige Klagen eines Raubvogels, das den bösen und peinvollen Lauten einer im höllischen Feuer gemarterten Seele glich.

Über der Baumgrenze angelangt, wurde dem Toren freier zumute. Die ungewohnten, gewaltigen Eindrücke um ihn her bedrohten ihn nun nicht mehr, sondern sie hoben ihn jählings aus dem Staub der Erniedrigung zu einer erhabenen Höhe empor. Er sah die Welt unter sich. Das Gebirge, das ihn rings mit steinernen Kraterwänden halbkreisförmig umgab und bis in die Wolken überragte, war ihm zugleich der Schemel für seine Füße geworden. Er atmete frei. Er wandte sich gegen den weiten, unendlichen Himmel und sagte: »Gott!« Er wandte sich gegen den bunten, welligen Teppich der Länderflächen, der von den Schatten weißer Gewölke gefleckt erschien, und sagte: »Gott!« Er wandte den Rücken gegen die Tiefe und blickte staunend gegen die zackigen Wände und Riffe der ihn umgebenden Felsmauer hin, auf die zwischen ihnen gestauten Schutt- und Geröllhalden und sagte: »Gott!« Er betrachtete das Gestein, das, in riesige Blöcke gelöst, wie von Kyklopenhänden in jahrtausendelanger Arbeit zusammengetragen, über- und untereinandergestürzt weite Hänge bedeckte, und plötzlich, eh er den Namen Gottes zu nennen imstande war, flüsterte ihm eine Stimme ins Ohr: »Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden!«

Aber Emanuel war auf der Hut; er wies diese Stimme, die ihn zum Sohne Gottes machte, ab, indem er so tat, als habe sie ihn nur verführt, an Jesum diese Bitte zu richten. Und er bat den Heiland deshalb um Vergebung. Er sagte: »Ich weiß, du kannst es! Auch daß du es tun wirst, wenn ich bitte! Aber es lebt der Mensch nicht vom Brot allein!« – Es schien dem Narren, als ob durch diese Erwägung der leibliche Hunger, den er seit einigen Stunden empfand, gestillt worden wäre.

»Sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.« Darüber dachte er weiter nach. Es war in ihm eine seltsame Unwissenheit. Er hatte lesen gelernt um der Bibel willen. In ihr forschte sein Geist. Was sonst an sinnfälligen Dingen ihn seit seiner Jugend umgeben hatte, kannte er nur gemäß den natürlichen Spiegelungen der Seele und jener Liebesbeziehung, die ihn mit allem, was ist, verband. Darum blieben ihm Himmel und Wolken, Sonne und Tag, Nacht, Mond und Sterne das reine Mysterium. Desgleichen die Erde mit ihrem Getier, Gestein und Gras, und als er nun durch den Sinn des Gesichts und Gehörs dies alles aus tiefer Einsamkeit in sich faßte, schien ihm jegliche Kreatur und das Ganze der ihn umgebenden Welt der Erscheinung das durch den Mund Gottes gegangene Wort zu sein.

Gott sprach zu ihm, und er wollte zuhören. Er wollte ganz Ohr, ganz Auge, ganz Liebe sein. Vielleicht, sagte er sich, werde er die gewaltige Stimme der Gottheit nicht zu ertragen vermögen. Allein dann, dachte der Tor, wollte er gern an dem Worte Gottes zugrunde gehn. Schon empfand er sich gleichsam als aufgelöst. So erweitert vom Wort, so erfüllt und ins Unendliche ausgedehnt durch das Wort erschien er sich manchmal, daß er kaum noch etwas in sich und an sich als eigen empfand: und doch war er nur erst ein armseliger Neuling am Wort, wie er wußte.

Jesus, vom Geist in die Wüste geführet, war schlimmer daran als er, der Jesum bereits als Freund und Begleiter hatte. Er hatte ihn außerdem als Vorbild. Er wußte nicht, wie viele vor ihm sich in der Imitatio Christi versucht hatten, die eine ganz besondere Falle des Teufels war.

Er glaubte, er sei, wie der Heiland, vom Geist und nicht von Satanas in die Wüste geführt, und er könne sich überdies an den Heiland halten, und deshalb überwand er immer wieder die Bangigkeit und suchte endlich, indem er einem verwachsenen Pfade durch hohes Knieholz mühsam nachkletterte, einen verborgenen Platz im Gestein, wohin er sich etwa bei Regen und Wind zurückziehen und auch nötigenfalls vor Menschen verbergen könnte: eine Stätte für einen dauernden Aufenthalt.

»Genügt es dir nicht«, fragte auf einmal die dämonische Stimme in ihm, »was über des Heilands Versuchung in deinem Büchlein geschrieben steht? Glaubst du, daß es zu wenig sei? oder etwa erlogen? Oder verstehst du, was da gesagt ist, nicht?« – »Ich will es erdulden«, sprach halblaut Emanuel. Und nun bekam die Stille sogleich eine neue Furchtbarkeit. Es war, als fielen die Wände seines Wesens auseinander, und sein Inneres wurde grenzenlos. In der Verzauberung dieser Stille, in ihrem Bann, mußte sein Geist unaufhörlich Bilder hervorbringen, eine Reihe von Bildern, die einander zu jagen schienen wie bei einer eiligen Fahrt. – Und immer eiliger wurde die Fahrt. Und immer unerhörter die Bilder. Es war, als sei das Wort »Ich will es erdulden!« ein Zeichen für den Losbruch der feindlichen Mächte gewesen, deren Absicht es schien, ihr Opfer von Grund aus zu verwirren.

Ist die Stille: Gott? Ist die Stille: der Teufel? Sind die tierisch menschlichen Fratzen, die mir entgegengrinsen, Gottes oder des Teufels Werk? Warum zeigt mir auf einmal die Welt ihre sonst verborgene scheußliche Unflätigkeit in zahllosen eklen und widrigen Bildern? Warum ist mein Gesicht auf einmal vom Anblick des Kots, des niedrigen Hasses, der Mordsucht und jeder ruchlosen und widernatürlichen Gier erfüllt? Warum wird das heilige Fließen und Weben in meiner Brust auf einmal durch einen Fluch gedämmt? Durch Schweinegrunzen und Ziegenmeckern? Warum höre ich jenen stinkenden, greulich rohen Ton, den Gemeinheit nur immer hervorbringen kann? Das Heilige selbst durch Kloaken gezogen, mit Kot besudelt, unter Höllengelächter in jeder widerlichen Verrichtung vor das schauernde Innere hingestellt? – Plötzlich rief eine Stimme laut und weckte das Echo zwischen den Felswänden. »Du weißt nicht, was du erdulden willst und was alles Christus erduldet hat!« – »Und eben deshalb muß ich es jetzt erfahren«: mit diesen Worten faßte sich Quint und brach sich weiter durchs Knieholzdickicht.

Er fand nach einigem Suchen ein rohes Gemäuer, aus unbehauenen Blöcken zusammengefügt, mit Moos verstopft und mit einem kunstlosen Dache bedeckt, das aus alten verwitterten Kistendeckeln bestand, darauf Humusschichten gebreitet waren. Gebeugt an der unvermauerten Seite eintretend, fand Quint in diesem Versteck ein erhöhtes Lager aus trockenem Moose vor und sonst so viel Raum, um darauf zu liegen oder gebeugten Nackens darauf zu sitzen und dabei noch mit beiden Knien im Trocknen zu sein. Hier konnte man Tage und Wochen aushalten.

 

Es war gegen die Mitte des Monats Mai und der Schnee von den Bergen bis auf wenige schmutzige Reste abgeschmolzen. Tagsüber hatten noch schwache Winde aus Süden geweht. Als Quint, nachdem er einen Trunk Bergwassers gegen den Hunger zu sich genommen, sich auf das Mooslager ausgestreckt hatte und die Sterne am Himmel hervortraten, wurde die Luft weich und ganz still. Die Dämmerung kam, der Mond stieg herauf. Wie ein grenzenloses, goldbesticktes Segel von dunkler Seide bauschte sich der Himmel über das Gebirge hervor und über die im Dämmer fast versunkenen Länderflächen. Es war, als hätten die unzähligen Stimmen der Natur viele Monate lang in ruhelosen Bemühungen jene vollkommene Harmonie gesucht, die sie neu gefunden hatten. Quint hatte die Nacht gefürchtet, und nun gab sie ihm mehr als einen Vorgeschmack künftiger Seligkeit. Alle Dämonen schienen gebunden oder in ihre Käfige eingesperrt, oder der Zauber der Schönheit hatte sie stumm und selig gemacht. Metallisch summende Mückenschwärme bildeten zwischen den Augen des Toren und dem runden Mond ein tanzend durchsichtiges Gewölk, das mit seinem wohligen Klingen mit der Seele des Schauenden eins wurde, ja diese selber, sichtbar und hörbar geworden, darstellte, wie es schien.

Zwischen Träumen und Wachen geriet Quint allmählich in einen Zustand der Wonne hinein, den er in seinem ganzen bisherigen Dasein noch nicht gefühlt hatte. Mit halbem Bewußtsein beschloß er bei sich, fortan immerdar die Nähe der Menschen zu meiden und nur, wie jetzt, mit ganzer Liebe Gott in der Stille ergeben zu sein. Würde jetzt, dachte er bei sich selbst, ein Mensch in seinen Gesichtskreis treten, er müßte ihn hassen wie ein Gespenst. Jeden Menschen? Jedenfalls jeden Mann! – Jeden Mann, und wenn es der Heiland wäre? Er beantwortete diese Frage nicht. Der Heiland ist in mir und unsichtbar! Damit versuchte er zu entschuldigen, daß er im Begriff ihn zu verleugnen stand.

Niemand durfte kommen, auch nicht ein Weib. Er kam sich vor wie vermählt mit der Pracht und der laulichen Stille. Die ihn umgebende Felswüste war durchaus etwas anderes als hartes und kaltes Gestein. Von allem ging lebendige Wärme aus wie in Ställen von Tierleibern: nur daß diese Wärme rein und balsamisch war. Es lag darin etwas Aufreizendes und Entzückendes, wovon man berauscht wurde. Es mischten sich süße Düfte von Blumen und blühenden Gräsern hinein, die einen kitzelnden Pollen mit sich brachten, der ein tolles, heimliches Lachen auslöste. Der Boden der Schlafstelle war mit Zweigen der Krüppelkiefer bedeckt; darin lag ein Ziegengehörn und das Stück eines Felles. Daher kam es, daß Quint im Traume Ziegenherden und bocksfüßige Hirten sah, die mit Eimern voll Milch und runden, gewaltigen Käsen hantierten. Manche der Hirten waren gehörnt und trugen Kränze aus Kiefernzweigen.

So wie das Blut in den Adern des Narren heiß pulsierte, schien ihm die ganze Natur durchpulst zu sein. Es war etwas von entzückender Nacktheit in allem. Und immer wärmer, immer betäubender stieg der Atem des Nackten von allem auf. Der Mondglanz troff wie Salböl über die weichen Formen der Klippen und Bergspitzen, und etwas wie eine Gruft aus Scharlach zog sich zusammen vor den geschlossenen Augen Quints und tat sich auf, etwas, das er nicht müde wurde zu sehen, bis es verschwand; dann plötzlich tanzte, ganz nackt, ein Weib vor ihm, eine Eva mit üppigen Brüsten, sie warf sich zurück und warf den Schwall ihrer rotblonden Haare zurück. Alsdann stemmte sie beide Hände in das quellende Fleisch ihrer Hüften und drehte sich langsam um sich herum, – da fuhr der Narr aus dem Schlafe empor und schrie laut: »Hebe dich weg von mir, Satan!«

 

Als der Morgen heraufkam, hungerte Quint, und er stand auf, um irgend etwas Eßbares aufzufinden. An dem Rand einer weiten Hochfläche angelangt, kam es ihm vor, als dringe Geläut einer Herde von den tiefer gelegenen Wiesen herauf. Es war aber nur ein unter Steinen verstecktes, glucksendes Rinnsal, wodurch diese Täuschung verursacht wurde. Indessen bemerkte Quint in der Ferne ein einsames Haus, und da seine Augen weitblickend waren, konnte er sehen, wie Ziegen und Rinder aus der Stallung des Hauses ins Freie traten und alsogleich, nachdem sie die Köpfe ein wenig in den kalten Morgen erhoben hatten, zur Tränke liefen. Die Luft war nicht mehr lau, wie zur Nacht, sondern vielmehr frisch; denn der Südwind hatte sich eingelegt, und den Narren fröstelte.

Nachdem er eine geraume Weile die Vorgänge und das spielzeugartig klein erscheinende Haus in der Ferne beobachtet hatte, konnte er merken, wie eine Herde sich mitsamt ihrem Hirten mehr und mehr von der Baude ablöste. Sie bewegte sich wohl eine Viertelstunde lang in bestimmter, ihm näher führender Richtung und hatte dann ihre Weide erreicht.

Quint pirschte sich an den Hirten heran.

Er fand einen greulich zerlumpten Kerl mit wulstigen Lippen und struppigem Haar. Der Mensch erschrak, als er Quinten sah. Allein als dieser sich, mit gehörigem Abstand, ruhig auf einem Granitblock niederließ und Ziegen und Zicklein, ja sogar der Bock ihn vertraulich beschnupperten, achtete er seiner weiter nicht und fuhr fort, eine Pfeife aus Rinde zurechtzuklopfen.

Eine ziemliche Weile wartete Quint. Die schweren Rinder grasten ruhig. Zuweilen hob eines brummend den Kopf, um den Fremdling mit einem leeren, nichtssagenden Blick zu beglotzen. Endlich trat Quint an den Hirten heran.

»Mich dürstet.«

»Hier gibt's genug Wasser zu trinken«, antwortete jener ohne Bedenken in seiner kaum verständlichen Mundart.

»Schenke mir einen Trunk Milch, um Gottes willen.«

Der Mensch sah Quint aus seinen gedunsenen und verschworenen Augen an und bekreuzte sich.

»Ich bin arm wie du.«

»Ich habe zwei Tage lang nichts gegessen«, ergänzte Quint.

Nun warf der Bursche seine Pfeife weg, als ob er eine Erscheinung sähe, holte ein Kännchen aus Blech herbei, das er unter einer Krüppelkiefer versteckt hatte, und schlich und kroch wie ein Tier auf Raub zu einer schwarzbraunen Blesse hin, die ihr Euter fast auf dem Grase schleppte, und als er sie zwischen das Knieholz verlockt und dort, verborgen, gemolken hatte, befand er sich plötzlich im Rücken Quints und reichte den Trunk über seine Schulter. Quint trank mit Gier und erquickte sich, und von nun an kam er täglich herauf zu dem armen Hirten, und dieser, ohne zu zögern und scheinbar mit immer größerer Freude, schenkte ihm Milch und teilte sein hartes Brot mit ihm.

 

Mit jedem Tage, den der arme Quint ohne anderen Menschenverkehr als den mit dem Hirten zubrachte, geriet er tiefer in die Welt seiner Träume hinein. Jeder, der den eigentümlichen Reiz des Wanderns kennt, und besonders des Wanderns in Gebirgen, weiß, welchen Reichtum an Bildern es innerlich auftauchen läßt und welche Fülle starker Empfindungen. Was Wunder, wenn Quint, unter den Einwirkungen der dauernden Einsamkeit und des planlosen Wanderns, allmählich jedes Maß des Wirklichen ganz verlor und zuweilen von neuen und starken Empfindungen dermaßen trunken wurde, daß er sich kaum noch als Mensch empfand. Einen so Verstiegenen weckt nur das Menschenwort! Und da er in seiner Absonderung nur das Atmen und Brausen in der Natur immer wieder hörte und nur mit Sternen und Winden Zwiesprache hielt, empfand er fast nur noch sein Dasein als Geist, als Heiligen Geist, und also als göttlich. Ihm ging durch den Kopf, was die Schlange im Paradiese gesagt hatte. War nicht durch das rosenfarbene Heilandsblut die Jahrhunderttausende alte Sünde wettgemacht und dadurch der Zugang zum Baum der Erkenntnis freigeworden? Ja, war nicht Brot und Wein, wie es Jesus geheiligt hat, die Erkenntnisfrucht, und hatte er, Quint, diese Frucht nicht gegessen? Diese Frucht, von der die Schlange gesagt hatte: genießet sie, und ihr werdet wie Gott?

Er war wie Gott, so in alles Erhabene aufgelöst, oft stundenlang. Dann stand er zuweilen dicht am Absturz verwitterter Klippen und blickte mit einem bakchantischen Lächeln furchtlos hinunter in die Abgründe. Unter ihm lösten sich einsame Raubvögel und schwammen verloren im pfadlosen Raum, und plötzlich war es ihm dann zuweilen, als schölle ein Spottgelächter von unten herauf und er müsse, um diesen Schall zu beantworten, einen triumphierenden Sprung in die Tiefe tun: dann würde er schweben, er wußte es, und leichter als eine Taube dahingleiten.

Die heimliche Kraft dieser Sehnsucht war groß in ihm. Er fühlte sie oft. Er schalt sich und sagte, wenn er den inneren Ansturm überwunden hatte, zu sich: man dürfe Gott, den Herrn, nicht versuchen! Aber es war nicht allein der Drang, den Glauben oder das Wunder bestätigt zu sehen, auch war es Wahn einer übermenschlichen Größe und Allmacht nicht, sondern es war eine Art Gewißheit, eine Empfindung der eigenen Unzerstörbarkeit, verbunden mit einer wilden, hingerissenen Ungeduld, die Mächte des Todes, die Mächte des Abgrundes mit einem Triumphgeschrei, und wär's im irdischen Tod, zu verspotten.

Auf solche Wallungen folgte mitunter die tiefste Zerknirschung, und wenn dann die Stimmen, die »Gottes Sohn, Gottes Sohn!« riefen, dazukamen und nicht schweigen wollten, so fand sich der arme Mensch, nachdem er wiederum stundenlang ringend und betend auf den Knien gelegen, zuweilen erst wieder, aus schwerer Ohnmacht aufgewacht, Haupt und Glieder mit Schweiß bedeckt und immer noch stammelnden Lautes den Heiland bittend, er möge ihn doch in Gnaden befreien von dem allzuschweren Berufe der Nachfolge.

Nach solchen Erschöpfungsaugenblicken lockte und winkte auf einmal die Welt. Sie war dann nicht mehr das Weib, das in Wehen liegt und immer nur Jammer gebären kann, sondern sie lachte, tanzte und sprang in unverwüstlicher Schönheit und Jugend. Quint meinte, er habe sie nur nicht gekannt, und es kam ihm vor, als würde sie, wollte er nur jetzt gelassen zu den Stätten der Menschen niedersteigen, fortan auch ihm gegenüber nicht mehr spröde sein. Es war, als habe er irgendwo das Ende eines goldenen Fadens gefaßt, dem er nur nachzugehen brauchte, durch alle die Labyrinthe menschlichen Handelns und Wandelns, um nicht länger mehr arm, verachtet und elend zu sein. Es war, als habe ein höllischer Lichtfunken ihm plötzlich alle die seichten Kniffe und Ränke enthüllt, die den Schlauen im Handumdrehen reich machen, und als liege ihm plötzlich der eigene, scheinbare Narrenwert in Gold umgerechnet vor der Seele.

Es war nichts Gutes, was in ihm aufstieg, das merkte er wohl, trotzdem es dabei sehr ruhig herging und ohne zischelnden Satanslaut. Man würde tun, was sie alle tun; man würde den Haß mit Haß bekämpfen, die Wut mit Wut, die Schmach mit Schmach. Man würde den Krieg zum Kriege tragen! Die Lüge zur Lüge! Betrug zu Betrug! Man würde auf Raub ausgehen, trotz allen gefräßigen Raubtieren und Räubern, erraffen, erbeuten und Reichtümer häufen, die Motten und Rost fressen. Man würde nehmen, nur nehmen: den Heller der armen Witwe, den Groschen der Waise, die Decke des Frierenden, das Brot des Hungrigen, und würde die Schreie und Flüche der Bestohlenen und Betrogenen, der Hungernden und Verkommenden, der Gequälten und Kranken, der Gemarterten und Gemordeten nicht mehr hören vor der Stimme der eigenen Gier. – Und natürlich müßte man Jesum verleugnen.

Dadurch müßte das Leben leicht sein, dachte mit Recht der arme Quint. Allein er verwirrte sich wieder in seinen Gedanken, weil der Zwang, um der Welt willen von dem Heiland zu lassen, ihm unerträglich war.

Nein, er mochte den Satan nicht anbeten, denn: »du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen!« ermahnte er sich, und von nun an trat eine Wendung in ihm ein. Wieder ganz Jesu zugekehrt, beschloß er, sich nochmals mit reinem und ruhigem Sinn seinem Evangelium hinzugeben.

 

So lag er in seinem Versteck, auf das Moos gestreckt, und las und dachte, oder, langsamen Schrittes gehend, nahm er, Satz für Satz, die Schrift in sich auf und durchdachte sie eindringlich. Damit wurde es stiller und stiller um ihn, und der Sinn für das allgemeine Wort Gottes in der Natur schien einzig nur noch den Offenbarungen durch die Buchstabenreihen des heiligen Büchleins hingegeben.

Je näher Pfingsten heranrückte, um so stiller und ruhiger wurde Quint. Es waren neue und eigentümliche Dinge in ihm gereift, Erkenntnisse, durch die sich sein Wesen geschlichtet hatte.

Gott wurde Mensch, sagte er sich; das war das Mysterium. Er wurde ganz Mensch; dies war das größte unter den Wundern. Warum wurde er Mensch? Damit er dem Menschen ein menschliches und zugleich auch göttliches Beispiel sein könne! Denn nur das Menschliche ist es, darin der Mensch das Göttliche fassen kann. Was folgt nun daraus? erwog er weiter: daß wir mit Glauben und vollem Vertrauen das Menschliche in dem Leben des Heilands zunächst erfassen und immer tiefer begreifen sollen: ihn menschlich lieben, ihm menschlich nacheifern. Dies wurde sein Vorsatz, dies wollte er tun.

In dieser Verfassung ward er ganz Demut. Der neue Geist, der sich standhaft erwies, entfremdete ihn, ohne daß er sich dessen deutlich bewußt wurde, den Lehren des Bruders Nathanael und brachte ihn auch zu seinem eigenen früheren Wirken in Gegensatz. Er gedachte, wahrhaft bescheiden zu sein, und aus diesem Grunde verwarf er alle Phantastik von ehedem, alle Ekstasen und Übertreibungen. Gewiß, er wollte, wie je, ein Bekenner sein, aber nur ganz im Bereiche des Menschlichen. Weniger die Lehre lehren als tun. Um ja nicht dem Geist der Hoffart zu verfallen, dem schlimmen Geiste des Selbstbetruges, wollte er lieber sogar von dem göttlichen Scheine sich abkehren, um dafür um so inniger menschlich zu sein.

Er dachte nicht mehr daran, Wunder zu tun, denn er hatte gelesen, wie Jesus das böse, mirakelsüchtige, ehebrecherische Geschlecht gescholten hatte; auch erwog er das warnende Heilandswort von den falschen Propheten und Wundertätern und wollte nicht einer der ihren sein.

Quint konnte sich kaum genugtun in seiner leidenschaftlichen Neigung, sich selbst zu erniedrigen. Er hatte unklar einen gewissen Zwiespalt erkannt, der sich zwischen dem Heiland und seinen Jüngern vorzeiten schon geltend gemacht hatte. Und indem er nun auf die Seite des Meisters zu treten meinte, gedachte er Wundersucht und Begier nach Lohn, dieweil sie der Heiland an seinen Jüngern nur immer mit Kummer betrachtet hatte, in sich abzutöten. Er wollte der letzte und keineswegs mehr der erste Diener am Worte sein.

Alles Laute war ihm verdächtig geworden. Hochfliegende Pläne wies er auf dieser Stufe seines wunderlichen und seltsamen Wandels entschieden ab. Er wollte sein wie die Kinder und Unmündigen: im Herzen rein und eines Tages ein Baum voller Früchte. Die Lehre tun, nicht die Lehre lehren wollte er jetzt; man sollte ihn einstmals an den Früchten erkennen.

Deshalb wollte er auch nicht als ein besonders ausgezeichneter Lehrer oder Jünger oder Prophet zu den Menschen herniedersteigen, sondern äußerlich mehr wie jedermann, weniger öffentlich als im Verborgenen Gutes tun. Jesus würde ihn sicher leiten. Er wollte nicht drohen und nicht verheißen, sondern nur für sich zunächst auf einem der goldnen Pfade der Seele gehn, die Jesus paradiesisch durch die Wüsteneien der Erde gebahnt und erschaffen hatte. Jedem dienen, niemand beherrschen wollte er: das war des Toren ganz ungeheurer und gänzlich unausführbarer Vorsatz.

 

Er betete täglich des Heilands Gebet. Und weil er verzeichnet fand, die Jünger Jesu hätten, ehe er sie das Vaterunser auf ihren besonderen Wunsch hin lehren mußte, überhaupt nicht gebetet, so sprach auch er nur dieses Gebet. Er betete es mit kindlichem Geiste.

Allmählich, auf dieses Gebet beschränkt, fiel ihn ein seltsamer Irrwahn an, der sich leider in seinem Wesen befestigte. Jener Geist, der schwerlich ein guter ist, machte ihn glauben, dies Gebet sei eigentlich gar kein Gebet, es sei nur das Wesen der Lehre als Leitstern für suchende Schüler in wenige Sätze zusammengefaßt. »Vater unser, der du bist im Himmel. Geheiliget werde dein Name!« – Dies war gebeten nicht für den Bittenden, sondern für Gott. An wen waren diese Worte gerichtet? An einen höheren Gott als Gott? Quint glaubte sie an den Geist gerichtet: an den Gottgeist, welcher im Menschen ist. Er empfand das Verwegene dieses Gedankens, doch zog ihn sein Grübeln weiter fort. Da hieß es: »Zu uns komme dein Reich!« An wen waren diese Worte gerichtet? Wiederum erschien es ihm, an den Geist. Er fühlte, wie er sie betend gleichsam an sich selber richtete. Es kam ihm vor, als ob er damit in sich eine heilige Quelle anschlüge, ein reines, heiliges Streben erweckte, einen neuen, tätigen, heiligen Geist; und inwendig in uns war ja das Reich. Es sollte sich durch den Geist ja in uns errichten. »Dein Wille geschehe!« las er dann. War das überhaupt eine menschliche Bitte? Der allmächtige Wille des allmächtigen Gottes, des gewaltigen Jehova, sollte geschehen? Und darum sollte ein Menschlein bitten? Und wen, wen sollte es bitten darum? Hieß es aber: mache mit mir, was du willst, so war es nur Ohnmacht und keine Bitte.

Allein Quint bezog auch dies auf den Geist.

Der Wille des Geistes sollte geschehen, und müßte der Körper zu Asche werden.

»Unser täglich Brot gib uns heute!« Nun, da war viel mit wenigem abgetan. Vielleicht war diese Bitte, dachte Quint, nur ein Zugeständnis an den gabenhungrigen Jüngergeist.

»Und vergib uns unsere Schuld!« Wir waren schuldig, wir brauchten Vergebung. Alle ohne Ausnahme, meinte Quint; und er konnte den Gedanken nicht loswerden, als ob auch dies eine Scheinbitte sei. »Wie wir vergeben unsern Schuldigern!«, nämlich so weit und nicht weiter sollten uns unsere Sünden vergeben sein. Also: wer vergab, dem ward vergeben. Dem aber, der nicht vergab und doch betete, nicht. Es war eine Mahnung zum Vergeben.

»Führe uns nicht in Versuchung!« kam nun. Was soll man zu dieser wunderlichsten der Bitten sagen? hatte der Tor bei sich, in einem Anfall von Aberwitz, gedacht, als er sie eines Tages gewohnheitsmäßig gesprochen hatte. Und der Böse flüsterte ihm ins Ohr: es hieße soviel als »Laß uns in Frieden!« Über diese Stimme des Häßlichen siegte Quint. »Versuche uns nicht! Versuche uns nicht!« Hieß nicht der Böse der Versucher? Sollte dieses aber nicht soviel heißen als: »Verlocke uns nicht durch falsche Vorspiegelungen! Lege auf unseren Weg nicht Fallen und Fallstricke! Reize uns nicht durch Martern und Leiden zum Widerstand! Mache uns nicht zu Verbrechern am Nächsten durch Not und Lüste! Setze uns nicht auf Richterstühle, damit wir nicht über unseren Nächsten und Mitsünder richten und blutige Urteile sprechen! Mache uns nicht zu Königen, damit wir nicht Gewalt üben und durch Gewalt leiden und untergehen! Verführe uns nicht zum Raub, zum Mord und zum Diebstahl am Gute des Nächsten! Versuche uns nicht, denn wir sind schwach! Erwarte du nicht Taten des göttlich Starken und Sündlosen von uns armen, im Dunklen tappenden Menschen! Lösche das glimmende Docht nicht aus, sondern erlöse uns von dem Übel! Unser sei der Geist und der Frieden!«

Es war ein schrecklicher Gott, an den man die Bitte, uns nicht in Versuchung zu führen, richten mußte, und Quint empfand, wie der Heiland versucht hatte, eine furchtbare Gottesvorstellung ihrer Härte und Furchtbarkeit zu entkleiden. Geheiliget und geliebt sei dein Name, nicht mit Grausen und mit Entsetzen genannt: so klang es durch das Gebet hindurch. Wir rufen in dir, was Liebe ist, und was wir rufen, ruft in uns die Liebe. Soweit war der Tor auf gutem Weg; aber er ging über diese Erkenntnis hinaus. Er entthronte den persönlichen Gott und glaubte, daß Jesus ihn entthront habe und an seine Stelle den Geist gesetzt, womit sich sein Verhängnis ankündigte.

Fast zwangsweis und tiefes Staunen erregend beherrschte ihn diese Vorstellung. Sie war so stark, er hätte zeitweilig leugnen können, auf dem festen Grunde der Erde, in dem Elemente der Luft oder unter dem Dache des Himmels zu sein. Seine Wohnung schien ihm allein der Geist. Die Bewegungen, die er ausführte, und besonders alles, was er in einem höheren Sinne sein Leben nannte, ging vor sich gleichsam in einem Meer, das die seit Jahrhunderttausenden lebenden und verbundenen Menschenseelen darstellte. Außerhalb davon kannte er nichts oder wenigstens nichts als Finsternis.

Denke man sich die Menschen, Greise und Greisinnen, Männer, Weiber und Kinder, so viele ihrer die Erde bedecken, jeden mit einem Licht in der Hand. Etwas Ähnliches dachte sich manchmal Quint. So wie die Menschen getrennt voneinander standen und doch das Licht ihrer Lichter zusammenfloß, so waren sie ihm, getrennt an Körper, einig im Licht. Ein Hunger nach Menschenseele überkam ihn wie nie zuvor. Es brach eine schmerzhafte Liebe und Sehnsucht zu Menschen in ihm auf. Es war, als wäre im Lichte der grenzenlosen Liebe zu Jesu, dem Menschen, ihm eine tiefe Erkenntnis von Menschenwert und Menschenberuf erschlossen worden. Die Menschenliebe nagte an ihm. Sie erfüllte den Narren mit zehrenden Süchten. Er wollte zu seinen Brüdern und Schwestern; er wollte nicht mehr, wie nach früherer eigensüchtiger Gewohnheit, kaltherzig fern von ihnen sein.

Er vergaß sich ganz, das heißt, er vergaß seine eigenen früheren Freuden und Leiden. Er glaubte erkannt zu haben, daß die Menschheit die Wohnung der Gottheit ist. Und während er dieses Gotteshaus, diese Gottesstatt noch blinzelnd unter der Überfülle von Pracht und Licht mehr ahnte als sie betrachtete, schien ihm die Angelegenheit seines eigenen, kleinen besonderen Lebens vor dieser erhabenen Sache ohne Bedeutung zu sein.

Aus diesem Grunde befiel ihn ein Selbstaufopferungsdrang, eine Sehnsucht, aus der Vereinzelung seiner Körperlichkeit, wie aus einem Kerker, befreit, ins Allgemeine sich hinzugeben: sein Licht zum Licht, seine Liebe zur Liebe zu tun, um von sich und der Liebe erlöst ewig vollkommen in Gott zu sein.

Die völlige innere Umwandlung Emanuel Quints war einer der sonderbarsten Vorgänge. Es war das Sonderbare darin, daß ein reiner und kindlicher Schwärmergeist den größten Teil seiner Schwärmereien durch einige anscheinend ganz vernunftgemäße Erwägungen ersetzt hatte, die sich nach und nach zu einem in sich geschlossenen, festen System verbanden, das die Seele des Narren in einer weit ausschließlicheren Botmäßigkeit erhielt als der reine Gefühlsrausch von ehedem. Oft kam es vor, daß er selbst darüber erschrak, wie weit ihn sein Grübeln abseits von allen früheren Wegen geführt hatte, vermeintlich mit Jesu, dem Menschen, vereint, und tief ins Geheimnis vom Reiche Gottes. Entdeckerfreude beherrschte ihn. Aber alles, was er damals entdeckte und zu begreifen vermeinte, als es in überraschender Hellsicht wie Schuppen von seinen Augen fiel, beschloß er vorerst geheimzuhalten.

 


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